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b. Die Emanzipation von Raschi
ОглавлениеBedingt wohl auch durch die relativ schnell sich verbreitende Popularität Raschis, zeigen insbesondere seine (geistigen) Enkel ein intensives Bemühen, sich von ihm unabhängig zu machen. Dabei erweisen sich sowohl Raschbam als auch R. Eli‘ezer aus Beaugency als ausgesprochen selbstbewusst. Vor allem ging es darum, sich von der traditionellen Auslegung und ihren Auslegungszielen zu emanzipieren. Die Gegenüberstellung von Peschat* und Derasch*, so zentral sie ist, bringt dies jedoch nur unvollständig zum Ausdruck. Immer wieder insistiert vor allem Raschbam darauf, dass es zwei Lesarten der Bibel gebe, eine ‚klassische‘, den rabbinischen Traditionen verpflichtete Lesart, und eine ‚neue‘, zeitgemäße Betrachtung, eine, die einen weltlichen Zugriff und weltliche Studien impliziert. |86|Dies gilt dabei nicht nur für die narrativen Teile der Tora, sondern auch für die halachischen Abschnitte. Die Grenzen der bisherigen Auslegungen zeigt Raschbam vor allem im locus classicus seiner bibelexegetischen Hermeneutik, der Auslegung zu Gen 37,2, auf:
Raschbam zu Gen 37,2Die Verständigen [ohave sekhel] unter uns haben Einsicht gewonnen in das, was (schon) unsere Rabbinen gelehrt haben, wonach kein Bibelvers seinen einfachen Schriftsinn einfach hinter sich lässt (…). Die Früheren, aus der ihnen eigenen Frömmigkeit [chasidut] heraus, haben stets dazu geneigt, den Derasch-Erklärungen zu folgen, die (nach ihnen) das Wesentliche sind. Daher waren sie auch an die Tiefe des einfachen Schriftsinnes [omeq peschuto schel miqra] nicht gewöhnt (…). Aber selbst Rabbenu Schelomo, mein Großvater, die Leuchte der Augen des Exils, der die Tora, die Propheten und die Schriften ausgelegt hat, hat sich der Peschat-Auslegung der Schrift verschrieben, und ich (…) diskutierte sogar mit ihm und vor ihm, und er gestand mir ein, dass er, wenn er nochmals (so) frei wäre (wie ich heute), so würde er andere Auslegungen verfassen, gemäß den Peschat-Erklärungen, wie sie (jetzt) täglich neu aufkommen.
Nach Raschbam haben also seine Vorgänger, vor allem Raschi, die Tiefe des einfachen Schriftsinnes [omeq peschuto schel miqra] immer wieder verfehlt. Ihre ‚Frömmigkeit‘, d.h. ihr Anspruch, Texte im jüdischen Auslegungskontext zu verstehen, habe ihnen dabei im Wege gestanden. Die hier genannten ohave sekhel, also jene, ‚die den Verstand lieben‘, bilden jedoch nicht etwa einen Gegenpol zu den ‚Dummen‘, sondern zu den ‚Frommen‘ und sind, wie schon der Ausdruck sekhel ‚Verstand‘ zeigt, sicher mit den sog. maskilim identisch. Pietät gegenüber der Tradition kollidiert also offenbar mit der neuen Auslegungsweise. Jene Hörer, die auch sonst auf der (profanen) Bildungshöhe ihrer Zeit sind, bekommen von Raschbam einen Zugang zur Bibel gelehrt, der denjenigen Raschis nicht ersetzen, aber ergänzen möchte:
Raschbam zu Ex 40,35Wer seine Aufmerksamkeit (auf diesen Text) als ein (für die religiöse Kultur bindendes) Wort unseres Schöpfers richten will, der möge nicht abweichen (vom Weg) der Kommentierungen meines Großvaters, R. Schelomo, und von ihm nicht ablassen. Die meisten Halakhot und Midrasch-Auslegungen in ihnen kommen ja dem Peschat der Verse recht nahe, und werden alle (aus [scheinbar] überzähligen Vers[-wendung]en oder Modifikationen des sprachlichen Ausdruckes) abgeleitet: Gut ist, wenn du an dem einen festhältst – wie ich ja (bereits) erklärt habe – aber auch das andere nicht beiseite legst (Koh 7,18).
Raschbam insistiert darauf, dass dem jüdisch-traditionellen Deutemuster für die ‚jüdische‘ Bibelauslegung – im Gegensatz zu einer Bibelauslegung gemäß den Maßstäben der nichtjüdischen Umwelt – das Hauptgewicht zukäme, und dass hierin der Kommentar des Raschi nahezu unübertroffen sei, weil er für die jüdisch-traditionelle Rezeption des Bibeltextes die geeignete Auslegung bereit halte. Die |87|grundsätzliche Unterscheidung in diese zwei Lesarten sowie das Bewusstsein für die Genese von Halakhot, die oftmals erst nachträglich an den Bibelvers angebunden wurden, ließ Raschbam so weit gehen, dass er den Bibeltext auch gegen die halachische Praxis auslegen konnte, wie in seiner Kommentierung von Ex 13,9 (Es sei Dir zum Zeichen …), ein Vers, den er gegen Raschi, der hier auf die Praxis des Tefillin*-Legens verweist, unter Verweis auf Hld 8,6 als figurative Rede auszeichnet, ohne gleichzeitig zum Verzicht auf die rituelle Performanz (Tragen von Tefillin) aufzurufen.