Читать книгу Jüdische Bibelauslegung - Hanna Liss - Страница 26
Оглавление2.2. Persönlichkeiten
a. R. Schelomo Jitzchaqi (Raschi; ca. 1040–1105)
BiographieDie erste Generation der jüdischen Gelehrten in Nordfrankreich finden wir in der Champagne, vor allem in der Messestadt Troyes. Hier ist als erster und wichtigster Kommentator R. Schelomo Jitzchaqi (späteres Akronym: Raschi) zu nennen. Biographische Informationen über Raschi haben wir wenig (vgl. Petzold 2018; Grossman 2006; 2001; 2000). Soweit wir wissen, wurde er in Troyes geboren (Champagne-Ardenne, südöstlich von Paris, südwestlich von Metz). Juden sind in Troyes schon seit rabbinischen Zeiten bekannt, aber erst seit der 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts finden wir dort eine organisierte Gemeinde, die von ihren Mitgliedern Steuern einzog, und wir hören auch von jüdischem Grundbesitz (Taitz 1994). Zu Raschis Zeiten hatte diese Gemeinde sicher nicht mehr als ca. 100 Mitglieder (nicht: Familien). Raschis Mutter war die Schwester eines R. Schim‘on ‚ha-Zaqen‘, wohl nicht identisch mit R. Schim‘on bar R. Jitzchaq, einem Pijjut*-Autor. Seinen Vater erwähnt Raschi einmal als seinen Lehrer (abba mori) in seinem Kommentar zu bAZ 75a. Bedingt durch sein familiäres Umfeld (Weinbau; Landwirtschaft) lernte er dort alles Mögliche zu Währung, Geldhandel und Warenaustausch, aber auch über unterschiedliche handwerkliche Tätigkeiten – Gravierungs- und Prägetechniken, Stoff- und Wollverarbeitung etc. – ein Wissen, das ihm später bei seiner Kommentierung von Talmud* und Bibel immer wieder nützlich sein würde. Nach seiner religiösen Grundausbildung in Troyes zog es ihn zu den aufstrebenden Zentren im Aschkenaz*, zunächst nach Mainz, dann für weitere drei bis fünf Jahre nach Worms. Seine Lehrer in Mainz waren der bereits erwähnte R. Ja‘aqov ben Jaqar (st. 1064), und R. Jitzchaq ben Jehuda (11. Jahrhundert) sowie R. Jitzchaq ben R. El‘azar ha-Levi (st. nach 1070) in Worms. Um 1070 kehrte Raschi nach Troyes zurück; den Kontakt zu den Gemeinden in Mainz und Worms hat er stets zu halten versucht. Raschi starb 10 Jahre nach dem Beginn des 1. Kreuzzugs (1105). Sein Grab ist unbekannt.
Talmudstudium in MainzBei R. Ja‘aqov lernte Raschi vor allem Genauigkeit und Traditionstreue im Umgang mit den talmudischen und biblischen Tex|58|ten sowie neue Formen der Verschriftung traditioneller Lehr- und Lerninhalte. Durch R. Jitzchaq, der stärker in Gemeindepolitik und öffentliche Angelegenheiten involviert war, wurde Raschi mit einer weitaus praxisorientierteren und pragmatischen Auslegung vertraut gemacht, die ihm später in Troyes sehr zugute kommen sollte. Beim Talmudstudium machte man sich stichwortartige Notizen zu den Lernabschnitten, die auch mit Lehrern und Schülern anderer Jeschivot ausgetauscht wurden. Diese Notizen wurden gesammelt und fanden Verbreitung entweder als ‚Kommentare der Weisen von Mainz‘, ‚Kommentare der Frommen aus Mainz‘ oder einfach ‚Mainzer Kommentare‘, wie diese Anmerkungen beispielsweise bei Natan ben Jechi’el aus Rom (dem sog. Ba‘al ha-Arukh), einem italienischen Lexikographen (1035–ca. 1110), genannt werden. Aus den Mainzer Kommentaren wird namentlich oder anonym zitiert, ähnlich der rabbinischen Art der Tradierung. Die Notizen aus Mainz und Worms wurden so zur Grundlage für Raschis eigene Kommentare und zum Ausgangspunkt eigener halachischer Entscheidungsfindung.
Lehrhaus in TroyesIn Troyes und Umgebung wird Raschis Kompetenz in halachischen Fragen schnell erkannt, wie an der Vielzahl schriftlicher Anfragen zu sehen ist. Seine halachischen Entscheidungen sind ausgesprochen praxisorientiert (Grossman 2012, 12–51). Schon bald nach seiner Ankunft begründet er ein Lehrhaus, das wir uns jedoch nicht als groß angelegte ‚Akademie‘ vorzustellen haben, sondern als eine mehr oder weniger formlose Zusammenkunft von Schülern im Hause eines Lehrers. Das gemeinsame Lernen fand zumeist im privaten Raum statt, der dann punktuell zum Bet Midrasch* avancierte. Dort waren die bekanntesten seiner Schüler Simcha ben Schemu’el aus Vitry und R. Schema‘ja (Epstein 1897). Schon sehr bald wurde Raschi der Titel parschan data ‚Erklärer des Gesetzes‘ beigelegt, ein Titel, der möglicherweise schon auf R. Avraham ibn Ezra zurückgeht und der Raschi nicht nur als Bibelerklärer, sondern auch und vor allem als Talmudausleger charakterisiert.
Abb. 7: Raschi, Perusch al ha-Tora. Venedig 1522.
Raschi als KommentatorBei der Aufzeichnung seiner Kommentare begann Raschi mit dem Talmud, noch vor der Bibel, obwohl sich diese beiden Kommentarbereiche wahrscheinlich zeitlich überlappten. Es ist anzunehmen, dass er jedes biblische Buch kommentierte, allerdings stammen die heute unter seinem Namen gedruckten Kommentare zu Esra/Nehemia, Chronik und Hiob 40,25–42,17 nicht aus seiner Feder. Darüber hinaus hat Raschi auch Kommentare zu den pijjutim* verfasst. Einen ‚Urtext‘ von Raschis Kommentar gibt es nicht (siehe auch oben Kap. 2.1.d.), nicht einmal für den Pentateuch-Kommentar. Schon zu seinen Lebzeiten haben seine Schüler Sammlungen angefertigt, sog. quntresim, die vielfach kursierten |60|und laufend überarbeitet, ergänzt und modifiziert wurden. Nach Penkower hat Raschi selbst seine Kommentare revidiert und ergänzt (Penkower 2007b).
Raschis SchülerDie meisten Schüler Raschis waren entweder jüngere Männer aus gut situierten Elternhäusern oder Geschäftsleute, die sich vor allem zu den Messezeiten (zweimal jährlich) in Troyes aufhielten. Als Handels- und Umschlagplatz zeichnete sich Troyes schon frühzeitig durch Modernität und Weltoffenheit aus. Die Schüler, die von außerhalb hinzustießen, brachten, bedingt durch ihre unterschiedlichen Berufe und Gewerbe, ein hohes Wissen über allgemeine Bereiche des Lebens wie Wirtschaft, Naturwissenschaft, Medizin, Geographie, Politik und Geschichte ein.
b. R. Schema‘ja (ca. 1060–1130)
R. Schema‘ja ist biographisch kaum zu greifen, er gilt jedoch als einer der treuesten Gewährsleute Raschis und ist vor allem für die Verbreitung seiner Lehre von großer Bedeutung (zum Ganzen Grossman 1996, 347–352). Raschi erwähnt ihn namentlich in seinen Kommentaren zu Gen 35,16 und Ez 42,11. Unsicher ist, inwieweit er sogar mit ihm verwandt oder verschwägert war. Nach Grossman war er wohl so etwas wie Raschis ‚Assistent‘ (Grossman 1996): Er redigierte seine Kommentare, ergänzte sie mit eigenen Glossen (allein MS Leipzig B. H. fol. 1 enthält mehr als 250 von Schema‘jas Glossierungen; vgl. bereits Berliner 1903; Grossman 1991; Emanuel 2006, 317) und übte wohl auch in halachischen Fragen einen nicht unerheblichen Einfluss auf Raschi aus (Epstein 1897), jedenfalls haben sich auch religionsgesetzliche Responsen erhalten. Wie Raschi hat auch R. Schema‘ja Kommentierungen zu den pijjutim* hinterlassen.
c. R. Josef ben Schim‘on (Qara; ca. 1050–1125)
BiographieR. Josef ben Schim‘on Qara stammte wohl ursprünglich aus der Provence und kam über Worms nach Troyes (Lederer-Brüchner 2017, 46). Wie schon bei Raschi, ist auch über seinen Vater, Schim‘on bar Chelbo, nicht viel mehr bekannt, als dass er einen Bruder hatte. Dieser Bruder war wohl Menachem bar Chelbo, der in Qaras Kommentaren als ‚mein Onkel‘ firmiert. Qaras Lebensdaten sind allerdings umstritten (vgl. Gruber, 2004, 64, mit den Lebensdaten 1060–1130 gegen Grossman 1996, 255–60, mit 1050/55–1120/30). Neuere Forschungen lassen ihn durch Europa reisen, um sich in diversen Lehrhäusern umzusehen. Nach Grossman studierte er wohl auch in Worms unter R. Jitzchaq ben |61|R. El‘azar ha-Levi und R. Meïr bar Jitzchaq. Seinen Beinamen ‚Qara‘ (hebr. קרא ‚lesen‘), den er wahrscheinlich schon durch Raschi und/oder seine Schule beigelegt bekam, trug er wohl aufgrund seiner Tätigkeit als Bibel-Lehrer und -Vorleser. Als solcher wirkte er jedenfalls an Raschis Lehrhaus in Troyes.
Im Lehrhaus von RaschiRaschi und Qara haben offenbar eng zusammengearbeitet. Nach Grossman (Grossman 1996, 255) war Qara sein Schüler-Kollege (talmid chaver). Raschi beruft sich auch bei manchen Auslegungen auf ihn, manchmal explizit (z.B. Raschi zu Jes 10,24), manchmal mit Einleitungen zu seinen Auslegungen wie jesch poterim/n ‚Manche legen (so) aus …‘ (Raschi zu 1Kön 16,34; 2Kön 14,26 u.ö.) oder mit schama‘ti ‚Ich habe (folgende Auslegung) gehört …‘ (Raschi zu 1Kön 4,3; 7,50 u.ö.). Neuere Forschungen an den zumeist bislang nicht kritisch edierten Kommentaren lassen vermuten, dass sich Raschi und R. Josef ben Schim‘on Qara ihre Tätigkeit am Lehrhaus wohl dergestalt aufteilten, dass Raschi die eher rabbinisch gebildete Hörerschaft unterrichtete, während R. Josef Qara mit den einfachen Hörern, möglicherweise auch den in Troyes zu den Messezeiten anreisenden Kaufleuten und Händlern arbeitete. Ob Qara Troyes noch zu Lebzeiten Raschis wieder verließ, ist ungewiss. Er war aber wohl auch gut bekannt mit Raschis Enkel Raschbam (Grossman 1996, 260; zu Raschbam vgl. im Folgenden Kap. 3.2.a.).
Qaras BibelkommentareWelchen Umfang Qaras literarisches Œuvre tatsächlich hatte, ist aufgrund der Quellenlage nicht einfach auszumachen. Qara schrieb nicht wenige Kommentare zu den pijjutim* (Hollender 2008, 36–40). Jedenfalls beruft sich R. Schema‘ja immer wieder auf ihn (Grossman 1996, 257). Zu den meisten biblischen Büchern sind (Glossen-)Kommentierungen von ihm erhalten. Eine erste Sichtung italienischer Einbandfragmente ergab, dass er wohl auch einen Pentateuch-Kommentar verfasst hat (Grossman 2000, 348). Erhalten haben sich auch Kommentare zu den Vorderen und Hinteren Propheten sowie zu den Schriften (vgl. zuletzt Lederer-Brüchner 2017, 58–60). Die Kommentare von Raschi und R. Josef Bekhor Schor schreiben ihm ebenfalls (glossenartige) Erklärungen (pitronim; pitronot) zu den Propheten und den Schriften zu.