Читать книгу Jüdische Bibelauslegung - Hanna Liss - Страница 32
2.4. Zusammenfassung
ОглавлениеMit dem Eintritt des Judentums in den christlichen Einflussbereich Westeuropas drückt die westeuropäische Bildungskultur seit den Karolingern, vor allem die christlich-lateinische Exegese der jüdischen Beschäftigung mit den Quellen, Talmud* und Bibel, ihren bleibenden Stempel auf. Die jüdischen Gelehrtenzentren in der Provence, in Frankreich (Troyes; Rouen) und in Deutschland (Speyer, Mainz und Worms: ‚SchUM‘) sind durch den von der christlichen Kirche formulierten Anspruch der veritas hebraica im positiven wie im negativen Sinn herausgefordert. Die lateinischen Glossatoren, die – analog zu ihren jüdischen Glaubensgenossen – vor allem mit der Organisation des traditionellen Erbes zu kämpfen hatten und sich auch immer wieder davon zu emanzipieren suchten, boten mit ihren Glossensammlungen eine Form an, die auch für die Juden passend war: Raschis Auswahl und Zusammenstellung traditioneller Midrasch-Auslegungen zeigen einen ähnlichen Anspruch. Die intensive Rezeption der antiken septem artes liberales (Trivium und Quadrivium) in den christlichen Kathedralschulen ist auch an den Juden nicht spurlos vorbeigegangen und zeigt in der Beschäftigung mit Grammatik und Rhetorik ihre Wirkung auf die Bibelauslegung. Die Lektüre der Bibel, die bis dahin unter den westeuropäischen Juden dem Studium des (v.a. babylonischen) Talmud eher nachgeordnet und allenfalls als Prolegomenon zum eigentlichen jüdischen Curriculum wahrgenommen wurde, erfährt eine neue Bedeutung und Gewichtung. Gleichzeitig antworteten die jüdischen Gelehrten auf den von der Kirche mit dem vierfachen Schriftsinn (litteralis, allegoricus, moralis und anagogicus) formulierten Anspruch der wahren Schriftlektüre mit intensiven Auseinandersetzungen um das Verständnis von Peschat* und Derasch* nach innen sowie philologisch motivierten Spitzen nach außen. Die frühen Kommentare der nordfranzösischen Exegese zeigen darüber hinaus auch erste Ansätze zu einer historiographischen Exegese.