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d. Grammatik, Lexikographie und der Umgang mit der Masora
ОглавлениеDie grammatische Terminologie RaschisDie erste Generation der Peschat-Exegeten* verfügte noch nicht über eine solide grammatische und lexikographische Bildung, wie sie beispielsweise die judäo-arabischen Gelehrten Spaniens besaßen. Sie schöpften zum einen noch aus rabbinischen Quellen, zum anderen aber aus den Arbeiten der spanischen Hebraisten wie Menachem ibn Saruq und Dunasch ibn Labrat (van Bekkum 1993), deren Werke sie auf Hebräisch lasen. Weil sie kein Arabisch konnten, blieben ihnen die Werke von Jehuda Chajjūğ und Abū al-Walîd Merwân ibn Ganâch verschlossen. Dies betraf vor allem deren Arbeiten zur hebräischen Wurzel*-Lehre und der grundsätzlichen Dreiradikalität der hebräischen Verben. Daher konnte Raschi noch im Gefolge Menachems einkonsonantige Verben ausmachen und sah die verba tertiae infirmae als zweiradikalig an (van Bekkum 1993). Dazu passt auch, dass sich weder bei Raschi noch bei R. Josef ben Schim‘on Qara eine einheitliche grammatikalische Terminologie findet: Raschi kann beispielsweise die Begriffe jesod (‚Fundament‘/‚Grundlage‘), iqqar (‚Prinzip‘/‚Essenz‘/‚Hauptsache‘) und schoresch (‚Wurzel‘*) zur Klassifizierung der Wurzel eines Wortes verwenden.
Raschi zu Gen 49,10Gen 49,10: (…) Bis einst Schilo kommt, und ihm gehört die Versammlung der Völker [jiqqehat amim]: die Zusammenkunft der Völker, und das Jud von jiqqehat gehört essentiell (iqqar) zur Wurzel [jesod] (…) [es folgen weitere innerbiblische und rabbinische Belegstellen].
Raschi zu Ex 9,17Ex 9,17: Noch immer erhebst du dich [misttolel] über mein Volk: (…) Ich habe bereits am Ende von Paraschat Miqqetz erklärt [Raschi zu Gen 44,16]: Jedes Wort, dessen erster Wurzel(-buchstabe) [jesod] ein Samekh |68|ist, gibt, wenn es in den Hitpa‘el gesetzt wird, ein formbildendes Taw [taw shel schimmusch] in die Mitte der Wurzelbuchstaben [otijjot schel iqqar].
Raschi zu Ex 15,23Ex 15,23: Und sie kamen nach Mara [maratah] (…): wie ‚nach Mara‘ [le-Mara], und das He am Ende des Wortes kann anstelle eines am Anfang (befindlichen) Lameds stehen; (hier) steht das Taw anstelle des He, das zur Wurzel des Wortes Mara gehört. Durch die(se) Verbindung – denn es ist mit dem He, das er (am Ende) anstelle des Lamed hinzugefügt hat, verbunden – verwandelt sich das He der Wurzel (schoresch) in ein Taw (…).
Masoretische KommentierungenNoch ist nicht eindeutig geklärt, in welcher Form den nordfranzösischen Auslegern des 11. und beginnenden 12. Jahrhunderts die masoretischen Notationen vorlagen. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass Raschi sowohl eigenständige masoretische Listen wie auch voll masorierte Bibelausgaben vor sich hatte, aber dies muss erst noch im einzelnen überprüft werden. Die Integration masoretischer Kommentare wie ketiv*/qere* oder die Einbindung der Akzentsetzung in die Exegese zeigt aber, dass Raschi und seine Schule sich darüber im Klaren waren, dass hier eine neue Form der hebraica veritas konstituiert werden konnte, die sich in Teilen unabhängig vom rabbinischen Schrifttum, aber gleichermaßen unabhängig von der lateinischen Bibelrezeption behaupten können sollte.
Die modernen Bibelübersetzungen präsentieren in Hos 8,4 folgenden Ausspruch: Sie setzten Könige ein, doch es ging nicht von mir aus. Sie setzten Oberste ein, ohne dass ich es wusste. Bei Raschi und R. Josef Qara ist die prophetische Kritik eine andere. Beide berufen sich auf die Masora, aber die exegetischen Zielführungen sind jeweils andere:
Raschi zu Hos 8,4השירו Sie setzten Könige ein. Eine andere Interpretation: השירו ist wie הסירו, (d.h.) sie setzten eine Regierung ab und ernannten eine andere. Dies ist im Buch der masoretischen Traditionen [Sefer ha-Masorot] nachgewiesen, das als Masora (eine Liste von Wörtern) zusammengestellt hat, die mit (dem Buchstaben) Sin geschrieben sind, die man (mit dem Buchstaben) Samekh liest. Und die richtige Erklärung [u-fitrono] ist, [dass man es als mit] Samekh [geschrieben lesen sollte].
R. Josef Qara zu Hos 8,4השירו Sie setzten Könige ein: Ich habe in meiner Tora geschrieben: Dann sollst du über dich einen König setzen, den der Ewige, dein Gott, erwählen wird (Dtn 17,15), aber sie setzten eigenmächtig Könige zu Königen (des Nordreiches) Israel ein, die sie (dann) auch (eigenmächtig wieder) vor mir vertrieben haben, ohne dass es durch mich (geschah), dass sie als Könige eingesetzt wurden. השירו Sie setzten (sie) ab, ohne dass ich es wusste. השירו ist eines von den Wörtern, die mit (dem Buchstaben) Sin geschrieben sind; man liest es (aber) als ein Wort (mit dem Buchstaben) Samekh. Deshalb kann ich es nicht als (Verb im Bedeutungskontext) des (nominalen) Ausdruckes Fürst (שר sar) erklären. Die Erklärung ist vielmehr: Sie setzten den einen König ab und stellten einen anderen König an seiner Statt auf: wie (bei) Nadab, dem Sohn von Jerobeam, Ela, dem Sohn von Bascha, und Simri, und (schlussendlich) setzten sie Omri an seiner Statt als König ein (…).
|69|Raschis Belegstelle findet sich im sog. Sefer Okhla we-Okhla (ed. Frensdorff 1864; § 191, 120). Aber Raschis Kommentar verbleibt auf der philologischen Argumentationsebene. Qaras Erklärung ist hier nicht unabhängig vom Kommentar des Raschi entstanden, aber er sucht die masoretische Argumentation durch innerbiblische Kontextbezüge zu verifizieren. In diesem Fall befragt er die Geschichtsbücher, und er bekommt Recht: Jerobeam wird von Bascha ermordet (1Kön 15,25–32), Ela wird während eines Trinkgelages von Simri ermordet, der sich selbst umbringt (1Kön 16,8–14), als Omri eingesetzt wird (1Kön 16,21–28). Die biblische Historiographie bestätigt die masoretische Lesekorrektur.
Mittelalterliche TextausgabenDie handschriftliche Überlieferung der mittelalterlichen Ausleger lässt keinen unmittelbaren Rückschluss darauf zu, welche Textausgaben ihnen vorgelegen haben. So kann, wie dies aus dem folgenden Beispiel ersichtlich wird, die Diskussion um eine Vokalisierung bedeuten, dass ein Ausleger nur ein mit Lesehilfen versehenes und damit lediglich teil-punktiertes Manuskript vor sich hatte, das seine Vokalisierung erst im Anschluss an die exegetische Beschäftigung erhält. Andererseits kann es sich jedoch auch umgekehrt so verhalten haben, dass der Ausleger einen vokalisierten Text vor sich hatte, dessen Vokalisierung jedoch zur Diskussion stand, sodass er die Erklärung einer bestimmten Punktation für nötig erachtete. Dies ist wohl in R. Josef ben Schim‘on Qaras Kommentar zu Hos 10,8 der Fall:
R. Josef Qara zu Hos 10,8Du hast dich versündigt, Israel (חטאת ישראל), das heißt: Hierdurch [d.h. durch den Stier] verführst du Israel in den Höhenheiligtümern von Bethel zur Sünde. חטאת: (Der Buchstabe) Tet ist mit einem rafe versehen [undageschiert], und er ist mit einem qamats (vokalisiert). Die Vokalisation lehrt uns (also) diese Erklärung: Wenn (der Buchstabe) Tet dageschiert wäre, dann wäre es ein Substantiv wie Chet’ [Sünde], aber (der Begriff hier) ist wie: Und siehe, deine Knechte werden geschlagen, und dein Volk versündigt sich (Ex 5,16) (…).
Qara liest die Form חטאת nicht als Nominalform im Status constructus (‚Sünde Israels‘), sondern als Verbalform von *חטא in der hier vorgeschlagenen Auslegungsmöglichkeit als Qal Perf. 2. Pers. sg. mask. (chata’ta). Diese Lesart der Vokalisation entspricht auch der Vokalisation der *חטא als Verbalform im Qal perf. in Hos 10,9 (Qal Perf. 2. Pers. sg. mask.) bzw. derjenigen in dem von Qara angeführten Vergleichsvers Ex 5,16. Die wichtigsten orientalischen Textzeugen (Codex Leningradensis; Codex Aleppo; BHS/BHQ ad loc.) kennen diese Lesart nicht, sondern bieten das Wort als Nominalform mit dageschiertem* Buchstaben Tet und patach als Vokalzeichen. Hieran zeigt sich, dass die Exegeten in Nordfrankreich eine von dem heute in der kritischen Wissenschaft gebräuchlichen Bibeltext (BHS/BHQ) abweichende Rezension vor sich hatten, und dies nicht nur hinsicht|70|lich der Masora, sondern auch hinsichtlich des Konsonantenbestandes und der Vokalisation (Liss/Petzold 2017; Liss 2014c).