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e. Wissenschaftsdiskurse und polemische Attacken

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Die Frage, in welchem Maße die Kommentare der ersten Peschat-Exegeten Nordfrankreichs in Auseinandersetzung mit der lateinischen Exegese standen und inwieweit sie tatsächlich polemisch im Sinne einer vor allem anti-christlichen Polemik waren, ist nicht leicht zu beantworten und wird in der Forschung entsprechend kontrovers diskutiert. Insbesondere die judaistische Forschung in Israel (Elazar Touitou; Sarah Kamin; Sara Japhet) vermutet an vielen Punkten antichristliche Polemik, ohne dies jedoch näherhin zu spezifizieren. So wird beispielsweise nicht präzise zwischen Polemik, Eristik und Apologetik unterschieden; ebensowenig wird dieses Thema konsequent anhand der Frage nach den jeweiligen Genres diskutiert: Ein Bibelkommentar ist keine Streitschrift. Christlich-jüdische (Zwangs-)Disputationen, wie wir sie zwischen R. Jechi’el und Nicholas Donin (Paris 1240) oder zwischen Nachmanides und Pablo Christiani kennen (Barcelona 1263; vgl. unten Kap. 6.1.c.) sind aber für das ausgehende 11. und frühe 12. Jahrhundert noch gar nicht an der Tagesordnung. Ebensowenig gehören die ersten explizit polemischen hebräischsprachigen Werke wie der Sefer ha-Berit des R. Josef Qimchi (Narbonne; ca. 1105–ca. 1170) und die Streitschrift Milchamot ha-Schem des Ja‘aqov ben Re’uven (Spanien; um 1200), die wir in Südfrankreich und Spanien verorten müssen, im engeren Sinne zum Genre der Bibelkommentare.

Teschuvat ha-MinimAllerdings enthalten die Bibelkommentare von Raschbam, Josef Bekhor Schor und R. Eli‘ezer aus Beaugency den Ausdruck teschuva la-minin[m] / teschuvat ha-minin[m] (bei ibn Ezra: teschuvat ha-min), den man wohl mit der Phrase ‚Erwiderung an die Andersgläubigen/Christen‘ zu übersetzen hat. Dieser Ausdruck geht zurück auf mAv II,14, wo R. Eli‘ezer neben dem Lernen der Tora empfiehlt, |91|sich Antworten auf die Herausforderungen durch den Häretiker (appiqoros) zu überlegen. Wo teschuva la-minin in den nordfranzösischen Kommentaren verwendet wird, setzen sich die Bibelausleger mit christlichen Auslegungen auseinander, die sie wahrscheinlich im Gespräch aufgeschnappt haben. Überdies lässt die Tatsache, dass die jüdischen Gelehrten aus Auxerre, wo es ja die berühmte Abtei Saint-Germain d’Auxerre gab, eine Anfrage an Raschi hinsichtlich der Tempelvision des Ezechiel stellten, vermuten, dass Raschi über den Kontakt zu seinen Glaubensbrüdern aus Auxerre wie auch an anderen Orten, wo es lateinische Gelehrsamkeit gab, über die christlichen Auslegungen im Bilde war. Wirklich bissig gegen die christliche Lehre bzw. gegen das, was über mündliche Kanäle davon auch bei den Juden angekommen sein mag, schreibt eigentlich nur R. Josef Bekhor Schor: Er höhnt gegen das Abendmahl ebenso wie gegen die Trinität, aber gerade seine Ausführungen zeigen, wie wenig seinen Vorgängern daran gelegen war, gegen die christliche Lehre anzuwettern.

Ein klassisches und für jede weitere polemische Auseinandersetzung grundlegendes Beispiel ist natürlich Gen 1,26, wo die Selbstaufforderung Gottes im Hebräischen im sog. pluralis deliberationis (na‘ase adam …) formuliert ist. Diese Stelle galt bereits den Kirchenvätern als eines der sog. vestigia trinitatis* der Hebräischen Bibel und wichtige Belegstelle für den Hinweis auf die göttliche Trinität. Raschis Kommentar lässt erkennen, dass er um diese Ausdeutung wusste:

Raschi zu Gen 1,26Lasst uns einen Menschen machen: Obwohl die (Engel) ihn in seinem (schöpferischen) Gestalten [jetzira] nicht unterstützten, und es hier eine Möglichkeit für die Christen gibt, (eine falsche Auslegung) herauszuziehen, hat der Vers es (dennoch) nicht unterlassen, (an dieser Stelle) die üblichen Umgangsformen und (hier vor allem) die Tugend der Bescheidenheit zu lehren, wonach der Mächtige sich mit dem Unbedeutenden berät und von ihm die Zustimmung einholt. Stünde (nämlich) dort ‚Ich will einen Menschen machen‘, so hätten wir nicht gelernt, dass er mit seinem Gerichtshof gesprochen hat, sondern mit sich selbst. Und die Erwiderung an die Christen (teschuvat ha-minim) ist (dem ersten Vers direkt) zur Seite gestellt: Und (Gott) schuf den Menschen (Gen 1,27), und es heißt nicht: ‚Und sie schufen‘.

Raschi muss an dieser Stelle zugeben, dass die Stelle sprachlich leicht von der christlichen Theologie vereinnahmt werden konnte, und erklärt daher die Motivation des biblischen Schriftstellers, die Sache trotz aller möglichen Missdeutungen so und nicht anders zu formulieren. Die Erwiderung an die Christen (teschuvat ha-minim) findet sich dabei mit Verweis auf Gen 1,27, wo die Verbalform ganz eindeutig in der 3. Pers. Sg. formuliert ist. R. Josef Bekhor Schor verweist an dieser Stelle auf Gen 1,26aα, wo es (im Sg.) heißt ‚Und |92|Gott sprach …‘. Die Erwiderung an die Christen, die wahrscheinlich kein Lateiner zu jener Zeit je gelesen hat, bewegt sich mithin im Rahmen eines sich entwickelnden philologisch-grammatischen Wissenschaftsdiskurses. Auch Raschbam kommt an dieser Stelle zum selben Ergebnis, führt allerdings ausschließlich innerbiblische Belege an (1Kön 22,19–2; Jes 6,8).

R. Josef Bekhor Schor zu Ex 32,20Wirklich polemisch formuliert R. Josef Bekhor Schor in seinem Kommentar zu Ex 32,20, wo ausführlich erläutert wird, was Mose nach dem Zerschmettern der Tafeln mit dem Kalb veranstaltete, das das Volk während seiner Abwesenheit anfertigen ließ. Nachdem er es verbrannt, zermalmt und in Wasser aufgelöst hatte,

gab er den Söhnen Israels zu trinken: (so ist der Vers) entsprechend dem einfachen Wortsinn (zu verstehen), weil Mose sie nicht etwa (das Kalb) trinken, sondern es auflösen und verschwinden (lassen) wollte, aber weil er es ins Wasser gegeben hatte, so tranken sie es wider Willen mit (…). Und als Antwort an die Christen, die (uns) über dieses Trinken (des Kalbes) verspotten, (sei hier gesagt): Er [Mose] gab ihnen damit (auch) einen Wink, dass es Götter, die man essen und trinken kann, gar nicht in Wirklichkeit gibt. Sie aber essen das Fleisch ihres Götzendienstes (terefot) und trinken ständig sein Blut.

Bekhor Schors Polemik zielt wohl darauf ab, zu betonen, dass die Christen im Abendmahl mit ihrem Gott genau das tun, was die Israeliten nur mit einem Götzen und auch nur einmal und dies auch noch widerwillig getan haben. Hinter der Bemerkung, wonach Götter, die man essen und trinken könne, keine richtigen Götter seien, steht unter Umständen sogar das Wissen um die theologische Formulierung, dass es wirklich der Leib Christi sei, der im Abendmahl verzehrt werde, wie dies beispielsweise von Paschasius Radbertus (Benediktiner in der Abtei Corbie, Frankreich; 9. Jahrhundert) vertreten wurde (vgl. Madey 1999).

Deutlicher noch als bei Raschi sehen wir im Kommentar des Raschbam, dass sich die sog. Polemik sowohl gegen die eigenen Reihen als auch gegen christliche Gesprächspartner richten kann. In seinem Kommentar zu Ex 20,12 bemüht Raschbam die Philologie, um die hebraica veritas der Juden gegen die mangelnde Sprachfähigkeit der Lateiner auszuspielen und damit ihre exegetische Kompetenz herabzusetzen:

Raschbam zu Ex 20,12Du sollst nicht morden: Jedes ‚Morden‘ [*רצח] (meint) ein Töten ohne Anlass – an jeder (Beleg-)Stelle (der Schrift): Ein Mörder muss ganz sicher sterben (Num 35,16–17). Du hast gemordet und (nun) auch (noch) geerbt (1Kön 21,19). Gerechtigkeit sollte in ihr eine Bleibe finden – nun (aber): Mörder (Jes 1,21). Aber ‚Töten‘ und ‚Tötung‘ gibt es entweder als (Tötung) ohne Anlass, wie (in): Da tötete er ihn (Gen 4,8), von Kain berichtet; oder es gibt (den Ausdruck ‚Töten‘) nach Richtspruch, wie (in): Dann sollst du die Frau (…) töten (Lev 20,16). Und dort, wo geschrieben steht … der sei|93|nen Mitmenschen ohne Vorsatz gemordet hat (Dtn 4,42) (steht ‚morden‘), da der (Vers) über einen Mörder spricht, (der) in böser Absicht (gemordet hat) (…) Erwiderung an die Andersgläubigen [teschuva la-minim], und die haben es mir eingestanden: Obwohl in ihren Büchern auf Lateinisch ‚Ich töte und mache wieder lebendig‘ [ego occidam] (Dtn 32,39) (im Wortlaut) von ‚Du sollst nicht morden‘ [non occides] (übersetzt ist), so muss man (doch) feststellen, dass sie es (in ihrer Übersetzung) nicht genau (genug) genommen haben.

Raschbams Kommentar ist lexikographisch ausgerichtet: Er unterscheidet zwischen retzicha ‚Morden‘, hariga ‚Töten‘ und mita ‚Totschlag‘. Seine Kritik richtet sich gegen die christlichen Exegeten, die aufgrund mangelnder Sprachkompetenz zu einer falschen Erklärung des Textes gelangen. Möglicherweise steckt hinter dieser Erklärung der implizite Vorwurf an die christlichen Exegeten, dass, wenn schon ihre buchstäblichen Deutungen oftmals falsch seien, weil ihre Hebräischkenntnisse nicht ausreichten, die Auslegungen ad allegoriam einmal mehr angreifbar werden. Andererseits zeigt die offenbar erfolgte Zustimmung seitens christlicher Gelehrter, dass hier weniger polemisch disputiert als gemeinsam gelernt wurde. Wahrscheinlich hat die christliche Seite nachgefragt, denn Raschbams Lateinkenntnisse waren wohl mehr indirekter Natur, und lateinische Auslegungen dürften ihm daher auch nur durch mündliche Vermittlung bekannt gewesen sein.

Manchmal greift der Begriff der Polemik aber auch zu kurz, wenn es darum ging, ein richtiges Textverständnis zu vermitteln (und dies durchaus in Überwindung des klassischen religiösen Lesekontextes). Exemplarisch lässt sich dies an der Auslegung zu Gen 49,10 zeigen, wo sowohl gegen die Christen (notzrim) als auch gegen die Juden (ivrim) polemisiert wird:

Raschbam zu Gen 49,10: Die Frage des Messias(Nicht soll das Zepter von Juda weichen …) bis der König von Juda kommt, das ist Rehabeam, der Sohn Salomos, der kam, um das Königtum zu erneuern, (und zwar) in Schilo (vgl. 1Kön 12,1), das in der Nähe von Sichem ist. Damals aber fielen die zehn Stämme von ihm ab und machten Jerobeam zum König, und Rehabeam, dem Sohn Salomos, blieben nur Juda und Benjamin (…) Und in Sichem gab es ein ebenes Flurstück um die Eiche herum (vgl. Gen 35,4; Jos 24,26), wo sich Menschen versammeln konnten. Und dieser einfache Wortsinn (Peschat) ist (gleichzeitig) eine Antwort an die Andersgläubigen, denn das hier notierte Schilo meint nichts anderes als den Namen einer Stadt, denn es gibt keine altfranzösischen Wörter in der Bibel [möglicherweise auf das altfranzösische salut bezogen (vgl. Ed. Rosin 1881, 72)]; auch steht hier weder ‚schello‘ [hebr. für aram. dedileh; vgl. Onqelos, ad loc.], entsprechend der Deutungen (mancher) Juden (ivrim), noch schaliach ‚Gesandter‘, wie es die Christen (ha-notzrim) meinen.

Diese Erklärung weist alle jüdischen und christlichen Erklärungen zurück, die ‚Schilo‘ auf den messianischen Herrscher beziehen. Auch Raschi auf der Basis des Targum* hatte noch selbstverständ|94|lich Schilo als den messianischen König (melekh ha-maschiach) erklärt. Raschbam muss an dieser Stelle auch Kenntnis von der in der Vulgata* gegebenen Lesart erhalten haben, die Schilo als qui mittendus est (‚der gesendet werden muss‘) übersetzt und den Ausdruck damit ebenfalls auf den messianischen Gesandten bezieht. Sein Kommentar deutet Schilo als Ortsnamen und bezieht die Prophezeiung Jakobs auf Rehabeam, der sich in Sichem (in der Nähe von Schilo) zum König erheben ließ. Die meisten modernen Interpreten (Sh. Cohen 2004; Touitou 1990) sehen in dieser Auslegung, die den sensus historicus favorisiert, eine antichristliche Polemik, aber die Gegenüberstellung von notzrim ‚Christen‘ und ivrim ‚Juden‘ (wörtlich: ‚Hebräer‘) scheint eher als Zurückweisung der religiösen Lesart jener beider Gruppen gemeint zu sein, deren erste die Bibel auf Latein und deren zweite die Bibel auf Hebräisch liest und dabei in jedem Fall pro domo ausdeutet. Der Ausdruck notzrim ‚Christen‘ (nicht wie erwartet: minim), so er an dieser Stelle überhaupt auf Raschbam zurückgeht (dieser Ausdruck kommt sonst in Raschbams Kommentar nicht mehr vor), entbehrt vielmehr jeder pejorativen Konnotation. Raschbam sucht hier wahrscheinlich den einfachen Wortsinn zu verteidigen, seine Argumentation ist jedenfalls durchgehend philologisch.

Die hier besprochenen Beispiele zeigen, dass die sog. Polemik eher als ein erster Versuch zu werten ist, den religiösen Binnendiskurs zu verlassen und in einen Wissenschaftsdiskurs mit anderen Meinungen einzutreten (so auch Touitou 1990). Dabei trifft es, wie das Beispiel aus Gen 49,10 zeigt, beide religiösen Lesarten, die christliche wie auch die jüdische. In erster Linie sollte also hier der Text möglichst vorbehaltlos interpretiert und diese Deutung auf der Basis philologischer Argumente durchgesetzt werden.

Jüdische Bibelauslegung

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