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|65|c. Erste Anfänge literarischer Narrativität
ОглавлениеEng verwandt mit der formalen Beobachtung der Konzentration von Midrasch*-Zitaten auf das Notwendigste ist die Tatsache, dass die ersten Peschat*-Exegeten (Raschi; R. Josef ben Schim‘on Qara) den biblischen Textfluss ernst nahmen und ihn nicht durch einzelne Detail-Kommentierungen unnötig auseinander zu reißen suchten. Qara formuliert dies im bereits erwähnten Kommentar zu 1Sam 1,17f., wo er betont, dass er an dieser Stelle hier keinen Midrasch bieten wolle, denn der Bibeltext sei hinreichend und benötige keine zusätzlichen Informationen aus dem Midrasch:
R. Josef Qara zu 1Sam 1,17Wisse aber: als die(se) Prophezeiung aufgeschrieben wurde, wurde sie ganz aufgeschrieben mitsamt allen Erklärungen (…) Man muss (daher) auch keinen (Auslegungs-)Beweis von anderen Orten [d.h. aus anderen Quellen] heranziehen, (schon gar nicht) einen Midrasch (…).
Ziel der Auslegung ist es, den Text so konzise darzubieten, dass der Leser sich nicht in den vielen, nicht unmittelbar zum narrativen Ablauf gehörenden Details verliere. Indes ließ sich ein solches Vorgehen nicht überall durchhalten, und so finden wir, dass Raschi und Qara durchaus doch rabbinische Überlieferungen einbringen. Dies wird jedoch formal so gestaltet, dass der durchgehende Textfluss der Bibel zwar ergänzt, nicht aber durch isolierte Einzelinformationen auseinandergerissen wird. Ein solches Vorgehen wurde v.a. dort nötig, wo der Bibeltext inhaltliche Leerstellen oder sprachliche Redundanz aufweist, die geglättet oder erklärt werden müssen und dabei durchaus selbst in eigenständigen Narrativen bzw. fiktionalen Dialogen enden können.
So bietet beispielsweise Gen 29,18 eine Reihe von attributiven Näherbestimmungen der Rachel, die auf den ersten Blick redundant wirken: Da sagte er [Jakob]: Ich will dir [Laban] sieben Jahre dienen um Rachel, deine Tochter, die jüngere. Raschi kommentiert wie folgt:
Raschi zu Gen 29,18Warum all diese Näherbestimmungen [simanim] (hinsichtlich der Rachel)? Weil er [Jakob] von ihm wusste, dass er [Laban] ein Betrüger war, sagte er zu ihm: „Ich will dir für Rachel dienen – vielleicht wirst du aber sagen: (Die Vereinbarung gilt für) eine andere Rachel, (eine) von der Straße“. Darum sagt der Vers: ‚deine Tochter‘: (Jakob sagte) „Vielleicht wirst du aber sagen: ‚Ich werde den Namen von Lea umtauschen und sie Rachel nennen‘“. Darum sagt der Vers: ‚die jüngere‘. – Aber trotz all (dieser Vorsichtsmaßnahmen) half es ihm nicht, denn er betrog ihn doch.
Raschis Auslegung unterscheidet sich inhaltlich nicht vom Midrasch (vgl. BerR 70,17), der schon darauf insistiert, dass der biblische Ausdruck keineswegs „die Leidenschaft des Freiers für die Angebetete und keine andere“ (Jacob 2000, ad loc.) mitteilt, son|66|dern eine verkürzte Nacherzählung der Vorsichtsmaßnahmen des misstrauischen Jakob gegenüber Laban darstellt. Formal hat Raschi aber an einigen Stellen gekürzt und den Text so zusammengestellt, dass der Bibeltext in fließender Chronologie auch durch die Erklärung hindurch lesbar bleibt. Jedoch ist ein Verständnis, wie wir es heute bei der literaturtheoretisch orientierten Bibelexegese finden, wonach diese Aufzählung ein stilistisches Mittel zur inhaltlichen Steigerung darstellt, bei Raschi (noch) nicht auszumachen. Dazu fehlte ihm das methodische Instrumentarium. Erst die Generation seines Enkels Raschbam sollte ein Gefühl für einen profanen literaturwissenschaftlichen Ansatz entwickeln.
Inhaltliche Enthüllung prophetischer AnklagenInsbesondere die poetischen Abschnitte in den klassischen Prophetenbüchern mit ihren Mahn- und Anklageworten erweisen sich häufig als schwer verständlich, weil sie (ihrer Gattung als Unheilsworte entsprechend) oftmals bei vagen Aussagen verbleiben, die auch die moderne Exegese mit inhaltlichen Konkretisierungen füllen muss. In Hos 5,1 findet sich eine prophetische Anklage, die die verschiedenen Personengruppen – politische und kultische Funktionsträger sowie das Volk – angreift, aber keine konkreten Vorwürfe formuliert: Hört dies, (ihr) Priester! Und merkt auf, (ihr vom) Haus Israel! Und Haus des Königs, nimm es dir zu Ohren! Denn über euch ergeht das Urteil, denn eine Falle seid ihr für Mitzpa geworden und ein ausgespanntes Netz auf dem Tabor. Der Kommentar von R. Josef ben Schim‘on Qara (zu Hos 5,1) sucht diese Leerstellen zu füllen, wobei er seinen Kommentartext mit dem Bibeltext kunstvoll verwebt:
R. Josef Qara zu Hos 5,1Hört dies, (ihr) Priester! Der Heilige, gepriesen sei er, sagte zu den Priestern: „Warum bringt ihr vor mir nicht tamid-Opfer und (andere) Opfer dar?“ Und sie antworteten ihm: „Israel gibt (sie) uns nicht“. Und merkt auf, (ihr vom) Haus Israel! Zu Israel wiederum sagt er: „Warum bringt ihr nicht eure Opfer herbei, um sie auf dem Altar darzubringen?“ Und sie antworteten ihm: „Das Haus des Königs nimmt es uns weg“. Das bedeutet: Die Könige Israels stellen ihre Wachen (auf) den Wegen auf, damit Israel nicht zum Pilgerfest hinaufziehen kann, um ein Opfer darzubringen. Und Haus des Königs, nimm es dir zu Ohren! „Warum habt ihr Wachen aufgestellt, damit man nicht nach Jerusalem hinaufziehen kann, um ein Opfer darzubringen?“ Denn über euch ergeht das Urteil: Weil ihr [Könige Israels] das Recht der Priester (in Anspruch) nehmt und [von den für die Priester bestimmten Abgaben] esst. Denn eine Falle seid ihr für Mitzpa geworden und ein ausgespanntes Netz auf dem Tabor: Denn man kann nicht nach Jerusalem hinaufziehen, wenn man nicht über Mitzpa oder über den Berg Tabor geht. Dort aber stellten sie ihre Wachen auf, dass diese zum Klappnetz, zum Hinterhalt oder zum ausgespannten Netz werden, um diejenigen, die auf (diesen) Wegen vorbeikommen, abzufangen.
Qaras Kommentar basiert auf jSan 2,6 [20d], wo Hos 5,1 in völlig anderem Zusammenhang (Zusammenstellung verschiedener Dicta |67|zum Recht des Königs) und vom übrigen Kontext ausgesprochen dissoziiert zitiert wird. Auch werden hier anstelle der bei Qara genannten tamid-Opfer (regelmäßige Hochopfer) die vierundzwanzig Abgaben für die Priester erwähnt. Qara hat hier nur noch das Motiv aus dem talmudischen* Text genommen (d.h. das Ausbleiben der Abgaben aufgrund der Beschlagnahmung durch den König), kann aber damit sein exegetisches Hauptziel gut verfolgen. Dies besteht darin, den Text so zu erklären, dass die biblische Textchronologie und gleichzeitig auch die innere Logik des Bibelverses transparent wird. Als übergeordneter Anspruch steht mithin die Explikation des biblischen Ausdrucks, der sich jede rabbinische Überlieferung thematisch unterzuordnen hat. Hier geht es also nicht mehr darum, den Midrasch mit dem Bibeltext zu relationieren, wie dies noch bei Raschi der Fall gewesen war. Im Vordergrund steht jetzt der Bibeltext als eigenständige literarische Entität, die auch einer entsprechenden Würdigung bedarf.