Читать книгу Jüdische Bibelauslegung - Hanna Liss - Страница 38
3.3. Neue Zugänge a. Vom Übersetzen zum Erzählen
ОглавлениеDie Entwicklung hin zu einer zunehmend narrativen Exegese vollzog sich vor allem durch die Integration französischer Übersetzungen in die Bibelkommentare, die in Ansätzen bereits bei Raschi und R. Josef ben Schim‘on Qara, aber vollends ausgeprägt dann bei Raschbam zum Tragen kam und zeigt, wie weit auch das französische Denken bereits in die Köpfe der Ausleger Eingang gefunden haben mag.
Die Auseinandersetzung mit der französischen Sprache führte zunächst einmal dazu, dass Übersetzungen tatsächlich glossenartig |84|an den Bibeltext notiert wurden, um damit den einfachen Wortsinn (Peschat*) zu erklären:
R. Josef Qara zu Joel 1,17Es faulen die Tonnen, wie: Sie sind verschimmelt (…) perudot (bedeutet) ‚Fässer‘ (דוגש duges) auf Altfranzösisch. Unter ihren Pfropfen: megrafa (bedeutet) ‚Pfropfen‘ (צרקלש cercles ) auf Altfranzösisch.
Bis in die heutigen Bibelübersetzungen hinein lässt dieser erste Halbsatz (Joel 1,17aα) erkennen, dass er es in sich hat: Man findet eine Vielzahl verschiedener Übersetzungen: diejenige von Naftali Herz Tur-Sinai (ND 1995; vgl. auch unten Kap. 9.2.o.) übersetzt mit ‚Es fault Verstreutes‘, die Elberfelder (rev. Fassung 1993) mit ‚Verdorrt sind die Samenkörner‘, aber Buber-Rosenzweig (1976) mit ‚Unter ihren Deckeln faulen die Tonnen‘. Qaras Kommentar lässt damit auch indirekt erkennen, dass das Bibelstudium wohl vor allem auf die Lektüre und das Verstehen (Vers-für-Vers) hin ausgerichtet war. Die handschriftliche Überlieferung des Qara-Kommentares zum Zwölfprophetenbuch zeigt überdies, dass nicht nur genau notiert wurde, welche Texte als Haftara* gelesen wurden, sondern auch, dass diese Texte ausführlicher kommentiert wurden als andere. Die durchgehende übersetzende Glossierung ins Altfranzösische zeigt, dass die nordfranzösischen Juden, anders als die spanischen Zeitgenossen, offenbar nicht mehr über ausreichende Hebräisch- und Aramäischkenntnisse verfügten.
R. Josef ben Schim‘on Qara verband allerdings bereits lexikologische Diskurse mit Kontextanalyse. In seinem Kommentar zu Hosea 4,14 finden sich die ‚Fässer‘ (duges) wieder, die wir schon in Joel 1,17 gesehen haben, aber hier werden sie über eine reine Worterklärung hinaus auch kontextuell in die Auslegung eingebunden:
R. Josef Qara zu Hos 4,14Weil sie – die Väter und die Schwiegersöhne – sich mit Huren absondern (jefaredu): Menachem (ibn Saruq [Machberet Menachem S. 145]) verband (das Verb *פרד) mit ‚Es faulen die Tonnen (perudot)‘ – דּוֹגֵשׁ duges auf Altfranzösisch: So, wie eure Töchter und eure Schwiegertöchter zuhause Ehebruch treiben, so treiben die Männer Ehebruch mit Huren. Die Erklärung für ‚sie sondern sich ab‘ (lautet): Sie sitzen bei dem Fass, um mit den Huren Wein zu trinken. Dieses Verhalten veranlasst sie (dann), dass sie mit ihnen schlafen.
Ausgehend von der hebräischen Wurzel *פרד hatte bereits Menachem ben Ja‘aqov ibn Saruq eine Wurzelverwandtschaft zwischen jefaredu und perudot konstruiert. R. Josef Qara hat diese semantisch bis ins Altfranzösische ausgezogen, um dann vom Kontext her die Glosse zu rechtfertigen. Hier wurde also schon eine erste Narrative konstruiert, die gleichzeitig den hebräischen Text mit der französischen Übersetzung in Übereinstimmung brachte. Wie weit Menachem ibn Saruq hier die (nicht-jüdische) Wirtshaus-Kultur vor Augen hatte, lässt sich nur noch vermuten.
|85|Wie weit französische kulturelle Ideale bereits in das Denken der jüdischen Bibelausleger Eingang gefunden hatten, zeigt Raschbams Kommentar zu Gen 29,17. Es geht um Leas Schönheit, und hier insbesondere: um ihre Augen. Die meisten antiken (LXX*; Vulgata*) und modernen Bibelübersetzungen übersetzen den hebräischen Ausdruck rakkot pejorativ und verpassen Lea ‚schwache‘ [JPS]/‚matte‘ [ELB], wenn nicht gar ‚blöde‘/‚blödgesichtige‘/‚grindige‘ (Thomas Mann) Augen. In Raschis Kommentar (vgl. BerR 70,16; bBB 123a) lesen wir ‚zarte/weiche‘ Augen, im Sinne von ‚tränenverhangen‘ vom vielen Weinen. Das Leipziger und das Pariser Glossar (ad loc.) übersetzen mit tandrës’ (tendres) bzw. tonres. Raschbam erklärt den Text vollkommen anders:
Raschbam zu Gen 29,17Rakkot (bedeutet) ‚lieblich‘ [hebr. na’ot]: vairs [verts] ‚strahlend, hell‘ auf Altfranzösisch. Wenn die Augen einer Braut lieblich sind, bedarf der Rest des Körpers keiner (eingehenden) Prüfung mehr (vgl. bTaan 24a). Dunkle Augen sind (ohnehin) nicht so schön wie helle.
Was uns hier interessiert, ist Raschbams Übersetzung von rakkot mit ‚verts‘, das auf Altfranzösisch nicht ‚grün‘, sondern ‚hell/strahlend‘ bedeutet, ein Adjektiv, wie es beispielsweise im anglo-normannischen Alexanderroman (‚Le Roman de Toute Chevalerie‘) des Thomas von Kent oder im Chanson de Roland für die Beschreibung der Augen des ritterlichen Helden Anwendung findet (Liss 2011a, 260). Raschbams Kommentierung favorisiert darin nicht nur die hellen Augen Nordeuropas gegenüber den biblisch-orientalischen ‚Taubenaugen‘, sondern zeichnet die Schönheit der Lea als mit dem ritterlichen Schönheitsideal übereinstimmend aus. Ausgehend von diesem Beispiel kann einmal mehr vermutet werden, dass Raschbam auch einen unmittelbaren Zugang zu den altfranzösischen Literaturen hatte.