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c. Auslegung als Rekomposition

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Ein wichtiges Kennzeichen des neuen literarischen Zugangs zur Bibel ist der vor allem bei Raschbam ausgeprägte Versuch, den Gedanken- und Erzählgang des biblischen ‚Autors‘ (Mose) nicht nur nachzuverfolgen, sondern die biblischen Geschichten – Väterüberlieferungen, Mose-Erzählung – neu zu erzählen. Raschbam profiliert Charaktere und gestaltet vermittels rhetorischer und narrativer Interjektionen, die er teilweise dem Bibeltext selbst entnimmt, den Gang biblischer Erzählungen überraschend um. Dabei schlüpft er bisweilen sogar in die Rolle des Erzählers. Dies zeigt deutlich seine Auslegung zu Gen 32,23–33, der Schilderung des Kampfes am Jabboq.

Raschbam zu Gen 32,23–33Jakob wollte in der Nacht in eine andere Richtung fliehen, hätte ihn nicht der Engel aufgehalten [*עכב!]. Daher ist (der Satz ‚Siehe, er selbst ist auch schon nach uns‘ so zu verstehen), dass (Jakob) beabsichtigte, den Esau zu täuschen, ihn aber (zumindest) nicht treffen zu müssen. (23) Und er stand in jener Nacht auf, weil er (ja) vorhatte, in eine andere Richtung zu fliehen. Deshalb durchquerte er nachts den Fluss (…) die Furt des Jabboq – die Furt durch das Wasser, um zu fliehen. (25) Und Jakob blieb allein übrig, d.h. nachdem er alle(s), was (zu) ihm gehörte, hinübergebracht hatte, damit niemand mehr da war, der noch hinüber (gebracht werden) musste, außer ihm, und er wollte nach ihnen hinübergehen. Allerdings: Er hatte (gleichzeitig) vor, in eine andere Richtung zu fliehen, damit er nicht etwa auf Esau treffe. Aber ein Engel rang mit ihm, damit er nicht fliehen könne und sehen würde, dass das Versprechen Gottes, dass Esau ihm nicht schaden werde, auch wirklich eintreffe.

Der Kommentar konzentriert sich auf den emotionalen Zustand Jakobs (Angst) und führt diesen erzählerisch durch das mehrfach angeführte Fluchtmotiv aus. Alle im Bibeltext geschilderten Aktivitäten Jakobs werden in diesem Sinne gedeutet. Mit dieser Erzähltechnik befindet sich Raschbam in eigentümlicher erzählerischer Verwandtschaft mit Chrétien aus Troyes und seiner Erzähltechnik, der es vor allem um das Aufspüren des ‚homo interior‘ zu tun ist. Auch bei Raschbam geht Bibelauslegung nahtlos in eigenes Erzäh|88|len über, und es ist deutlich zu erkennen, dass es nicht einfach um die Erklärung des Bibeltextes geht, sondern beinahe um dessen ‚literarische Rehabilitierung‘. Der Kommentar scheint darin ganz auf den Leser/Hörer ausgerichtet. Nicht umsonst bezieht Raschbam in seinen Ausführungen immer wieder den Leser ein. So nimmt Raschbam in einem fast schon rezeptionsästhetischen Zugang die Rolle eines aufmerksamen und kritischen Lesers ein, der die Tora als ein Stück Literatur ansieht und seine Lese-Erwartung entsprechend ausrichtet.

Jüdische Bibelauslegung

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