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d. Die Entstehung einer biblischen Literaturtheorie

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Raschbams Bibelauslegung wird konsequent literaturtheoretisch von der Relation zwischen dem Erzählschema und der Lese-Erwartung her entwickelt. Ein wichtiges Moment ist dabei die Aufdeckung literarischer Antizipation: Ein Motiv, das in dem Kontext, in dem es auftritt, für das Erzählschema keinen unmittelbar einsichtigen Wert hat, wird erzählerisch vorweggenommen und verweist so indirekt auf einen Kontext, der auf diese erste Erwähnung sachlich zurückgreifen kann. Die Vorausdeutungen sollen den Leser auf zukünftige Geschehnisse oder Gefahren für die Protagonisten aufmerksam machen, (spätere) Wissenslücken proleptisch füllen oder entscheidende Wendungen der Handlung vorbereiten (kompletive Prolepse). Ein prägnantes Beispiel dafür ist Raschbams Kommentierung von Gen 1,1 (nachfolgend ein Ausschnitt), wo auch er die Frage Raschis aufnimmt, warum der Schöpfungsbericht verfasst wurde:

Raschbam zu Gen 1,1Dies ist das Prinzip seiner [des Textes] Erzählstruktur (iqqar peschuto) – ganz nach dem Muster des biblischen Ausdrucks, der für gewöhnlich Dinge vorwegnimmt und eine Sache erklärt, die für den unmittelbaren Sinnzusammenhang nicht relevant ist, aber an anderer Stelle (relevant wird). Wenn (z.B.) geschrieben steht: „(Die Söhne Noahs) (…) sind Sem, Ham und Jafet. Und Ham ist der Vater Kanaans“ (Gen 9,18), (so wird dieser letzte Halbsatz deshalb schon vorgezogen), weil es später (im Text) heißt: „Verflucht sei Kanaan“ (Gen 9,25). Und hätte er nicht schon vorher ausgeführt, wer Kanaan ist, so wüssten wir gar nicht, warum Noah (einen) Kanaan verflucht. (Oder) Da ging Ruben hin und schlief mit Bilha, der Nebenfrau seines Vaters. Israel hörte davon (Gen 35,22). Warum ist hier (schon der Satz) ‚Israel hörte davon‘ ausgeführt, wenn (gleichzeitig) aber an dieser Stelle nichts davon steht, dass Jakob irgendetwas zu Ruben gesagt hat? Vielmehr (muss dies an dieser Stelle erwähnt werden), weil er in der Sterbestunde zu ihm sagte: (…) brodelnd wie Wasser, der Bevorzugte sollst du nicht bleiben, denn du hast das Bett deines Vaters bestiegen, geschändet hast du damals mein Lager (Gen 49,4). Daher hat (der biblische Autor den Satz) ‚Israel hörte davon‘ vorgezogen, damit du [als Leser] dich nicht wunderst, wenn du siehst, dass er ihn am Ende seines Lebens (derart) tadelte. Und so ist es |89|an vielen Stellen (in der Schrift). Daher (verhält es sich auch an dieser Stelle so): Der ganze Abschnitt des sechstägigen Schöpfungswerkes ist von Mose, unserem Lehrer, vorangestellt worden, um dir [als Leser] zu verdeutlichen, was (gemeint ist, wenn) der Heilige, er sei gepriesen, sagte, als er die Tora gab: Gedenke des Schabbat, ihn zu heiligen (…) denn in sechs Tagen hat der Ewige Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er (…) (Ex 20,8–11) (…). Daher erwähnte Mose (das Schöpfungswerk) vor Israel, um ihnen kundzutun, dass das Wort Gottes die Wahrheit sei.

Nach Raschbam verfasste Mose den gesamten Abschnitt und gestaltete ihn unter rhetorisch-stilistischen Aspekten. Der Peschat* ist hier nicht einfach der Literalsinn, sondern das Prinzip des Aufbaus der Erzählung und des hier formulierten sprachlichen Ausdrucks. Inhaltlich war Mose als dem biblischen Autor hinsichtlich der Schöpfung allein die Gottesrede aus Ex 20,8–11 vorgegeben, die das sechstägige Schöpfungswerk erwähnt.

Gen 1 als literarische AntizipationDer erste Schöpfungsbericht ist also nicht deshalb im Sechs-Tage-Schema strukturiert, weil sich der Schöpfungsprozess so und nicht anders vollzogen habe, sondern allein aufgrund der (literarischen) Vorlage der Gottesrede in Ex 20, für die es nachträglich einen Schöpfungsbericht literarisch auszugestalten und der ‚eigentlichen‘ Geschichte Israels voranzustellen galt. Raschbam bietet für diesen Abschnitt wie auch für die anderen hier genannten Beispiele (ausnahmslos aus den narrativen Abschnitten der Genesis) den Terminus haqdama (*קדם hi.), das ‚Voranstellen‘, die literarische Antizipation. Dieser Bibelkommentar erhebt damit den Anspruch, dass sich die Tora mit Blick auf die Struktur der linearen Abfolge der erzählerischen Elemente (sequenzielle Struktur) auf der Ebene der Ereignisse und Handlungen (histoire) mit literaturtheoretischen Maßstäben messen lassen muss.

Auch Raschbams jüngerer Zeitgenosse R. Eli‘ezer aus Beaugency verfügt bereits über ein ausgearbeitetes literaturtheoretisches Vokabular, das er in der Vorrede zu seinem Kommentar zu Ezechiel einführt:

R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Ez 1Menschensohn! Mit deinen Augen sieh’ und mit deinen Ohren höre! Achte (gut) auf (Ez 40,4) die Sprache dieses Propheten, denn sie ist rätselhaft, unklar und in (sehr) verkürztem (Stil). Sogar unseren Rabbinen, Friede über ihnen, erschienen seine Worte aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Kürze als (Worte), die zu den Worten der Tora im Widerspruch stehen. Heute nun (will) ich (es) dir kundtun, um dir (anhand) der Eröffnung seines (Buches) seine Gedankenführung und seinen Sprachduktus [schitato we-sichato] zu erschließen.

Bei näherem Hinsehen zeigt R. Eli‘ezers Argumentation das gleiche Selbstbewusstsein wie Raschbam: Die Rabbinen hätten der Tatsache, dass die Sprache Ezechiels oftmals kryptisch und sehr verkürzt |90|sei, zu wenig Beachtung beigemessen und seien von daher zu einer dem Buch nicht entsprechenden Lesart gekommen, die sogar zu der Ansicht geführt habe, dass das Buch in bestimmten Teilen der Tora widerspreche (vgl. bHag 13a; bShab 13b; bMen 45a; bMak 24a). Ähnlich den von Raschbam propagierten „Peschat-Erklärungen, wie sie (jetzt) täglich neu aufkommen“, stellt sich auch R. Eli‘ezer als derjenige vor, der als erster in der Lage ist, das Buch Ezechiel exegetisch hinreichend zu erschließen. Ausschlaggebend für seinen Ansatz und Schlüsselbegriffe nicht nur in diesem ersten Absatz sind die Termini schita (Gedankenführung; System), sicha (Sprachduktus) und injan (literarischer Kontext). Die Erklärung dunkler Textpassagen und damit das rechte Verständnis des Buches beruhe also vor allem auf der Klärung der Sprachwelt Ezechiels.

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