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d. Glossensammlungen als neue Form literarischer Vermittlung

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Lateinische GlossensammlungenDer entscheidende Impuls der lateinischen Glossensammlungen liegt in der Neukonstituierung des Verhältnisses zwischen der Auslegung auf der Basis der Kirchenväter und ihrer Relation zur eigenen ratio. Das Neue ist also ein neuer Umgang mit dem Alten, wie es schon das Aachener Kapitular von 789 (Admonitio generalis) in Worte fasst: „Irrtümer verbessern – Überflüssiges heraustrennen – Richtiges einschärfen“ (Heil 2003a, 408). Die Rangfolge ist ganz klar: die auctoritas der Kirchenväter ist unangefochten. Entsprechend liest man noch bei Vincent von Beauvais im Prolog zu seinem Speculum maius (zw. 1244 und 1260): Ipsorum est igitur auctoritate, nostrum autem sola partium ordinatione (‚Bei ihnen liegt die [inhaltliche] Autorität, in unserer Verantwortung liegt lediglich die Reihenfolge der einzelnen Exzerpte‘). Dass allerdings gerade durch alt-neue Zusammenstellungen, Fragmentierungen und pseudepigraphische Zuschreibungen zum Teil etwas völlig Neues herauskam (und auch herauskommen sollte), steht dabei außer Frage.

Bis heute ist ungeklärt, ob die Juden überhaupt von der Existenz solcher Glossensammlungen wussten (zur Frage nach den Lateinkenntnissen der jüdischen Gelehrten vgl. im Folgenden Kap. 3.1.a.), weil es darüber keine direkten Zeugnisse von jüdischer Seite gibt. Dennoch scheint es schlechterdings unvorstellbar, dass diese wichtigen Entwicklungen der lateinischen Auslegungskultur, die sich räumlich im unmittelbaren Umfeld der jüdischen Zentren vollzogen haben, gar keine Spuren auf der jüdischen Seite hinterlassen haben sollten. Es wäre ja immerhin vorstellbar, dass mündliche Kontakte |55|soweit bestanden, dass man wenigstens von den Bemühungen der lateinischen Magister Kenntnis erlangte. Schließlich standen beide Parteien vor demselben Problem: Eine große Menge an Traditionsliteratur – auf der einen Seite die Kirchenväter, auf der anderen Seite die rabbinischen Quellen – sollte für die allgemeine Bildung und den Unterricht aufbereitet und auf das Wesentliche konzentriert dargeboten werden, und dies alles vor dem Hintergrund der sich auf beiden Seiten Bahn brechenden neuen theologischen Rationalität.

Hebräische GlossenkommentareVon den bereits erwähnten frühen Raschi-Manuskripten (MSS München Cod. hebr. 5; Wien Cod. hebr. 220; Leipzig B.H. fol. 1) zeigt nur MS Leipzig die äußere Form, die sich seit Raschis Zeiten für die nordfranzösischen Bibelkommentare sukzessive durchsetzen sollte. Diese Handschrift enthält den Bibeltext, den Targum*, masoretische Notizen (masora parva* und masora magna*) sowie unter dem Bibeltext den Kommentar des Raschi. Die anderen Handschriften bieten lediglich den Kommentartext als zentralen Haupttext, aber dies ist sicher eine spätere Entwicklung. Wiederum verweisen die älteren Einbandfragmente darauf, dass die biblischen Kommentare wohl schon früh an den Bibeltext angebunden wurden, sodass die mise-en-page eines Manuskriptes oftmals durch den biblischen Text und seine Kommentierung konstituiert war. Eine solche Folio*-Aufteilung zeigen auch einige der Qara-Handschriften. Wir können davon ausgehen, dass Raschi und seine Schule glossenartige Kommentare verfasst haben, die zunächst von Schülern auf Wachstafeln notiert wurden und zirkulierten, um dann später auch auf Pergament fixiert zu werden. Glossenkommentare setzen allerdings eine gebotene Kürze der exegetischen Notizen voraus, da nicht unbegrenzt Platz vorhanden war. Wer einmal ein Midraschwerk* (z.B. Midrasch Rabba oder Midrasch Tanchuma) aufgeschlagen hat, weiß, dass hier in epischer Breite eine Vielzahl möglicher Auslegungen zu einem Vers additiv geboten werden. Diese Form war nun nicht unbedingt darauf angelegt, sie im Unterricht ad hoc zu nutzen. Zudem war auch die Traditionsliteratur im 11. Jahrhundert zu einem Dickicht angewachsen, durch das eine Schneise zu schlagen dringend geboten schien. So waren diese ersten Kommentare von einem doppelten Anspruch geprägt: Inhaltlich sollte eine passende Erklärung zu einem Bibelvers geboten werden (peshat), bzw. sollte, wie im Falle Raschis, eine von ihm getroffene Auswahl an Midraschmaterial in einer Weise präsentiert werden, die den Schülern die Relationierung von Bibel und Midraschliteratur ermöglichte. Formal konnte eine solch kondensierte Form der Midrasch-Überlieferung problemlos dem Bibeltext beigesellt werden.

|56|Raschi als hebräische ‚Glossa Ordinaria‘Ein formaler Vergleich zwischen Raschi und den lateinischen Kompilatoren des 10./11. Jahrhunderts liegt deshalb nahe, unabhängig davon, in welchem Umfang den jüdischen Gelehrten die lateinischen Glossenkommentare selbst zugänglich waren. Hanna Liss hat in diesem Zusammenhang dargelegt, dass Raschis Kommentare durchaus als erste ‚jüdische Glossa Ordinaria‘ zu beschreiben und ihrem Anspruch nach wohl am ehesten mit der Media Glossatura des Gilbert von Poitiers (ca. 1080–1154) oder der Magna Glossatura des Petrus Lombardus (ca. 1100–1160) zu vergleichen sind (Liss 2011a, 35–55). Das Problem einer fluktuierenden Überlieferung und die Frage, ob und wenn ja, welcher ‚Autor‘ hinter den nordfranzösischen exegetischen Überlieferungen steht, betrifft insgesamt das Verhältnis Raschis zu seinem Schülerkreis, zu dem neben seinem Gefolgsmann und Chronisten R. Schema‘ja auch R. Josef ben Schim‘on Qara und vor allem seine Enkel R. Schemu’el ben Meïr (Raschbam) und R. Ja‘aqov ben Meïr (Rabbenu Tam) gehören. R. Josef Qara wurde bereits von Leopold Zunz und Abraham Berliner als Glossator vorgestellt. Dabei gingen sie davon aus, dass R. Josef weniger den eigentlichen Bibeltext als vor allem den Raschi-Kommentar kommentierte, und diese Meinung wird auch heute noch von einigen Kollegen vertreten. Man stützt sich dabei auf handschriftliche Textzeugen, in denen R. Josef Qara als מעתיק (ma‘atiq ‚Kopist‘) oder כותב (kotev ‚Schreiber‘) Erwähnung findet. Schwierig ist bei dieser Debatte, dass die hebräischen Manuskripte die einzelnen Tosafisten* nicht einheitlich benennen und nach wie vor keine Kriterien entwickelt wurden, nach denen sich entscheiden ließe, was denn von wem mit welchem Anspruch verfasst wurde (zum Ganzen zuletzt Lederer-Brüchner 2017, 45–60). Eine eindeutige Terminologie der Zuschreibungen, wie wir sie im lateinischen Mittelalter mit den Begriffen scriptor, compilator, commentator und auctor ausmachen können, findet sich in der hebräischen Kommentarliteratur nicht. Darüber hinaus ist die Zuordnung exegetischer Kommentierungen zu einzelnen Tosafisten auch deshalb schwierig, weil die auf uns gekommenen handschriftlichen Textzeugen die Glossen unterschiedlich präzisieren. Manche Glossen werden mit einem (Vor-)Namen versehen (‚R. Josef‘; ‚R. Schemu’el‘), andere nicht, und wieder andere überliefern ähnliche Glossierungen unter verschiedenen Namen (Liss 2016a). Der handschriftliche Befund verbietet allerdings vorschnelle Zuordnungen. Weitere Detailforschungen an jeder einzelnen Handschrift und jedem einzelnen biblischen Buch, wie zuletzt beispielhaft in dem umfangreichen Vergleich zu den Qara-Kommentaren zum Buch Rut von Ingeborg Lederer-Brüchner (Lederer-Brüchner 2017), sind hier erforderlich. Der Zugang zu den exegetischen Glossen vermittels des Manu|57|skriptes kann überdies den Blick für Dinge schärfen, die bislang in der Bearbeitung der Glossen unberücksichtigt geblieben sind. Dazu gehören auch die Buch-‚formen‘ (einschließlich mise-en-texte und mise-en-page), das Layout der Glossen oder die Schreibrichtung (dazu ausführlich Liss 2018b).

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