Читать книгу Virginia Rose - Hanna Marten - Страница 4

Kapitel 2

Оглавление

Der Wecker an jenem Samstagmorgen klingelte schrill. Julian überhörte ihn absichtlich und zog sich stattdessen die Bettdecke über den Kopf. Von unten ertönte das Klirren von Geschirr und Julian schob die Decke widerstrebend wieder nach unten, um zu lauschen.

Kurz darauf war das vertraute Surren der Geschirrspülmaschine zu hören. Es war Diane, die das benutzte Frühstücksgedeck seines Vaters bereits vom Tisch geräumt hatte. Seit Julian neun Jahre alt war, arbeitete George Thierney wie um sein Leben. Als berühmter Nachrichtensprecher eines angesehenen Dubliner TV-Senders war er mehr oder minder mit seiner Arbeit verheiratet.

Seit dem Tod von Julians Mutter vor acht Jahren entfremdete sich Julian Jahr für Jahr mehr von dem Mann, der ihm als Kind einst ein liebevoller Vater gewesen war. Seitdem kümmerte sich Diane um den Haushalt, eine engagierte Witwe Mitte fünfzig, die George zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau engagiert und die sich auch um Julian gekümmert hatte. Just in diesem Moment klopfte es kräftig an Julians Zimmertür und Dianes Stimme erklang energisch: „Jules, du kommst zu spät zu deiner Besprechung für die Kultur-Woche, wenn du nicht augenblicklich aufstehst!“ Schritte entfernten sich und polterten die Treppe hinunter.

Julian seufzte und schob die Beine aus dem Bett. Die Kultur-Woche, natürlich. Wäre es nach Julian gegangen, hätte er sich diesen Samstag lieber entspannt in die Fluten gestürzt, um für die nächste Meisterschaft zu trainieren.

„Weißt du, warum ich bei diesem öden Blödsinn mitmache?“, fragte Julian, als er frisch geduscht und angezogen ins Wohnzimmer trat und seine Tasche auf einen der Stühle am Esstisch fallen ließ.

Diane, die damit beschäftigt war, ihm Tee einzuschenken, runzelte die Stirn und lächelte beschwingt. Sie setzte die Teekanne ab und sah ihn an. „Du sagtest, es wäre für eine zusätzlich gute Note von Vorteil. Hat sich daran etwas geändert?“

Julian nahm sich einen Toast und griff zum Marmeladenglas. „Das ist es, aber von zusätzlichen Stunden war am Anfang nicht die Rede.“

Diane blinzelte und setzte sich ihm gegenüber. „Glendalough ist eine herrliche Gegend und von kultureller Bedeutung. Du wirst es bestimmt nicht bereuen.“

Julian antwortete nicht, sondern ließ sich sein Frühstück schmecken, bis Diane schließlich aufstand und das Wohnzimmer verließ. Als sie zurückkehrte, verschluckte sich Julian beinahe an seinem Tee: Sie hielt eine Jeansjacke in den Händen. „Du hattest gestern Abend Besuch?“, fragte die Haushälterin spitz.

Julian nahm sich ausreichend Zeit, um ihr zu antworten. „Leslie war gestern hier. Wir haben …“, doch Diane hob die Hand, um ihn zu unterbrechen.

„Ich möchte es nicht genauer wissen. Es hat mich interessiert, für welches Mädchen ich diese Jacke vor deinem Vater verstecken musste. Doch Leslie kenne ich immerhin, seit ich dich kenne.“ Ein diebisches Grinsen schlich sich auf ihr Gesicht und Julian atmete erleichtert aus.

„Ich glaube, sie hat die Jacke aus Versehen hier vergessen. Und verheimlichen wollte ich es vor Dad ganz sicher nicht!“, stritt er ab.

Diane legte die Jacke über die Stuhllehne neben ihm. „Denkst du, ich habe die offene Weinflasche in der Abstellkammer nicht bemerkt? Jules, du wirst zu deinem Dad keine vernünftige Beziehung aufbauen können, wenn du ihm ein festes Verhältnis zu einer Freundin verheimlichst.“

Julian verdrehte die Augen. „Hör mal, Di, es ist wirklich nett von dir, dass du dich um meine nicht vorhandene Beziehung zu Dad sorgst, aber ich muss jetzt wirklich los.“ Er stand auf, packte seine Tasche und verließ fluchtartig das Haus, ohne Diane noch einmal zu Wort kommen zu lassen.

Die Haustür knallte hinter ihm zu und er lehnte sich einen Moment daran an. Er bereute es, Diane so behandelt zu haben. Doch sie war nicht seine Mutter. Julian machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Keine hundert Meter links von ihm erstreckte sich der Atlantik, dessen Wellen auf dem Strand ausrollten. Das Rauschen ließ Julian wieder und wieder innehalten, doch die Zeit, die er hier verbrachte, würde ihm später in der Besprechung für die Kultur-Woche fehlen.

„Du bist zu spät.“

Seine drei Mitschüler Brian, Leslie und Jack saßen bereits an einem Tisch in der städtischen Bibliothek. Brian war ein Sportler, genau wie Julian, nur hatte er sich auf Football fixiert, während Julian sich dem Schwimmen widmete. Brian war kräftig gebaut, hatte einen Kurzhaarschnitt und kleine wässrige Augen.

Jack, der neben Brian wie ein Strich wirkte, war Klassensprecher und Kandidat für diverse Stipendien. Er war der schlaue Kopf der Kultur-Gruppe: Rollkragenpullover, Jeans, Brille und picklige Haut waren typische Merkmale und sein Pfirsich-Deo roch man meilenweit.

Leslie, die Julian bei seinem Eintreten ermahnt hatte, war das einzige Mädchen. Sie hatte schulterlanges dunkelblondes Haar und braune Augen, die hinter einer sündhaft teuren Brille zu Julian aufblickten.

Ihre Eltern waren Professoren und lehrten am Trinity College in Dublin. Wie Julian kam auch sie aus wohlhabenden Verhältnissen. Alle vier kannten sich bereits seit Kindertagen und hatten sich seitdem nie aus den Augen verloren.

„Sorry, Leute, aber ich habe verpennt“, sagte Julian und setzte sich neben Jack.

„Alter, diese Woche wird verdammt wichtig für uns. Leslie hat es immerhin auch geschafft, pünktlich zu sein“, bemerkte Brian und verschränkte die Arme vor seinem Poloshirt.

Julian warf Leslie einen misstrauischen Blick zu und das Mädchen lächelte, ohne hochzusehen.

„Danke, Les. Genau das, was ich gebraucht habe“, sagte er mit einem spöttischen Unterton und sah stattdessen auf den Tisch, wo sich ein Sammelsurium an Informationen über die Klostersiedlung Glendalough erstreckte.

Das Ziel der Gruppe war es, die Klostersiedlung während der kommenden Woche mit ihrer Schulklasse zu besuchen und in Kleingruppen die historische Entwicklung und Geschichte des Ortes zu erforschen.

Hierbei sollten die vier gemeinsame Touren und erste Informationen sammeln und für ihre Mitschüler zu mehreren Rallyes zusammenfassen. So lautete der enthusiastische Wunsch ihres Geschichtsdozenten, Mr. O’Neill. „Gut, bringen wir es hinter uns. Sind das die Wanderwege rund um die Siedlung, Jack?“

Nachdem sie vier verschiedene Touren, historische Fakten und ein Miniaturmodell der Siedlung geplant hatten, zerstreuten sich die Mitglieder in die Abteilungen der Bibliothek.

Julian hatte sich über die alten Zeichnungen der Klostersiedlung gebeugt, als Leslie sich neben ihn setzte.

„Entschuldige bitte. Ich habe Brian und den anderen nichts erzählt. Ich war gestern Abend bei dir, um meine Biologie-Ergebnisse abzuholen. Das war alles.“

Julian blickte auf. „Diese Geschichte hat dir Brian vielleicht abgekauft, aber nicht Jack. Wir kennen uns doch seit dem Kindergarten. Sicher vermuten beide längst, dass etwas zwischen uns läuft.“

Leslie stützte sich mit beiden Ellbogen auf dem Tisch ab und musterte die Broschüren. „Vielleicht sollten wir das während des Projekts … zurückstellen, meinst du nicht? Ich denke, für alle von uns geht es um eine zusätzliche Note für den Abschluss in diesem Sommer. Brian wird Football-Star, Jack der nächste Einstein und ich möchte endlich in die Staaten. Aber was willst du machen, wenn du den Abschluss in der Tasche hast?“

Julian sah sie an. Leslie wollte seit ihrer Kindheit raus aus Irland, die Welt entdecken und an einer renommierten Universität in den USA Jura oder Politikwissenschaften studieren. Sie alle hatten ihren festen Plan im Leben. Doch Julian war anders. Er hatte schon immer in der Gegenwart gelebt, hatte sich auf gute Noten und das Schwimmen konzentriert, jedoch nie größere Pläne als einen erfolgreichen Schulabschluss im Sinn gehabt. Seine Freunde waren ihm wichtig und Jack hatte ihm einmal gesagt, dass er sich gut als Lehrer eignen würde, da er Einfühlungsvermögen und Geduld besaß. Wo er diese Eigenschaften bei Julian bemerkt hatte, wusste er selbst nicht so ganz. Vermutlich an einem besonders langen Abend in Temple Bar.

„Weißt du, Les. Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Aber das mit dem uns klingt gut, das sollten wir unbedingt tun.“

Er hatte es nicht so forsch ausdrücken wollen, doch es war zu spät: Leslie sprang auf und verschwand schnellen Schrittes hinter den Bücherregalen. Vermutlich hatte sie sich mehr erhofft, als er gestern Abend beabsichtigt hatte, ihr zu zeigen.

Sie hatte ihm zugehört, es tat gut, mit ihr zu reden. Doch Julian war nicht der Typ, der ein flüchtiges Abenteuer einging. Von Leslie wusste er, dass sie außerhalb ihrer Clique bereits einige Verabredungen gehabt hatte und die Jungs buchstäblich Schlange standen.

Er seufzte tief und erhob sich. Eine Hand legte sich auf seine Schulter.

Es war Jack, der die Szene mit Leslie scheinbar mitbekommen hatte. „Was ist passiert?“, fragte er. Julian sah auf die Bücherregale, die Leslies Gestalt verbargen.

„Nichts von Bedeutung“, antwortete er knapp. Jack, dessen buschige Augenbrauen sich bei jedem Denkvorgang zusammenzogen, rückte seine Brille zurecht und ließ ihn los.

„Julian, wir kennen uns seit fünfzehn Jahren. Brian hat schon unsere Sandburgen kaputtgemacht, bevor wir laufen lernten. Du benimmst dich seit Tagen so seltsam. Was ist in letzter Zeit mit dir los?“

Doch Julian war nicht in Stimmung für ein vertrauliches Gespräch, während ringsherum Brian und Leslie dem Projekt nachgingen.

„Erzähle ich dir ein andermal, Jack. Danke.“ Er lächelte und ließ seinen Freund am Tisch zurück.

„Weißt du, Jules, wir sollten hinfahren!“, rief Jack ihm hinterher.

Julian blieb wie angewurzelt stehen. „Was? Wohin?“

Jack deutete mit dem Zeigefinger auf den Tisch. „Nach Glendalough. Ruf Brian und Leslie zusammen.“


Virginia Rose

Подняться наверх