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Kapitel 5

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Zwei Stunden zuvor


„Du siehst furchtbar aus, wenn ich dir das so offen sagen darf“, bemerkte Brian, als er mit Jack auf dem Beifahrersitz am nächsten Morgen vor Julians Haus vorfuhr. Julian warf seinen Rucksack auf die Rückbank und knallte die Tür neben sich zu.

„Frag besser nicht“, sagte er und schnallte sich an. Brian betrachtete ihn einen Moment lang aus dem Rückspiegel und fuhr schließlich an.

„Hat O’Neill dir auf unsere Anfrage geantwortet? Befürwortet er unsere Übernachtung in Glendalough?“, fragte Julian, um von dem Thema seiner schlechten Laune abzukommen.

Jack, der selbst im Wagen seinen Laptop auf dem Schoß hatte, warf einen Blick auf den Bildschirm.

„Ja, er ist über unseren Einsatz für das Projekt sehr angetan und hat uns versichert, dass er morgen mit dem Rest der Klasse zu uns stoßen wird. Er wünscht uns eine effektive und lehrreiche Vorbereitungszeit“, antwortete er.

Julian schnaubte. „Langweilig wäre der passendere Ausdruck dafür.“ Brian warf ihm erneut einen kritischen Blick zu.

„Jetzt mach mal halblang, Jules. Das wird schon nicht so übel werden. Das Hotel soll sehr nobel sein und wann finanziert uns die Schule schon mal einen Abstecher? Wir feiern richtig ab, was hältst du davon?“, fragte er.

Julian zuckte mit den Schultern. „Hauptsache, es lenkt von dem öden Thema um diese Klostersiedlung ab.“ Nachdem die drei in der Innenstadt Leslie eingesammelt hatten, steckte Julian sich Ohrstöpsel ein und hörte die restliche Fahrt über dröhnende Bässe.

Nach einer Stunde, als er bemerkte, dass der Wagen langsamer wurde, öffnete er die Augen: Brian hatte am Straßenrand angehalten. „Was ist denn los?“, fragte Julian an Leslie gewandt, die ein Prospekt über Glendalough aufgeschlagen hatte.

„Irgendein Problem mit der Unterkunft“, antwortete sie und Julian beugte sich zu Jack nach vorne. „Was ist es?“

Doch es war Brian, der wütend antwortete:

„Es gab wohl einen Tippfehler unseres reizenden Dozenten! Er hat uns in das Glendalough Hostel eingebucht und nicht in das Glendalough Hotel!“

Julian schluckte und unterdrückte einen Lachanfall. „Ist das Hostel etwa eine Bruchbude?“, fragte er.

Brian schlug mit beiden Händen auf das Lenkrad.

„Ist es, Jules, darauf kannst du dich verlassen! O’Neill kann mich mal, ich übernachte nicht in einer billigen Absteige mit Stockbetten und Gemeinschaftsbädern!“

Jack, der neben ihm saß, räusperte sich vernehmlich.

„Beruhige dich, Brian.“

„Was glaubst du denn, warum ich angehalten habe?!“, fuhr Brian ihn an, sodass Leslie sich nun einmischte. „Jungs, das hat doch keinen Sinn. Brian, geh ein paar Runden oder jogge ein paar Meter voraus und wir sammeln dich wieder ein. In deiner Verfassung kannst du nicht fahren.“

Brian wandte sich zu ihr um. „Niemand außer mir fährt diesen Wagen, das habe ich meinem Dad versprochen, Les.“ Er ließ den Motor wieder an und fuhr weiter die Landstraße entlang, die sie vor zehn Minuten von der Autobahn aus erreicht hatten und die sie nun hinauf in die Wicklow Mountains führte. Die restliche Fahrt über verbrachten die Freunde in Schweigen.

Jack rief einmal in dem von Mr. O’Neill gebuchten Hostel an, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich eine Buchung für sie vorlag, wobei sich Brians Gesicht mehr und mehr verdüsterte. Julian wusste, dass Brian mehr als seine anderen Freunde Wert auf Statussymbole und Luxus legte.

Sein Ehrgeiz zeigte sich nicht nur in seinen sportlichen Leistungen, sondern auch in dem festen Vorhaben, das zu bekommen, was er wollte. Manchmal auch durch hitzköpfiges und aufbrausendes Verhalten, weshalb sich sowohl Julian als auch Leslie Sorgen machten, Glendaloughs Klostersiedlung in einem Stück zu erreichen.

„Hm, mit dem Wetter scheinen wir kein Glück zu haben“, sagte Leslie nach einer Weile, als sie nur noch wenige Minuten bis zu ihrem Ziel hatten und das Navigationsgerät sie über eine Brücke leitete.

„Wen kümmert schon das Wetter? Dieser ganze Tag ist Zeitverschwendung!“ Brian trat auf das Gas und von Weitem konnte Julian bereits den Rundturm der Siedlung erkennen. Hinter den Bergen stiegen graue Wolken auf.

„Brian, bitte fahr langsamer, hier ist schon der Busparkplatz“, murmelte Jack neben ihm.

„Beruhige dich, Jack, hier ist kein Mensch!“, erwiderte Brian und sah dabei zu lange seinen Beifahrer an, sodass er nicht bemerkte, was Julian und Leslie sehen konnten: Rechts erstreckte sich die weiße Fassade des Glendalough Hotels, das direkt an den Bach angrenzte, den sie überquert hatten. Eine Gestalt kam aus der Tür gerannt, das lange rote Haar flatterte im Wind.

„Stopp, Brian!“, schrie Julian, doch es war zu spät: Brians Fuß drückte die Bremse durch, ein dumpfer Knall war zu hören, gefolgt von einem Ruck, der den Stillstand des Autos besiegelte. Julian erkannte eine Frau, für den Bruchteil einer Sekunde schien sie direkt in seine Augen zu sehen. Sie war jung, nicht viel älter als er, und hatte lange braunrote Haare, die ihr in wirren Locken über den Rücken hinabreichten.

Ihre Augen weiteten sich für einen Moment, als sie das Auto bemerkte, doch dann wurde Julian von dem Ruck nach vorne und das Mädchen aus seinem Blickfeld gerissen.

Die Stille danach war schlimmer als alles, was Julian je empfunden hatte. Alle vier saßen sie stockstarr in dem Auto und rührten sich nicht, bis Julian schließlich den Sicherheitsgurt löste und tief einatmete. „Jack, ruf einen Rettungswagen und die Polizei.“ Wie in Trance tastete er nach dem Griff der Tür und öffnete sie. In diesem Moment hörte er ein leises Schluchzen, das von Leslie zu kommen schien, doch er musste wissen, ob er sich das Mädchen nicht nur eingebildet hatte. Aber er kam einfach nicht vom Fleck. Obwohl er um das Auto herumlaufen und nachsehen wollte, schaffte er es nicht. Als würde etwas in ihm sich gegen das, was vermutlich auf der anderen Seite wartete, sträuben. Da machte Brian die Fahrertür auf und sprang heraus, das Gesicht leichenblass.

Er sah Julian an. „Ich habe sie einfach nicht kommen sehen“, sagte er und starrte dabei auf Julians Knie.

Julian ging an seinem Freund vorbei um den Wagen herum – und dort war niemand.

Julian blinzelte und ging ein paar Schritte weiter, sodass er den ganzen Wagen von einer übersichtlichen Position heraus im Blick hatte. Vom Hotel her kamen Leute in ihrer Dienstuniform herbeigeeilt. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte ein Mann mit beginnender Glatze und dem Anstecker mit den gekreuzten Schlüsseln nach zu urteilen der Empfangschef.

Julian schluckte. „Wir dachten, wir hätten etwas angefahren.“

Der Empfangschef sah auf das Auto und schließlich auf Brian, der nun ebenfalls um die Motorhaube herumkam.

„Nun, offenbar haben Sie den Stein hier gestreift, sehen Sie? Ihr Lack ist abgeschliffen und eine ordentliche Delle hat Ihr Wagen ebenfalls davongetragen.“ Julian erkannte erst jetzt den Stein, der neben dem Weg stand und der das Auto fast berührte.

Direkt über dem linken Licht war eine Delle eingedrückt und der Lack abgerieben, wie der Empfangschef richtig erkannt hatte.

Doch das war nicht der Stein. Nur … wo war das Mädchen? Julian sah sich um, während der Empfangschef und weitere Angestellte auf Jack und Leslie einzureden begannen, die nun ebenfalls den Wagen verließen. Julian trat näher an die Stelle heran, die der Stein allem Anschein nach in den Lack gedrückt hatte. Doch da war weder Blut noch eine andere Spur. Julian sah sich nach Brian um, der die Arme verschränkt hatte und dem Empfangschef den Vorfall erklärte: Bildete er es sich nur ein oder hielt Brian ebenfalls Ausschau nach dem, was er glaubte, überfahren zu haben?

Für Julian stand eines fest: Er hatte sich das Mädchen nicht eingebildet.

Nachdem der herbeigerufene Krankenwagen und die hinzugezogene Polizei erschienen waren, nahmen sie alle Aussagen der Teenager auf. Und alle vier sagten, was sie den Tatsachen gemäß nach dem Unfall gesehen hatten: Sie hatten etwas ihnen Unbekanntes gerammt und Brian hatte gebremst. Zunächst nicht sicher, ob sie ein Lebewesen erwischt hatten oder nicht, hätten sie sich darüber geeinigt, auch einen Krankenwagen zu rufen.

Nach einer Stunde, als die Wagen der Beamten den Parkplatz des Hotels verlassen hatten und Brian mit seinem Vater am Telefon besprochen hatte, den Wagen abschleppen zu lassen, stand Julian allein neben dem Stein und starrte auf die Bremsspuren, die der Wagen hinterlassen hatte.

Seinen Rucksack hatte er sich über die Schultern geworfen.

„Hey Julian.“ Brian kam auf ihn zu und er sah ernster aus als sonst.

„Hallo“, begrüßte ihn Julian forsch. Er fühlte sich durcheinander und unwohl. Obwohl die Sonne auf die Straße schien und ihn wärmte, war ihm elend zumute.

Brian blieb neben ihm stehen. „Abgesehen davon, dass Dad mir die Hölle heißgemacht hat wegen des Autos, bin ich froh, dass sonst nichts weiter passiert ist“, sagte er.

Julian starrte ihn an: Brians Blick war genauso intensiv wie seiner. „Du hast sie auch gesehen, habe ich recht?“, fragte Julian. Er kannte Brian und wusste, dass er es nicht abstreiten würde, wenn er ihn direkt danach fragte.

Und tatsächlich nickte er. „Das habe ich. Doch dann habe ich mir gedacht, ich hätte mir das nur eingebildet. Jules, du hast selbst gesehen, dass da niemand war! Es kann sich niemand in Luft auflösen!“

„Und genau DAS ist der Grund, warum ich mir sicher bin, dass sie tatsächlich da war. Du hast sie dir nicht eingebildet. Wir haben sie unabhängig voneinander gesehen“, erwiderte Julian hartnäckig.

Brian winkte ab. „Hör zu, für mich ist das Thema erledigt. Du solltest erst mal runterkommen. Les und Jack machen unsere Zimmer hier klar. Ich zahle. Dafür, dass ihr die Wahrheit gesagt habt.“

Julian blinzelte. „Wir sind Freunde, das weißt du. Was hätten wir anderes tun sollen?“

Brians Augen verengten sich.

„Nun ja, Freunde versuchen nicht, einander ein Problem anzuhängen, das niemals existiert hat.“

Julian hielt dem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. „Lass gut sein, Brian. Tut mir leid wegen des Wagens und danke, dass du die Rechnung übernimmst“, lenkte Julian ein.

Brians ernste Miene hellte sich ein wenig auf. „Kommst du mit rein? Ich traue Jack nicht wirklich zu, dass er uns gute Zimmer besorgen kann. Wenn es nach ihm geht, hat er eine Abstellkammer mit WLAN-Anschluss.“

„Ich komme gleich nach“, versprach Julian und Brian ging den gepflasterten Weg entlang und verschwand durch die Tür des verglasten Restaurants, das zum Hotel gehörte. Julian hätte Brian niemals die Wahrheit gesagt, wenn es darum ging, seinen Freund polizeilichen Ermittlungen auszusetzen.

Dort, wo der Wagen zum Stehen gekommen war, trocknete die Straße und der Beton färbte sich hellgrau. Julian sah sich um:

Einzelne Busse fuhren nun den Parkplatz an, mehrere Reisegruppen stiegen aus, besprachen sich und wanderten am Hotel vorbei auf die Siedlung zu. Vielleicht hatte Brian recht gehabt und es war besser, die Sache ruhen zu lassen.

Entgegen Brians Annahme hatte Jack es tatsächlich geschafft, für sie alle komfortable Zimmer zu bekommen, die nebeneinander lagen.

Sie verabredeten sich zunächst für später, da ihnen allen der Schock noch in den Knochen lag.

Doch was sie nicht wussten, war, dass sie beobachtet wurden.


Virginia Rose

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