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Kapitel 4

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An diesem Abend saß Julian in Abbey’s Tavern in der Nähe des Hafens und trank sein fünftes Glas Cola, als Jack durch die Tür kam. Seinem geduckten Gang nach zu urteilen, waren Pubs nicht seine Welt, schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit.

Nachdem er vorgeschlagen hatte, am morgigen Sonntag als Gruppe nach Glendalough zu fahren, hatte er Leslie und Brian zusammengetrommelt, die, wenn auch widerstrebend, zusagten. Julian, der seine Freunde nicht hängen lassen wollte, willigte auch ein. Doch Jack hatte recht mit dem gehabt, was er zu ihm gesagt hatte, auch wenn Julian es lange nicht wahrhaben wollte: Er hatte sich in letzter Zeit verändert und nun litten seine Freunde, vor allem Leslie, darunter: an seiner gereizten Stimmung und der Abweisung, mit der er sie seit Tagen behandelte.

„Hey“, begrüßte Julian seinen Freund, als er sich zu ihm an den Tisch setzte.

„Sorry, aber ich habe mich auf dem Weg hierher zweimal verfahren“, sagte Jack wutschnaubend und hievte seine Laptoptasche auf den Stuhl neben sich.

„Kein Problem. Die Band ist super und es lohnt sich, Trinkgeld zu geben“, bemerkte Julian unwirsch.

Jack bestellte sich beim Kellner ebenfalls eine Cola und sah Julian gespannt an. „Also, raus damit, Kumpel. Wo brennt es?“

Julian seufzte. „Mein Vater …“, setzte er an, doch Jack hob die Hand. „Ich weiß, dass es unhöflich ist, dich so zu unterbrechen, aber ich muss es tun. Ist das ein Problem, wobei ich dir wirklich helfen kann? Ich meine, du hattest bereits einige Schwierigkeiten mit deinem Alten, den du höchstens zu den Feiertagen und in der Glotze in den Nachrichten zu Gesicht bekommst. Meiner Erfahrung nach solltest du, egal worum es sich handelt …”

„Diane hat vor ein paar Tagen ein Ultraschallbild in seiner Wäsche entdeckt“, fuhr Julian ihm dazwischen. Jack blieb mitten im Wort die Luft weg.

„Und es war definitiv nicht meins, es war vom achtundzwanzigsten Februar“, fügte Julian an. Jack nahm sein Glas zur Hand, das ihm der Kellner gebracht hatte, und trank ein paar kräftige Schlucke.

„Das ist unfassbar unangebracht“, brachte Jack schließlich hervor. Julian lachte säuerlich und hob sein Glas ebenfalls.

„Darauf trinke ich.“ Er leerte sein Glas und stellte es wieder ab. „Er hat weder erwähnt, dass es eine Frau in seinem Leben gibt, noch hat er es für nötig befunden, mich einzubeziehen. Welchen Schluss kann ich sonst daraus ziehen, als dass ich ihm egal bin, Jack?“

Sein Freund schob sich die Brille ein Stück die Nase hoch und schien nachzudenken. „Rede mit ihm, egal wie du es anstellst. Ruf beim Sender an, nerve seine Assistentin bis zum Umfallen. Du bist sein Sohn, mache es ihm klar. Er kann sich mit seinen fünfundvierzig Jahren nicht vor dir verkriechen, er ist ein bekannter Nachrichtensprecher und nicht der Papst.“

Julian schnaubte. „Den Tag streiche ich mir rot im Kalender an.“

„Jules, wenn du den morgigen Tag nutzen willst, um mit deinem Vater zu sprechen, dann verstehen wir das. Gut, Brian wird sowieso die halbe Klostersiedlung umrennen, um seine Schnelligkeit zu trainieren, aber schließlich kann er sich dabei wieder abreagieren, dass du nicht dabei bist.“

Julian schüttelte mit dem Kopf. „Nein, auf keinen Fall. Ich begleite euch, denn wer soll schließlich die Rallye-Touren für unsere Klasse ablaufen? Brian rennt alles klein und Leslie gibt nach zehn Metern schon auf, weil ihre Schuhe das nicht mitmachen. Was du von Sport hältst, wissen wir beide.“

„Na schön. Aber schicke ihm wenigstens eine Nachricht auf sein Privathandy. So weiß er auf jeden Fall, dass es dir wichtig ist. Und apropos Leslie …“, fing Jack an, doch Julian zückte bereits sein Handy und schrieb: Wir müssen reden, es ist wichtig. Heute Abend? Julian.

Als er sein Handy wegsteckte und aufblickte, sah er in Jacks grinsendes Gesicht. „Was? Sie ist meine beste Freundin, das weißt du. Keine Ahnung, was sie dir erzählt hat, aber gestern ist nichts passiert. Wir haben geredet, wir haben Dads sündhaft teuren Wein aufgemacht und dann ist sie wieder gegangen, bevor er uns mit der Flasche erwischen konnte.“

Jacks Grinsen verblasste etwas. „Wie jetzt? Kein Geknutsche oder Gefummel? Du enttäuschst mich, Mann. Sie ist bald auf und davon und das kümmert dich nicht? Wenn du so weitermachst, schnappt sie sich noch einen eingebildeten Millionenerben aus den Hamptons.“

Julian zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, du siehst das zu wissenschaftlich. Leslie ist nicht dumm, sondern klug, und sie weiß genau, was sie will.“

Jack hob eine Hand und deutete auf Julian. „Stimmt genau und das bist du. Wie lange willst du noch so tun, als würdest du es nicht sehen?“

Julian schüttelte mit dem Kopf. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dafür bereit bin. Der Ärger mit meinem Vater und dieses Projekt, für das wir von O’Neill schon ein Wunder vollbringen müssen, um dem gerecht zu werden, was er will.“ Er winkte den Kellner heran und bat um die Rechnung.

Jack trank sein Glas ebenfalls aus und packte seine Tasche.

„Finde es heraus! Was hast du schon zu verlieren? Leslie weiß, was bei dir los ist und wird sicher nicht so unsensibel sein und dich mit irgendeiner ihrer Vorstellungen überfahren. Außerdem ist Glendalough unheimlich romantisch.“ Jack stand auf und warf sich die Tasche um die Schulter. „Wenn man auf Grün und die Natur steht.“

Julian seufzte. „Ich definitiv nicht. Aber danke, dass du mir zugehört hast. Es ist eine völlig verrückte Situation und ich hoffe, Dad wird mir endlich zuhören. Seit Mums Unfall hat er sich aus unserer Familie verabschiedet. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er überhaupt noch an sie denkt.“

Jack kam um den Tisch herum und klopfte ihm auf die Schulter.

„Hey, ich habe deine Mum und deinen Dad gemeinsam noch sehr gut in Erinnerung. Er war großzügig und witzig und deine Mum war liebenswert und eine Meisterin des Schnitzens und der Malerei. Ich weiß noch, wie sie mit uns dieses gigantische Kanu aus einem Baumstamm hergestellt hat. Dein Dad muss sie sehr vermissen, aber das braucht Zeit. Rede mit ihm, okay?“

Julian nickte. „Ich bin bereits gespannt, was er dazu zu sagen hat.“

Jack zuckte mit den Schultern. „Abstreiten kann er es nicht, schließlich war es in seinen Sachen und Diane ist die treueste Seele der Erde, wie du berichtet hast. Wie auch immer. Brian fährt mit dem Auto seines Vaters und sammelt uns alle ein. Sei pünktlich. Um unser aller Nerven willen.“

Es war kurz vor acht am Abend, als Julian durch die Haustür trat.

Seine Nachricht an seinen Vater war unbeantwortet geblieben, daher wunderte es ihn, dass Licht im Wohnzimmer brannte und der Fernseher lief. Normalerweise arbeitete George selbst während einer Schicht am Vormittag bis in die späte Nacht hinein, um zu recherchieren, Telefonkonferenzen zu führen oder seine Praktikanten herumzuscheuchen. Julian ließ Tasche und Jacke am Fuß der Treppe liegen und ging den Flur entlang ins Wohnzimmer.

George Thierney saß am Esstisch vor seinem Laptop. Rings um sich herum hatte er mehrere Papiere ausgebreitet. Er trug noch Hemd und Krawatte und hatte sein Jackett über die Stuhllehne gehängt. Julian hatte das haselnussbraune Haar seines Vaters und seine hohen Wangenknochen geerbt.

Georges Augen jedoch waren grau und blickten konzentriert auf den Bildschirm, während seine Stirn gerunzelt war.

„Hi, Dad“, begrüßte Julian ihn und ging zu ihm. „Hast du meine Nachricht bekommen?“ George hielt in seinem Tippen inne und sah zu seinem Sohn auf. „Oh, nein, mein Handy ist im Wagen. Jede Menge zu tun. Was es auch war, es muss bis morgen warten, ich habe Berge von Arbeit.“ Julian warf einen Blick auf den Bildschirm:

Es waren mehrere Zeitungsartikel, die alle jeweils ein anderes Foto einer jungen Frau zeigten. Mal mit einem Mann, der aussah, als sei er ihr Ehepartner, mal beim Einkaufen oder während einer Rede.

„Dad, es ist wichtig. Mir ist es wichtig“, fuhr Julian fort.

George, der seine Tipparbeit wiederaufgenommen hatte, antwortete seinem Bildschirm: „Junge, ich bin beschäftigt.“

Weiter kam er nicht: Julian packte den Laptop, schob ihn ein Stück nach hinten und schlug ihn zu.

Bevor George mehr tun konnte als aufzuspringen und ihm einen empörten Blick zuzuwerfen, hatte Julian das Ultraschallbild auf den Tisch geworfen. „Erklär mir das, Dad! Deine Arbeit ist mir egal! Diane hat das unter deinen Sachen gefunden!“

George starrte das Bild wie vom Donner gerührt an. An seiner Schläfe pochte eine Ader, sein Atem ging schwer.

Julians ganze Enttäuschung brach aus ihm heraus. „Wann wolltest du mir davon erzählen? Oder bin ich dir tatsächlich so egal?!“

George Thierney seufzte schwer und nahm das Bild in die Hand. „Dieses Bild, Julian, ist weder von mir noch von einer Frau, die ich kenne! Bevor du mit solchen Anschuldigungen auf mich zukommst, solltest du mich fragen.“

Julian verschränkte die Arme. „Was glaubst du, was ich gerade versucht habe? Du wolltest mir nicht zuhören!“

George schluckte und sah das Bild an. „Dieses Bild ist Teil einer Kampagne gegen Abtreibungen, über die ich berichte. Die Redaktion hat eine Menge solcher anonymen Fotos ausgegeben und mir scheint eines zwischen die Akten gerutscht zu sein. Dieses Bild steht in keinerlei Verbindung zu mir.“

George legte das Foto zurück auf die Tischplatte. „Und jetzt lass mich bitte weiterarbeiten. Wir können gern morgen noch einmal darüber sprechen“, sagte er und setzte sich wieder.

Julian kochte vor Wut. „Genau das meinte ich: Dir ist nicht einmal klar, dass ich morgen nach Glendalough fahre. Vor einer Woche habe ich dir erzählt, dass ich mit meinen Freunden an einem historisch-wissenschaftlichen Projekt arbeite und dir heute Vormittag geschrieben, dass ich morgen dorthin fahre. Aber die Arbeit ist dir natürlich wichtiger, wie konnte ich das vergessen!“

Er verließ das Wohnzimmer im Laufschritt, ohne seinen Vater noch einmal zu Wort kommen zu lassen. Was ihn am meisten verletzte, war nicht, dass er selbst falschgelegen hatte, sondern die Gleichgültigkeit, mit der sein Vater ihn behandelte:

Er hatte nicht einmal die Miene verzogen oder Bedauern darüber gezeigt, dass er am Leben seines Sohnes so gut wie gar nicht beteiligt war. Julian packte seine Sachen und flüchtete in sein Zimmer.

Dort angekommen, ließ er sich auf das Bett fallen und starrte an die Decke, auf der mit Ölfarbe das Meer abgebildet war: Hohe Wellen türmten sich an einer steilen Klippe, auf deren Rand ein Leuchtturm stand. Jack hatte recht gehabt: Seine Mutter war eine Künstlerin gewesen - nicht nur als Schnitzerin, auch als Malerin. Julian hatte sich in den vergangenen Jahren jede Erinnerung an sie so gut es ging bewahrt. Werke aus Holz und Figuren, die sie hergestellt hatte, lagerten in einer Vitrine an der Wand, gleich neben seinem Schreibtisch und dem Bücherregal.

Auch zwei ihrer Bilder, eines von dem Ausblick auf das Meer vom Dachfenster ihres Hauses aus, das andere von dem Rundturm der Klostersiedlung Glendalough, dessen Spitzturm imposant in den Himmel ragte.

Deshalb hatte er ein mulmiges Gefühl, wenn er an den morgigen Tag dachte. Zum einen die Sache mit Leslie, zum anderen einen Ort zu besuchen, der auch seine Mutter fasziniert hatte, machten ihn nervös. Doch der Streit mit seinem Vater ließ ihn seine Sorgen vergessen. Wann immer er durch dessen Verhalten verletzt worden war, hatte seine Mutter ihn wiederaufbauen können, sei es mit ihren Hinterlassenschaften oder dem einzigen Hobby, dem er sich neben seiner Schullaufbahn und dem Schwimmen widmete: dem Schnitzen.

Julian stand auf und ging hinüber zu seinem Schreibtisch, öffnete die Schublade und holte ein halb fertiges Modell einer Figur heraus. Aus dem Holz war bereits eine klar umrissene Form eines Menschen entstanden. Julian warf noch einen Blick auf das Bild seiner Mutter: Der Rundturm prägte die Szenerie im Hintergrund. Ein blauer Himmel war über den kleinen Bäumen erkennbar, und betrachtete man den Fluss und die grüne Wiese, die Lea Thierney damals vor Augen gehabt hatte, wurde deutlich, dass es ihr wichtig gewesen war, genau diese Stelle festzuhalten.

Die Wiese und das Kiesbett im Fluss waren detailliert dargestellt, selbst das Licht, das von der Sonne reflektiert worden war, schien auf der Oberfläche zu glitzern.

Doch diese feinen farbenprächtigen Wunder der Natur waren nicht der Grund dafür, warum Lea dieses Bild am meisten fasziniert hatte. Als seine Mutter dieses Bild von einem Wochenendausflug angefertigt hatte, war Julian acht Jahre alt gewesen.

Sie hatte es ihrem Sohn am Abend vor dem Zubettgehen auf eine Staffelei gestellt und gesagt: „Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Ich saß an vier verschiedenen Tageszeiten an diesem Ort und habe versucht, ihn so abzubilden, wie er mir in seiner Gesamtheit vorkam. Doch ich war zu keinem Zeitpunkt allein.“

Julian hatte damals nicht begriffen, was seine Mutter damit meinte, und es verging kein Tag, an dem er nicht auf das Bild gestarrt hatte und trotzdem nicht fündig geworden war.

Schließlich ließ ihn ein Zufall über die Lösung des Rätsels stolpern: Es war ein warmer Sommertag gewesen und Julian war nach einem harten Trainingstag in den Fluten nach Hause gekommen. Die untergehende Sonne hatte durch das Fenster geschienen und Leas Pinselführung neue Schattierungen verliehen.

Julian bemerkte sie zum ersten Mal, als er das Bild von der Tür aus betrachtete: Es war die Silhouette einer jungen Frau, die sich im Grün der Wiese verbarg. Man konnte nicht viel erkennen, lediglich ihre klaren Umrisse und die charakteristisch schmalen Augen. Julian war damals nicht sicher gewesen, ob er sich diese Person nicht doch eingebildet hatte. Seitdem hatte er das Bild unter die Lupe genommen, verschiedene Lichtquellen ausprobiert und sich an einer exakten Nachbildung der unbekannten Frau in Holz versucht. Doch sie war noch nicht vollendet.

Julian nahm das Holzstück und sein Schnitzmesser zur Hand und steckte beides in den Rucksack, der neben dem Schreibtisch stand.

Dieser weitaus wichtigere Grund trieb ihn an dem Kultur-Projekt seiner Schule an und er hoffte, womöglich eine weitere Erinnerung an seine Mutter festhalten zu können.

Wen auch immer Lea Thierney damals gesehen hatte: Julian war fest entschlossen, es herauszufinden.



Virginia Rose

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