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Kapitel 5
ОглавлениеDie erste Nacht war herangebrochen und ich saß in meinem sicheren Unterschlupf und sortierte die gesammelten Kleidungsstücke neu.
In erster Linie ging es darum, die Kälte, die durch den Höhleneingang drang, abzuschütteln, indem ich mir ein improvisiertes Bett herrichtete.
Solange ich mich in meinem Winterschlaf befand, machte mir die Kälte nichts aus.
Doch heute war jede Stunde, in der sich die kalten Temperaturen im Tal und auf der Insel ausbreiteten, eine Tortur für mich. Ich fühlte mich schwach und konnte dank fehlender Sonne nur bedingt Energie tanken. Wenn das so weiterging, würde meine Fähigkeit, mich unsichtbar zu machen, versagen. Da half auch der Irrglaube, Feen seien unsterblich, nichts. Doch selbst wenn ich Merlins Rat befolgen wollte, stellte dies eine weitere Herausforderung dar:
Zwar besaß ich keine Flügel, die ich verbergen musste, doch wenn ich die Informationen, die ich brauchte, nicht innerhalb weniger Tage erhielte, würden sich die Menschen unweigerlich fragen, woher ich kam und wer ich war.
Ich lag noch lange auf meinem improvisierten Bett aus alten Decken und zwei Winterjacken und grübelte.
Tief in meinem Inneren wusste ich, dass es die einzige Wahl war, die ich noch hatte, bevor ich endgültig in Betracht ziehen musste, die Königin aufzusuchen.
Mein Versuch einzuschlafen wurde von Erinnerungen an vergangene Jahre vereitelt, als der Frühling mich geweckt und die Wärme mich durch die Wälder und Berge hatte wandeln lassen wie ein frisch geschlüpfter Schmetterling, der zum ersten Mal die Flügel ausbreitet. In unsichtbarem Zustand war ich für die Menschen praktisch nicht zu sehen, doch es hatte Momente gegeben, in denen ich den Eindruck hatte, dennoch erkannt worden zu sein:
Eine Angestellte im Hotel namens Katie Sullivan, die in den 1960er-Jahren als Kellnerin dort beschäftigt gewesen war, hatte sich unter anderem als Hobby-Ornithologin herausgestellt und dabei in den umliegenden Wäldern Vögel beobachtet. So war sie auch an Orte gekommen, die Wanderer und Touristen in der Regel nie zu sehen bekamen.
Ich war ihr insgesamt dreimal über den Weg gelaufen und es faszinierte mich, mit welcher Präzision sie die Vögel beobachtete, ihr Nistverhalten dokumentierte und selbst ihre Lockrufe imitieren konnte. Wenige Tage nach unserer letzten Begegnung wurde Katie tot auf einem der Wanderwege aufgefunden. Die Polizei hatte die komplette Klostersiedlung abgesperrt und es wurde allerorts von Menschen gemunkelt, dass
es sich um einen Mord gehandelt habe.
Doch Katies Leiche, so wurde mir bald klar, hatte keinerlei Wunden aufgewiesen. Es war, als sei ihr Herz einfach stehen geblieben.
Der zweite Mensch, dem ein ähnliches Schicksal widerfahren war, saß Anfang der 90er-Jahre jede Woche vor einem kleinen Café hinter dem Hotel, das Postkarten und Souvenirartikel verkaufte: Bob Whiley, der Landstreicher.
Früher war er Farmer gewesen, doch als seine Ehe in die Brüche ging und sein Haus von der Bank gekauft wurde, landete er auf der Straße. Während ich meine Streifzüge durch die Gegend machte, roch es bei ihm stets nach einer Flasche Gin. Bob hatte sich nie pöbelnd oder auf eine andere Art und Weise Aufmerksamkeit verschafft, auch wenn Touristen ihn zu Anfang misstrauisch beäugt hatten.
Für viele Jahre war er für mich eine Art stiller Verbündeter geworden. Wir teilten ein ähnliches Schicksal. Bis ich den Fehler beging, mich ihm zu nähern:
Ich hatte mich einen Tag lang auf eine Mauer gesetzt, die dem Café und Bobs Stammplatz gegenüberlag. Von seiner Fahne einmal abgesehen hatte ich niemals damit gerechnet, dass er mich tatsächlich wahrnehmen konnte. Ein paarmal hatte er mich mit den Augen fixiert, doch ich schob es auf seinen Alkoholkonsum. Ein paar Tage darauf wurde auch er tot aufgefunden. Dort, wo er immer gesessen hatte. Man gab dem Alkohol die Schuld daran. Für ihn gab es in jener Nacht ein Sommergewitter, das erste seit vielen Jahrzehnten, das meine Trauer über jemanden ausgelöst hatte.
Von diesem Zeitpunkt an war mir klar gewesen, dass es ein Teil des Fluches war, eine Fee zu sein: Wir waren nicht dazu bestimmt, uns den Menschen zu nähern, sie ohne ihr Wissen mit unserer Magie zu umspielen oder ihnen Hoffnung auf unsere Existenz zu machen.
Seit Bobs Tod hatte ich mich stets sichtbar gemacht, wenn ich mich für längere Zeit in die Nähe der Menschen gewagt hatte.
Unsichtbar wagte ich keine längeren Aufenthalte mehr, um Unschuldige nicht zu gefährden. Richtete ich mein Augenmerk auf meine Aufgabe, mich um die Natur zu kümmern, stellte dieser Umstand keinerlei Konsequenzen dar. Immer und immer wieder rief ich mir ins Gedächtnis, für wen ich dies alles auf mich nahm und je besser ich diese Aufgabe erfüllte, desto schneller würde die Zeit zu meinen Gunsten entscheiden.
An diese Hoffnung klammerte ich mich seit über einhundert Jahren.
Doch ich hatte keine Ahnung, dass sich die Ereignisse bereits am nächsten Tag überschlagen und meine sämtlichen Erinnerungen an Katie und Bob mich einholen würden.
Nach einer Nacht ohne Schlaf und mit schmerzvollen Erinnerungen machte ich mich nach Sonnenaufgang auf den Weg, dieses Mal gekleidet als moderne junge Frau mit einem dunkelgrün gemusterten warmen Schal und einer schwarzen Lederjacke.
Mein Haar hatte ich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und mein Gesicht so gut ich konnte im See gewaschen.
Sobald der Frühling eintraf, würde ich mir ein paar Tage Urlaub in den Bergen gönnen und dem Tal vorerst den Rücken kehren.
Ich begann, Ausschau nach Max zu halten, der mir bei meinem Vorhaben sicher behilflich sein konnte.
Als ich auf Höhe des Rundturmes durch die Ruinen der alten Grundrisse lief, sprang er neben mir plötzlich auf eine Mauer.
„Guten Morgen!“
Ich machte einen Satz zur Seite und wäre beinahe über einen Grabstein gefallen, der schief im Boden verankert war.
„Bist du verrückt, mich so zu erschrecken?“, fuhr ich den Hund an, der auf mich herabsah.
„Sorry, aber du siehst aus wie eine rachsüchtige Dame, wie du so zwischen den Grabsteinen entlangwanderst. Fehlt nur noch das weiße Kleid.“
Ich winkte ab. „Schon klar, du Charmeur. Ich brauche deine Hilfe bei meinem Vorhaben, Informationen über Feen zu bekommen.“
Max legte die Ohren an und blinzelte. „Oh Gott, du leidest an Amnesie? Vielleicht könnten wir für dich eine Fahrt in den Süden engagieren, ich könnte wetten, dass dir etwas mehr Sonne guttun würde.“
Ich winkte ab. „Darum geht es nicht. Es könnte sein, dass jemand von den Einheimischen etwas über Feen weiß und einen Hinweis geben kann, warum mir das passiert.“
Max sprang auf den Boden und trippelte voraus. „Ach deshalb siehst du heute besser aus als gestern, du bist sichtbar.“
Er konnte meiner Meinung nach von Glück sagen, dass er mich in jedem Zustand sehen konnte.
Den Rest des Weges schwieg ich, bis wir auf die Straße traten und sich zu unserer Rechten das Informationscenter und dahinter das Glendalough Hotel erstreckten.
„Die Buden machen erst später auf, wenn die Leute vom Hotel kommen und die Touristen ihre Wandertouren machen“, überlegte ich laut. Dabei sah ich immer wieder die Straße auf und ab, um sicherzustellen, dass niemand mich mit einem Hund reden hörte.
Unterdessen setzten wir unseren Weg in Richtung Hotel und zu den größeren Parkplätzen fort.
„Warum brichst du nicht einfach in das Hotel ein? Ich verstehe sowieso nicht, warum du hier als normaler Mensch verkleidet rumläufst“, sagte Max und kam vor dem Eingang zum Stehen.
„Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich fähig bin, mich unsichtbar zu machen, Max. Meine Kräfte, die mir von der Natur gegeben werden, sind schwach. Wie lange ich durchhalten kann, ist ungewiss. Ich muss es riskieren.“
Max trippelte an mir vorbei. „Dann geh wenigstens durch die Hintertür. So kommst du direkt an der Küche und nicht sofort an mehreren Angestellten vorbei.“
Ich nickte. „Gut zu wissen.“
Unser Weg führte uns an der verglasten Kuppel des Restaurants vorbei über eine geschwungene Brücke, die über den kleinen Bach verlief und danach im Hinterhof endete.
Die Tür zur Küche war glücklicherweise unverschlossen, also schlüpfte ich hindurch und Max folgte mir.
Wir befanden uns am Fuße eines langen Korridors. Zu unserer Linken zweigte ein weiterer kleiner Gang ab, aus dem Geräusche von klirrendem Besteck und dem Spülbecken zu hören waren, dazu mehrere Stimmen. Offenbar ging es in dieser Richtung in die Küche. Max und ich steuerten den Korridor entlang bis zu dessen Ende, an dem eine Schwingtür uns in das Herz des Hotels eintreten ließ: Mit dunklem Parkettboden ausgelegte Gänge, deren Wände weinrot tapeziert waren, führten rechts in einen Vorraum mit zwei gemütlichen Sesseln und einem Kamin. Links schwangen sich zwei mit Teppichen ausgelegte Treppen hinauf in die Gästezimmer.
Ich ging mit Max in Richtung des Kamins und drehte einen der Sessel mit der Lehne um, sodass ich mich für eine Minute unbemerkt mit ihm besprechen konnte. Offenbar waren wenige Gäste anwesend, denn es herrschte Stille.
„Wonach suchst du überhaupt?“, fragte Max. „Wenn du Hinweise willst, kannst du im Hotel niemanden ansprechen. Sie würden dich fragen, was du hier zu suchen hast.“
Ich sah mich immer wieder nach allen Seiten um. „Nicht, wenn ich ihren Fragen zuvorkomme. Wo ist die Rezeption?“
„Den Gang rechts entlang“, lautete die geflüsterte Antwort des Hundes. Ich stand auf und ging so selbstverständlich wie möglich den geheißenen Weg. Meine Nervosität machte sich durch meinen pochenden Herzschlag bemerkbar und der Drang, mich unsichtbar zu machen, war übermächtig. Doch wenn ich nichts Neues erfuhr, konnte ich mich womöglich bald von meinen Fähigkeiten verabschieden.
Die Rezeption stellte sich als unbesetzt heraus.
Als ich mich umsah, fiel mein Blick auf den Türbogen, hinter dem sich scheinbar der Speisesaal befand. Ich huschte hinüber, wagte einen Blick um die Ecke und zuckte sofort wieder zurück:
Direkt an der Wand hinter dem Eingang unterhielten sich zwei Damen gemütlich vor zwei Tassen Tee und leer gegessenen Frühstückstellern. Ich entschied mich, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal in das Hotel zurückzukehren, als ich ihren Gesprächsfaden aufschnappte: „… ist entsetzlich kalt für diese Jahreszeit. Ich frage mich, ob es tatsächlich am Klima liegt“, sagte die Dame, die mit dem Rücken zu mir saß und einen dicken Tweed-Mantel trug.
„Woran denn sonst? Wetterschwankungen sind in diesem Jahrhundert bereits an der Tagesordnung, Betty. Außerdem werden wir auch nicht jünger, Liebes. Es gab bereits bessere Jahre, in denen wir uns hier zu unseren Touren getroffen haben, erinnerst du dich?“, widersprach ihre Freundin.
„Dem Tal geht es schlecht, daran liegt es. Der Geist der Natur ist geschwächt, so hat der Winter leichtes Spiel. Du weißt genau, dass in diesen Wäldern Naturgeister umherwandeln. Ein Ort, der noch weitestgehend unberührt geblieben ist von dem, was man Industrialisierung nennt!“, fuhr Betty fort.
Ich drückte mich so gut es ging gegen die Wand, während Max neben mir um die Ecke spähte, die Ohren gespitzt.
„Du glaubst tatsächlich immer noch daran? Erinnerst du dich an den Tod der beiden Menschen vor einigen Jahren? War ganz groß in der Zeitung. Diese Kellnerin hat hier gearbeitet und der Landstreicher kannte sich hier auch bestens aus. Und das Schlimmste war natürlich diese junge Malerin vor acht Jahren“, sagte ihre Freundin. Ich spürte, wie mein Herzschlag zu stolpern begann. Wovon redete diese Frau?
„Was passierte mit der Malerin?“, fragte Betty. Ich schob mich unwillkürlich näher heran und prüfte, ob jemand in der Nähe war, doch noch immer war niemand zu sehen.
„Sie geriet bei Wind und Wetter vor der Küste mit ihrem Boot in Bedrängnis. Es war furchtbar. Das Boot kenterte und man hat zwei Tage nach dem Wrack gesucht. Sie hielt sich wenige Tage zuvor hier auf und hat lange auf dem Wanderweg gesessen, der über den Fluss führt. Wenn du mich fragst, war das ihr Verhängnis.“
Eine kurze Stille trat ein. Ich stand da wie festgefroren.
Wie hatte ich die Malerin vergessen können?
„Tory?“, murmelte Max leise und drückte sich an meine Wade.
Ich antwortete nicht. Drei Tote. Ich hatte sie zu verantworten.
Es war meine Schuld, weil ich zu neugierig gewesen war!
„Die Natur wurde demnach vom Karma eingeholt“, seufzte Betty schwer. „Traurig …“
Ich hielt es keinen Moment länger hier aus, sondern rannte an der Rezeption vorbei den Gang entlang ins Freie.
Ich achtete weder auf Max’ Bellen, das hinter der zugeschlagenen Tür gedämpft in mein Ohr drang, noch auf meinen Atem, der immer schneller wurde, je weiter ich mich vom Hotel entfernte.
Nun rannte ich über den Holzsteg, der zur Brücke führte, überquerte sie und erreichte die Straße.
Plötzlich ertönte dicht neben mir ein lautes Quietschen, ich hatte nur noch die Möglichkeit, das Gesicht um zehn Grad zu drehen, als ich bereits von etwas Großem in die Seite getroffen wurde und durch die Luft flog. Bevor ich auf dem Boden aufkam, war ich bereits bewusstlos. Das Letzte, was ich noch vernahm, war Max’ Bellen und etwas, das aussah, als zwängten sich die ersten Sonnenstrahlen des Jahres durch die Wolken und offenbarten einen klaren blauen Himmel.