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Jakob und der kleine Bub

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Es ist Frühling. Genauer gesagt, später April. Ein milder Abend. Die Fenster zum Garten stehen offen, ein Lüfterl bauscht die weißen Vorhänge aus Tupfbatist.

Der Bub hopst in seinem Bett auf und ab und versucht, einen Zipfel eines Vorhangs zu erwischen. Aufziehen will er ihn, sehen, was der große Bruder im Garten treibt. Er wäre auch noch gern im Garten, es ist ja noch ganz hell, die Amseln singen, was die Mama das Abendlied nennt. Und der Fußball des Bruders trifft mit dumpfem Knall gegen die Wand des Salettls. Wieder und wieder. Der Bruder übt einen Elfmeter. Und der Papa, der müsste auch bald kommen, heute ist der einzige Tag der Woche, an dem der Papa früh zum Abendessen zu Hause ist.

Er müsste jetzt schon auf dem Weg von der Straßenbahnhaltestelle sein, durch die stille Gasse gehen, wo jeder Schritt am Kopfsteinpflaster hallt. Gleich wird er vor dem gelben Haus sein. Wird durch das breite, halbrunde, graugrüne Holztor gehen, durch das früher noch Pferdefuhrwerke gefahren sind. Hat die Mia erzählt. Durch den breiten Gang wird er bis in den Garten mit den hohen Bäumen gehen, die schon zur Zeit der Kaiserin Maria Theresia hier gestanden sind. Denn da, wo heute der Garten mit dem Salettl und den Rosenstauden ist, war vor zweihundert Jahren eine Allee, die von der Donau bis zu einem kleinen Lustschloss der Kaiserin führte. Hat der Großpapa erzählt.

„Guten Abend, Herr Doktor“, hört der Bub das Kindermädel Mia sagen.

Also ist der Papa schon auf der breiten steinernen Stiege, die vom Garten in den ersten Stock führt. Ha, die gläserne Tür zwischen Stiege und Wohnung scheppert, der Papa ist angekommen.

„Papa! Papa!“, schreit der Bub. Noch sind wir in der Zeit, in der gewisse Sitten und Gebräuche aus der K.-u.-k.-Monarchie üblich sind und in der Kinder in Familien wie der seinen „Papa“ und „Mama“ auf dem zweiten „a“ betonen. Wild hüpft er auf seinem Bett, sein Nachthemd ist ihm dabei etwas hinderlich, er hätte auch schon gerne einen Pyjama wie der große Bruder, aber den kriegt er erst, wenn er sechs ist. Er ist ja grad erst fünf geworden.

„Papa“, seufzt der Bub glücklich, als der Vater sich zu ihm beugt und ihn auf die Stirn küsst. Gleich wird er ihn fragen, was er heute alles gemacht hat.

„Und, Feppchen, wie war dein Tag, was hast du alles gemacht?“, fragt der Vater wie erwartet. Eigentlich heißt der Bub Fritz. Zweiter Name Peter. Fritz Peter, daraus wurde Feppchen, sein familieninterner Spitzname.

„Die Monika hat die Erna in die Hand gebissen.“ Fritz ist stolz, dem Papa eine ans Sensationelle grenzende Neuigkeit zu liefern. Der Papa ist Journalist. Chefredakteur einer sehr wichtigen Zeitung. Der hat etwas übrig für Neuigkeiten.

Es dauert eine Weile, bis der Vater die Geschichte in vollem Umfang erfährt.

Monika ist die gleichaltrige Freundin von Fritz, Nachbarskind, die Erna ist deren Kindermädel. Die Monika wollte sich von der Erna nicht an der Hand führen lassen, die Erna fasste dennoch zu, worauf die Monika die Erna in die Hand gebissen hat …

„Na so was“, sagt der Papa. Gleich wird er gehen. Im Speisezimmer wartet ja das Abendessen für die Eltern und den Bruder.

Wie wäre der Papa noch aufzuhalten? Was könnte man ihm noch erzählen, dass er noch eine kleine Weile bleibt? Fritz fixiert die lange Gestalt des Vaters, der da – im ewig grauen Zweireiher mit der ewig gleichen grauen Weste – vor ihm steht.

„Was ist das, Papa?“, fragt Fritz und deutet auf die weißen Blätter, die zusammengerollt aus der Tasche des väterlichen Sakkos ragen.

„Das?“ Der Papa muss ein wenig nachdenken. Ob er vergessen hat, was auf den Blättern steht? Dann scheint es ihm wieder einzufallen. Er nimmt die Blätter heraus, entrollt sie, sieht kurz drauf und lächelt.

„Das?“, sagt er. „Das ist ein Brief.“

„Von wem?“

Kleine Pause. „Von einem Elefanten.“

Ein Brief von einem Elefanten. Das muss der Fritz erst verdauen. Mit der Zeigefingerspitze an der Nasenspitze.

„Von einem echten Elefanten? Von so einem wie der in Schönbrunn?“, fragt er schließlich.

Der Vater nickt. „Aber dieser Elefant lebt nicht im Zoo von Schönbrunn, sondern im Budapester Zoo.“

„Ist er weit weg, dieser Zoo?“

„Eher schon. Er befindet sich in der Hauptstadt von Ungarn. Die heißt Budapest.“

„Ist das weit weg, dieses Ungarn?“

„Wie man’s nimmt. Es ist unser östliches Nachbarland.“

„Und wieso kennst du den Elefanten?“

„Als ich vor vielen Jahren in Budapest gelebt habe, bin ich oft in den Zoo gegangen. Dort habe ich ihn kennengelernt.“

„Wie?“

Wieder muss der Vater etwas nachdenken. Dann erst spricht er. Der Vater denkt immer nach, bevor er spricht. Drum ist Verlass auf das, was der Vater sagt.

„Ich bin auf der Bank vor seinem Gehege gesessen und habe ihn betrachtet. Er stand auf dem sandigen Boden, trat von einem Fuß auf den anderen, schwenkte sacht seinen Rüssel und sah mich an. Direkt in die Augen hat er mir gesehen. ‚Ich komme aus Indien‘, hat er gesagt. ‚Und woher kommst du?‘ hat er mich gefragt. ‚Ich komme aus Wien …‘“

Fritz hat mit offenem Mund zugehört, jetzt unterbricht er den Vater.

„Der Elefant kann richtig reden?“, fragt er fast atemlos.

„Aber sicher. Alle Wesen haben eine Sprache.“

„Was für eine Sprache spricht er?“

„Elefantisch.“

„Und du kannst Elefantisch verstehen, Papa?“

„Wenn man mit dem Herzen hört, kann man jede Sprache verstehen.“

Das weiß der Bub. Von der Mama. Er zeigt auf die Papiere in der Rocktasche des Vaters. „Lies mir den Brief vor“, verlangt er, dann schnell noch „bitte, Papa“. Und setzt sich in seinem Bett in Vorlesezuhörpositur. An den Polster gelehnt, das Nachthemd bis über die Zehenspitzen gezogen, die Hände auf den Knien.

Der Vater zögert. Er zieht die Papiere aus der Rocktasche, streicht sie glatt, sieht nachdenklich darauf, als hätte er Mühe, das Geschriebene zu entziffern.

„Lies, Papa“, sagt Fritz erwartungsvoll, „was schreibt er?“

„Hm“, macht der Vater, kramt in seiner Tasche, holt die Brille hervor und setzt sie – ziemlich umständlich, will es Fritz scheinen – auf die Nase. Schaut seinen Buben an, lächelt ein wenig, macht noch einmal „hm“ und beginnt zu lesen:

Der Jahrhundertelefant

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