Читать книгу Der Jahrhundertelefant - Hanna Molden - Страница 9
ОглавлениеBudapest, am 18. April 1930
Mein lieber Freund Ernst!
Viel Zeit ist vergangen, seit ich Dir das letzte Mal geschrieben habe. Ich hoffe, Du nimmst es mir nicht übel. Aber es ist nun einmal so, dass sich im hiesigen Elefantenhaus nicht sehr viel ereignet. Ich bin sein einziger Bewohner. Seit Du nicht mehr da bist, ist mir schrecklich fad.
Viele Besucher kommen nach wie vor durch das prächtig-mächtige Tor des Zoos. Die meisten nehmen gleich Kurs auf das Elefantenhaus. Sie pflanzen sich vor der Begrenzung auf und starren mich an. Ich sage höflich ‚Grüß Gott‘, aber sie verstehen mich nicht. Manche lachen und rufen mir etwas zu, aber ich verstehe nicht, was sie sagen. Es ist, wie es ist: Der einzige des Elefantischen mächtige Mensch, dem ich jemals begegnet bin, bist Du. Vielleicht gibt es irgendwo auf der Welt noch einen anderen Menschen, der Elefantisch spricht. Aber hier im Zoo ist er noch nicht vorbeigekommen.
Mein Alltag ist immer noch gleich. Pandit, mein kleiner Mahout, bringt mir meine Riesenration Heu, manchmal auch Karotten. Er spritzt mich mit dem Schlauch ab, vor allem die Ohren, das mag ich besonders. Aber das weißt Du ja alles. Dann gehe ich langsam ins Freie und warte, dass etwas geschieht. Nichts geschieht. Beziehungsweise: nichts geschah bis vor Kurzem.
Denn unlängst haben sich Dinge ereignet, die darauf schließen lassen, dass ich Gesellschaft bekomme. Wieso ich das annehme? Nun, unsereins hat ja nichts anderes zu tun, als die Menschen zu beobachten. Da habe ich zuerst den Direktor mit zwei seiner Leute auf ungewohnte Weise im Elefantenhaus herumspazieren sehen. Sie haben die Wände vermessen. Bald darauf haben sie zwei neue Abteilungen neben der meinen eingerichtet. Was mich vermuten ließ, dass sie für Elefanten sein sollen, man wird mir schließlich keine Nashörner oder Giraffen als Hausgenossen einquartieren wollen.
Zwei Abteilungen, zwei Elefanten, so ist es geplant. Es handelt sich um ein Tauschgeschäft zwischen dem Budapester und dem Stockholmer Zoo. Das weiß ich von Pandit, meinem kleinen Mahout. Der kommt ja im ganzen Zoo herum, er scheint sich auch mit dem Direktor gut zu verstehen, und von dem hat er das Folgende gehört: Wir haben hier in Budapest zu viele Löwen, die Stockholmer wiederum haben zu viele Elefanten. Also gehen drei unserer Löwen nach Stockholm, und zwei Elefanten aus Stockholm kommen demnächst hier an. Ich weiß nicht, was Stockholm ist. Ich nehme an, dass es sich nicht um einen Dschungel, sondern eher um eine Stadt wie Budapest handelt. Jedenfalls sei das Elefantenhaus groß genug für drei, hat der Direktor gemeint.
Wenn Du Dich jetzt fragst, wie ich es erfahren habe? Der Pandit hat es mir weitererzählt. Und weißt Du, wie? Der kluge Bub hat mit einem Ast die ganze Geschichte in den Sand meines Geheges gezeichnet.
Ich kann Dir nicht sagen, wie aufgeregt ich bin, mein lieber Ernst. Sobald die Neuen da sind, werde ich Dir darüber berichten. Für heute grüße ich Dich auf das Herzlichste.
Dein treuer Freund, der Elefant Jakob
Im Kinderzimmer ist es still. Fritz hat fast aufs Atmen vergessen. Er sitzt da und starrt mit kugelrunden Augen auf den Brief des Elefanten, den der Vater jetzt zusammenrollt und in seine Rocktasche steckt.
„Gute Nacht, mein Feppchen“, sagt er, beugt sich zu seinem Buben und will ihn auf die Stirn küssen.
Da kommt Leben in den Fritz. Wie der Blitz fasst er den Vater am Rockzipfel und hält ihn fest. „Also Jakob heißt er! Wir haben einen im Kindergarten, der heißt auch Jakob!“
„Schau, schau“, sagt der Vater etwas zögerlich, lächelt und versucht seinen Rockzipfel zu befreien. Fritz indes hält fest, viel zu viele Fragen sind offen um diesen Elefantenfreund, der Vater kann jetzt nicht einfach gehen …
„Papa … Papa, wie kann er denn schreiben, der Elefant? Er hat doch keine Finger.“
Nachdenklich reibt der Vater seinen Nasenrücken. Räuspert sich ein wenig. Und sagt dann entschieden: „Das ist richtig. Der Elefant hat keine Finger. Deshalb hat er den Brief diktiert.“
Der Fritz hält den väterlichen Rockzipfel immer noch fest umklammert. „Wem hat er diktiert? Wer versteht denn, was er sagt? Es kann doch niemand außer dir Elefantisch!“
Jetzt löst der Vater sein Sakko aus der Bubenhand. Vorsichtig. Aber bestimmt. Damit ist er eine kleine Weile beschäftigt, in der er nicht antworten kann.
„Papa????“
„Nun“, sagt der Vater schließlich, „der Jakob hat einen entfernten Verwandten im Zoo … Das ist ein … ein Affe. Namens … Jaromir. Affen haben, wie du weißt, flinke Finger. Der Jaromir hat das Maschinschreiben erlernt. Ihm kann der Jakob, wenn es sich um Dringliches handelt, seine Briefe diktieren.“
Der Vater wendet sich zum Gehen. Fritz hüpft aus dem Bett und tappt neben ihm her. „Aber Papa, wie kann der Jaromir wissen, wann der Jakob einen Brief schreiben will? Lebt er im Elefantenkäfig? Und wie geht das, dass der Affe mit dem Elefanten verwandt ist, wo sie sich doch überhaupt nicht ähnlich sehen … Und … und was ist ein Ma … Mahout? Und wie hat der … Stock … Stockholm in den Sand gezeichnet? In Buchstaben? Der Jakob kann doch keine Buchstaben lesen … oder?“
Der Vater beugt sich zum Fritz, lacht leise und schubst ihn ins Bett zurück.
„Feppchen, Schluss jetzt. Die Mama wartet mit dem Essen. Ich verspreche dir, alles was ich vom Elefanten Jakob weiß, zu erzählen.“
„Aber wann, Papa? Wann?“
„Nicht mehr heute. Aber bald.“ Der Papa ist schon an der Tür.
„Schlaf gut, mein Sohn.“ Weg ist er.
Schlafen! … Ha! – Fritz sitzt mit angezogenen Knien in seinem Bett und schaut ins Narrenkastl. Aus dem ein paar Räume entfernten Speisezimmer hört er das Stimmengemurmel von Eltern und Bruder, hört eine Türe klappen, wahrscheinlich bringt die Julie jetzt die Suppe herein.
Fritz darf an Wochentagen noch nicht mit den anderen zu Abend essen. Nur an Samstagen darf er. Weil es am Sonntag keinen Kindergarten gibt und er am Samstag länger aufbleiben darf. Zu blöd, dass heute nicht Samstag ist. Da könnte er den Papa alles fragen.
Zum Beispiel, was ein Mahout ist, das will er dringend wissen. Vielleicht so eine Art Kindermädel für den Jakob, wie die Mia für ihn? Könnte sein. Schließlich hat der Jakob geschrieben, dass der Mahout ihm die Ohren abspritzt. Die Mia hat’s auch immer auf seine, Feppchens, Ohren abgesehen … Interessant, dass der Elefant das Ohrenabspritzen mag. Er mag es überhaupt nicht, wenn die Mia seine Ohren mit dem Waschfleck bearbeitet … Und dieser Affe, der Jaromir! Der muss ein Schlaumeier sein, der kann Schreibmaschine schreiben. Fritz hat es ja selbst gesehen, das Maschingeschriebene auf dem Brief, den der Papa vorgelesen hat … Diktiert vom Jakob, hat der Papa gesagt. Also gibt es im Elefantenkäfig eine Schreibmaschine? Gibt’s im Schönbrunner Tiergarten nicht. Und der Jaromir, der muss eigentlich im Elefantenkäfig leben, weil er ja zur Hand sein muss, wenn der Jakob diktieren will … Obwohl der Jaromir im Elefantenkäfig nichts zu suchen haben sollte, ist ja schließlich kein Verwandter vom Jakob … Vielleicht hat ihn der Jakob adoptiert? Fritz weiß, was adoptieren heißt. An Kindes statt annehmen. Im Kindergarten haben sie ein Mädel, das adoptiert worden ist …
Die Amsel hat ihr Abendlied beendet. Der leichte Wind weht immer noch vom Leopoldsberg herunter und trifft den Mond, der überm Bisamberg aufgeht und sich langsam auf den Weg zur alten Gasse mit dem Kopfsteinpflaster und dem gelben Haus mit dem halbrunden Tor macht.
Mit dem Auftauchen des Elefanten Jakob bricht eine neue Zeit in Feppchens Leben an. Er beginnt, die Tage zur Woche zu ordnen und mit dem roten Buntstift einen Strich auf seinem Kindertisch zu machen, sobald eine Woche um ist. Wenn es vier Striche sind, wird ein neuer Brief vom Jakob kommen. Denn für gewöhnlich, sagt der Papa, schreibt ihm der Jakob einmal im Monat. Nicht immer, aber meistens.
Da müsse er ja schon ganze Haufen von Elefantenbriefen haben, hat der Fritz gemeint und darauf gehofft, dass der Vater sie ihm vorlesen würde. Alle. Einfach alle. Aber der Vater hat mit den Schultern gezuckt und gesagt, dass er sie leider nicht aufgehoben habe. Keinen einzigen. Zu dumm. Wo er doch sonst alle Briefe aufhebt, der Papa, sie in Mappen ordnet und die im großen Bücherkasten, der im Herrenzimmer steht, einschließt.
Als der Vater gesehen hat, dass sein Bub traurig ist, weil es die alten Briefe nicht mehr gibt, da hat er seine Stirn in Falten gelegt und gemeint, er könne sich aber sehr gut an die Briefe erinnern. Und auch an alles, was der Jakob ihm erzählt hat, als sie sich im Budapester Zoo auf Elefantisch unterhalten haben. Aber ja, die ganze bisherige Lebensgeschichte des Jakob …
„Erzähl, Papa! Bitte!“
„Da brauche ich Zeit, Feppchen, das dauert lange.“
„Am Sonntag, Papa?“
„Also gut, am Sonntag.“
Und dann ist Sonntag. Und Fritz und sein Bruder Otto gehen erst einmal mit den Eltern in die Kirche. Und danach geht die Mama nach Hause, weil sie an einem Gedicht schreibt. Und der Otto trifft seine wilden Freunde im Wertheimsteinpark.
Und der Fritz geht an der Hand des Vaters zum üblichen Sonntagvormittagsbesuch beim Großvater.
„Papa, wann kommt der Jakob dran?“, bohrt der Fritz. „Erst kommt noch der Großpapa.“
Der Großpapa wohnt nicht weit entfernt von der alten Gasse mit dem Kopfsteinpflaster. Aber der Gehsteig in der Großpapa-Gasse ist glatt und das Haus ist neuer und hat mehr Stockwerke als das gelbe Haus mit dem halbrunden Tor. Der Großpapa Berthold wohnt im ersten Stock. Er wohnt allein, seit Großmama Berta gestorben ist. Er ist ein ernster, etwas strenger alter Herr mit kerzengeradem Rücken und einem langen, schneeweißen Bart. Er ist sehr gescheit. Er hat viele Bücher geschrieben, und auch für Zeitungen, wie der Papa. Er hat noch diesen Erzherzog beraten, der Kaiser werden sollte, aber daraus ist nichts geworden, weil sie ihn erschossen haben, den Erzherzog. Was dann zum großen Krieg geführt hat, in dem der Bruder vom Papa gefallen ist. Da hat der Großpapa das Lachen verlernt. Jetzt kann er nur mehr lächeln. Und auch das tut er selten.
Den Fritz lächelt er allerdings an. Im Salon hat er auch einen Himbeersaft für den Fritz vorbereitet. Und noch ehe der Papa und der Großpapa ihr übliches politisches Gespräch beginnen, noch ehe der Himbeersaft ausgetrunken ist, kräht der Fritz:
„Großpapa, der Papa hat einen Freund, der Elefant ist. Der heißt Jakob. Und der schreibt Briefe an den Papa.“
„Interessant, interessant“, murmelt der Großvater. Es scheint ihn zu freuen, denn er lächelt mehr als sonst, bis hinauf zu den Augen. Und mit seinen mageren Händen, auf denen sich blaue Adern wie Wurzeln winden, streicht er seinen weißen Bart.
„Ein Elefant, der schreiben kann …“, sagt er mit seiner ein wenig heiseren Altherrenstimme und sieht den Papa dabei an.
Der Papa hat wohl keine große Lust, über den Jakob zu erzählen. Der Fritz hingegen schon. Alles, was er bisher über den Elefanten erfahren hat, sprudelt er heraus, bis ihm die Luft ausgeht.
„Interessant“, sagt der Großvater wieder und wendet sich an den Papa.
„Wo ist der Jakob denn geboren, im Zoo?“, fragt er und lächelt auf diese gewisse Weise, die die Mama schelmisch nennt.
Der Papa legt seine Stirn in Falten. „Nein“, sagt er schließlich, „er ist in Indien geboren.“ Und nach ein wenig Nachdenken setzt er hinzu: „In Kerala, in der Gegend von Cochin.“
„Aha.“ Den Großvater scheint das zu fesseln. „Die großen Dschungelgebiete im Südwesten von Indien. Wo es wilde Elefanten und Tiger und Affenherden gibt …“
Da beginnt der Fritz vor Aufregung auf seinem Stuhl zu hopsen. „Großpapa, der Jakob hat einen Verwandten, der ist ein Affe und heißt Jaromir, und der kann Maschine schreiben …“
Da verschluckt sich der Großvater. Zumindest klingt es so, er hält eine Hand vor den Mund und macht glucksende Geräusche. Und der Papa mahnt zum Aufbruch. Fritz würde gerne noch bleiben. Wer weiß, was der Großpapa noch alles über dieses Indien erzählen könnte …
Immerhin, es gibt den Heimweg. Der Papa geht gerne zu Fuß. Bis nach Hause in die Kopfsteinpflastergasse sind das zwanzig Minuten. Die nützt der Bub. „Wieso ist der Jakob nicht in Indien geblieben? Haben sie ihn eingefangen für den Zoo?“, fragt er und greift mit seiner vom Himbeersaft klebrigen kleinen Hand nach der großen kühlen des Vaters.
„Nein, Feppchen, das war anders.“ Pause. „Ich werde es dir vorm Schlafengehen erzählen.“ Pause. „Und jetzt ist vorerst Schluss mit dem Jakob. Er ist bitte auch beim Mittagessen kein Thema, sonst gibt es am Abend keine indische Geschichte. Versprochen?“ Der Fritz verspricht’s. Großes Ehrenwort.
Tatsächlich passiert ihm bei Tisch nur ein einziger Ausrutscher. Es ist bei der Nachspeise. „Magst du noch ein Stück?“, fragt die Mama und deutet auf die Biskuitroulade. „In Indien …“, beginnt Fritzchen, holt erschrocken Luft, sieht zum Papa hinüber und rettet sich ziemlich erfinderisch, indem er laut und deutlich sagt: „In Indien gibt es keine Biskuitrouladen.“
Der Papa kommt zum Gute-Nacht-Sagen wie versprochen. Der Papa hält immer, was er verspricht. Aber Fritz hat beim Abendessen gehört, dass er noch in die Redaktion muss, er wird nicht lange bleiben, also nur keine Zeit vertrödeln.
„Bitte, Papa, wie ist der Jakob von Indien in den Zoo gekommen!“ Kurz und bündig.
Der Vater denkt ein wenig nach, schmunzelt und sagt, schließlich auch kurz und bündig, „als Geschenk“. Als er in die erwartungsvoll aufgerissenen Augen seines Buben schaut, gibt er sich einen Ruck. „Der Jakob war noch ein kleiner Elefant, ungefähr so alt wie du jetzt, als ihn … der Maharadscha von Cochin … dem Erzherzog Leopold von Österreich geschenkt hat.“
Das muss der Fritz erst verdauen. Es dauert eine Weile. Eine ganze Sturzflut von Fragen tobt durch seinen Kopf. Maharadscha … Erzherzog … Der Vater weiß das, er kann das Durcheinander nämlich fühlen, wenn man lieb hat, fühlt man so etwas. Er wuselt mit beiden Händen durch die hellen Locken seines Sohnes. „Mein Feppchen“, sagt er, „diese Geschichte ist so lang wie ein ganzes Elefantenleben. Ich werde sie dir erzählen. Aber es wird lange dauern. Du musst Geduld haben.“
Geduld ist eine Tugend. Sagt die Mama. Je mehr Tugenden man hat, desto tauglicher ist man als Mensch. Sagt die Mama. Sie hat ihm auch aufgezählt, was man alles sein muss, um tauglich zu sein. Lauter Tugenden. Die meisten hat der Fritz vergessen. Aber die Geduld, die kennt er. Weil die Mia, wenn sie ihm seine Siebensachen für den Kindergarten zusammenpackt, immer wieder sagt: „Mein Gott, Kind, hör auf zu zappeln, sei nicht so ungeduldig.“ Also weiß der Fritz, dass er nicht geduldig ist. Und dass es schwer ist, geduldig zu sein, wenn man auf etwas sehr wartet. Zum Beispiel auf den Papa, um mehr über den Jakob zu erfahren.
Der Papa hat sehr viel in der Zeitung zu tun. Auch abends. Manchmal, wenn etwas Aufregendes auf der Welt geschieht, muss er sogar mitten in der Nacht in sein Büro, das alle „die Redaktion“ nennen. Und wenn er endlich zu Hause ist, gehört er vor allem der Mama. Die beiden haben immer etwas zu reden. Sie reden gern zu zweit. Da hört man sie auch immer wieder lachen. Und dann gehört der Papa natürlich auch dem Otto. Mit dem großen Bruder spricht er über die Schule. Der geht nämlich schon ins Gymnasium. Und mit dem Otto spricht er auch über die Dinge, die grade in der Welt geschehen. Den Otto interessiert das sehr. Den Fritz eigentlich gar nicht. Obwohl er gern dabeisitzt, weil er gern hört, wenn der Papa mit seiner ruhigen tiefen Stimme etwas erzählt. Außerdem will er wissen, was den Otto interessiert. Dann könnte man vielleicht mitreden, wenn die Spezln zum Otto in den Garten kommen, vielleicht mit ihnen Elfmeter trainieren …
Jetzt freilich ist es anders. Jetzt braucht der Fritz den Papa für sich. Allein, weil der Papa vielleicht vor den anderen nichts vom Jakob erzählen möchte. Weil der Fritz gar nicht will, dass der Papa vor den anderen erzählt. Weil es schön ist, mit dem Papa etwas zu haben, von dem nur sie beide wissen. Also nervt jetzt der Fritz die Mama und die Mia, weil er ständig fragt, wann der Papa heute nach Hause kommen wird. Meistens wissen sie es nicht. Aber wenn sie es wissen und „Mittag“ oder „Abend“ sagen, dann lauert er im Hausgang auf den Vater. Er muss oft lange warten. „Das ist ja ganz neu, wieso bist du denn auf einmal so geduldig?“, hat die Mia einmal gefragt. „Wegen der Tugend“, hat der Fritz gesagt.
„Zwischen Tür und Angel?“, fragt der Papa, als der Fritz ihm zum ersten Mal erfolgreich auflauert. Es ist später Mittag, der Papa biegt mit langen Schritten in die Toreinfahrt, als Fritz ihm entgegenspringt und bittet: „Erzähl, Papa, nur ein kleines Stück, vom Elefanten …“ „Aber Feppchen, einfach so, zwischen Tür und Angel?“ Er lächelt dazu. Und nimmt den Fritz bei der Hand, und langsam gehen sie durch die Einfahrt in den Garten, einmal zum Salettl und zurück, die Stiege hinauf bis zur gläsernen Tür, und da erfährt der Fritz immerhin das Folgende:
Vor rund dreißig Jahren, als es noch den Kaiser in Wien gegeben hat und Wien die Hauptstadt vom Kaiserreich gewesen ist, da ist ein Verwandter des Kaisers, ein gewisser Erzherzog Leopold, der sich sehr für fremde Länder interessiert hat, ins ferne Indien aufgebrochen. Ganz Indien hat er bereist, bis er schließlich in Kerala angekommen ist. In der dortigen Hauptstadt Cochin hat er den Maharadscha – so nennen die Inder ihre Fürsten – besucht. Ein sehr, sehr reicher Mann, der neben vielen anderen Reichtümern auch sehr viele Elefanten besitzt. Einen weißen Elefanten, auf dem nur er reiten darf. Und ein ganz großes Elefantencamp, in dem seine Arbeitselefanten leben. Der Erzherzog und der Maharadscha haben sich sehr gut verstanden. Also hat der Maharadscha dem Erzherzog ein Abschiedsgeschenk machen wollen. Und was hat er ausgesucht?
Einen kleinen Elefanten! Den hübschesten kleinen Elefanten im ganzen Camp.
Sein Name war Puha. Der sollte mit dem Erzherzog Leopold nach Europa reisen …
Ausgerechnet da stehen Vater und Sohn vor der gläsernen Tür im ersten Stock, und die Mama ruft, „Seid ihr da? Die Suppe wartet.“
„Papa, hat der Erzherzog dem Maharadscha auch etwas geschenkt?“ Fritz flüstert, gleich ist man im Speiszimmer, die anderen sollen ja nichts Indisches hören.
„Der Erzherzog hat nichts Passendes dabeigehabt, aber er hat den Maharadscha nach Österreich auf die Jagd eingeladen und ihm eine Gams versprochen“, flüstert der Papa zurück. Und ruft ins Speiszimmer: „Verzeih die Verspätung, Paula, wir sind da!“
Während des Mittagessens ist der Fritz ungewöhnlich still. Er muss sich das alles durch den Kopf gehen lassen. Das mit dem Geschenk zum Beispiel. Im Vergleich zu einem Elefanten ist eine Gams doch eher mickrig. Dieser Erzherzog war wohl ein Geizkragen. Und der kleine Elefant, ob der gerne aus seinem Land weggegangen ist?
„Feppchen, wo ist die Hand“, sagt die Mama mit ihrer schönen weichen Stimme. Fritzchens linke Hand hat nämlich die Angewohnheit, während des Essens vom Tisch zu verschwinden, sich am Knie zu kratzen oder nach den Murmeln in seiner Jackentasche zu tasten. Wupps, kehrt sie zurück auf das weiße Tischtuch, die Hand, wo sie die Mama gerne sehen möchte. Die Mama wird nie laut, wenn sie ihre Kinder ermahnt. Sie schimpft auch nie wie Mütter anderer Kinder. Sie sagt einfach ruhig, was sie zu sagen hat, legt dabei den Kopf etwas schief und schaut ihren Kindern in die Augen. Da macht eins einfach, was die Mama möchte. Genau das macht man.
An diesem Tag gibt es keine Möglichkeit mehr, beim Papa um weitere Jakob-Geschichten zu betteln. Er fährt in die Redaktion, und als es Zeit zum Schlafen wird, ist er noch nicht nach Hause gekommen. Also kommt die Mama, um Gute Nacht zu sagen.
An sich hat das der Fritz besonders gern. Die Mama, die sehr viel dichtet, hat nämlich für ihren Sohn einen kleinen Vers erfunden, den sie aufsagt, sobald der Fritz zugedeckt im Bett liegt. Und dieser Vers geht so: Liegst im Bettchen / rein und weiß gekleidet / wirst von allen / Tieren sehr beneidet/ auch vom aaaaarmen / kleiiiinen / Hasimandili. Das Besondere dabei ist, dass die Stimme der Mama ab dem … armen kleinen … immer langsamer und leiser wird. Auf das Hasimandili muss man etwas warten. Denn das Hasimandili ruft die Mama nach einer Pause ganz plötzlich heraus. Und laut. Und dazu macht sie einen kleinen Hasenhopser, so dass man ein bisschen erschrickt, und vor Vergnügen lachen muss, als würde man gekitzelt.
„Was war denn heute beim Mittagessen mit dir los?“, fragt die Mama, als es Abend geworden ist, und der Fritz die Zähne geputzt hat, und die Mama ins Bubenzimmer gekommen ist und die Bettdecke um den Fritz gestopft hat. „Du warst ja ganz in Gedanken versunken.“ „Gar nix“, nuschelt der, obwohl er dabei gleich an den Jakob denken muss. „Dann ist es ja gut“, sagt die Mama und beginnt mit leiser singender Stimme das Hasimandili-Ritual.
Ehe er einschläft, fragt sich der Fritz, ob man lügt, wenn man etwas geheim hält. Lügen haben beide Eltern überhaupt nicht gerne. Wenn der Papa auf eine Lüge draufkommt, wird er ziemlich böse. Aber die Mama, die wird dann traurig. Und das ist viel ärger als der Zorn vom Papa. Ehe dem Fritz die Augen zufallen, hat er sich in dieser Sache entschieden: Geheimnisse haben und Lügen sind zweierlei.
In den folgenden Tagen erfährt der Fritz vom Papa noch allerhand über den Jakob. Zizerlweis, würde die Mia sagen. Wann immer er den Vater für ein paar Minuten allein erwischt, fragt er ihn aus.
„Wieso heißt der Jakob nicht mehr so wie in Indien?“, fragt Fritz.
„Weil der Erzherzog mit dem Namen Puha nichts anzufangen wusste.“
„Und warum hat er ihn ausgerechnet Jakob getauft?“
„Na ja, wahrscheinlich war der heilige Jakob der Lieblingsheilige des Erzherzogs.“
Auch die Sache mit Pandit, diesem Mahout des kleinen Elefanten, kriegt er heraus. Dass nämlich jeder indische Arbeitselefant einen eigenen Menschen hat, der ihn zur Arbeit abrichtet und ihn reitet und ihn pflegt. Das ist der Mahout. Und dass der Elefant und sein Mahout oft ein ganzes Leben lang zusammenbleiben. Und dass der Maharadscha, als er den schönsten kleinen Elefanten für den Erzherzog ausgesucht hatte, den Mahout gleich als Beigabe zum Geschenk mitgegeben hat. Denn der kleine Pandit war schon im Elefantencamp der Pfleger des kleinen Elefanten Puha gewesen.
„Wie alt ist denn der Pandit?“, will Fritz wissen.
„Nun, zum Zeitpunkt, als der Maharadscha dem Erzherzog den Jakob zum Geschenk machte, war Pandit … sagen wir … zehn Jahre alt.“
„Aber Papa, da war der Pandit doch noch ein Bub. Wie kann der Maharadscha denn einfach ein Kind verschenken?“ Da muss der Papa ein bisschen überlegen.
„Na ja, verschenkt ist vielleicht nicht das richtige Wort. Er wird den kleinen Pandit gefragt haben, ob er mit seinem Elefanten mitkommen möchte. Und der wollte sich von seinem Puha sicher nicht trennen. Wenn ein Mensch mit einem Tier sehr eng verbunden ist, dann will er es immer um sich haben, er will sein Leben mit ihm teilen.“
Das leuchtet dem Fritz ein. Wird so sein wie beim Miamann und seinem Hund. Der Mann der Mia lebt mit seinem Hund und der Mia in einem kleinen Haus am Hang des Leopoldsbergs. Die Mia ist freilich weit mehr in der Kopfsteinpflastergasse als beim Miamann im kleinen Haus. Aber das macht dem Miamann nichts aus, sagt die Mia. Weil er hat ja seinen Hund. Und von dem trennt er sich nie.
So nebenbei erfährt der Fritz auch allerlei über Indien. Genauer gesagt, über Kerala, das vor unendlich langer Zeit entstanden ist. Und zwar so, erzählt der Papa: Da gab es einen Mann, der Land für seine Krieger gesucht hat. Dem haben die Götter gesagt, er soll auf einen Berg steigen und seine Axt ins Meer hinunterwerfen. Wo die Axt ins Wasser fällt, wird Land entstehen. Das hat der Mann getan. Und aus Meer wurde Land, das die Menschen Kerala nannten.
„Das ist aber nicht wirklich so gewesen, Papa, oder? Das ist eine Sage“, hat der Fritz darauf gesagt. Und der Papa hat gelacht und zugegeben, dass es sich um eine Sage handelt. Am Abend, in seinem Bett, nach einem Hasimandili, denkt der Fritz über die Geschichte nach. Und darüber, dass die Mama einmal gesagt hat, dass in jeder Geschichte und in jedem Gedicht etwas Wahres ist. Die Mama muss es wissen.
Schließlich schreibt sie Gedichte. Und Romane. Die Leute sagen, dass sie eine Dichterin ist. Also hat es den Mann mit der Axt auf dem Berg vielleicht doch gegeben?
Kerala – langsam erfährt der Fritz ganz schön viel über dieses Land am Arabischen Meer. Wo es unglaublich heiß ist. Aber nie wirklich trocken, weil es jedes Jahr eine Zeit gibt, in der es unglaublich viel regnet. Monsun, so heißt diese Regenzeit.
Und es gibt eine Menge Wälder, die das ganze Jahr grün sind. Hochwälder auf den Bergen. Und Regenwälder in der Ebene. Und unglaublich viele wilde Tiere gibt es. Tiger, und Leoparden, und viele verschiedene Affenarten. Es gibt auch Schlangen, und Schildkröten, und Krokodile. Und natürlich Elefanten. Wilde, und solche wie die Eltern vom Jakob, die man vor langer Zeit im Dschungel gefangen hat und die für den Maharadscha zu Arbeitselefanten erzogen worden sind.
Manchmal sieht Fritz die Berge von Kerala direkt vor sich. Fast so, als wäre er schon dort gewesen. Und das Elefantencamp. Und den Maharadscha mit seinem Turban voll mit Edelsteinen, wie er auf seinem weißen Elefanten aus seinem Palast reitet …
„Der Jakob muss doch schrecklich traurig gewesen sein beim Abschied. Er hat es doch gut gehabt in Kerala, bei seinen Eltern und den anderen Elefanten im Camp.“
Auch eine Frage, die den Fritz beschäftigt. Eines Abends hat der Papa etwas länger Zeit, um sie zu beantworten.
„Sicher war er traurig“, sagt der Papa. „Aber vielleicht war er auch aufgeregt. Immerhin hatte er ein großes Abenteuer vor sich. Stell dir vor, Feppchen, ein kleiner Elefant, der mit frisch gewaschenen Ohren, begleitet von seinem Freund Pandit, in eine unbekannte Welt reist!“
„Wie ist er denn gereist?“, will Fritz wissen. Da holt der Papa aus.
„In einem funkelnagelneuen, sehr bequemen Holzkäfig. Der wurde auf einen Waggon des Hofzugs vom Erzherzog Leopold geladen. Neben dem Holzkäfig war auch ein Schlafplatz für Pandit gerichtet. So fuhren der Erzherzog und der Jakob und Pandit mit der Eisenbahn durch ganz Indien nach Norden. Von Cochin hinauf bis nach Bombay. Was ein wenig seltsam war, denn so wie Bombay hat auch Cochin einen riesigen Hafen. Wahrscheinlich war es eine Entscheidung des kaiserlichen Hofes, wir werden es nie mit Sicherheit wissen – auf jeden Fall mussten die beiden tagelang durch den Dschungel tingeln. In Bombay angekommen, bestiegen sie ein österreichisches Dampfschiff, das ‚Kaiserin Maria Theresia‘ hieß. Der Käfig vom Jakob wurde mit einem Kran aufs Schiff gehoben und in einem Laderaum festgezurrt, dass er bei hohem Seegang nicht wegrutschen konnte …“
„Oje“, fährt der Fritz dazwischen, „ist der Jakob seekrank geworden?“ Er weiß, dass die Seekrankheit einen ganz elend macht. Er weiß das, weil er mit der Mama in Kroatien auf den Inseln war. Da sind sie oft mit Schiffen gefahren. Und manche Leute haben furchtbar gespieben. Aber er, der Fritz nicht. Weil er aus einer Familie von kroatischen Seefahrern stammt, und von denen wird keiner seekrank.
„Nein, nicht ein bisschen seekrank ist er geworden“, sagt der Papa. „Die See war ruhig. Dann fuhren sie durch den Kanal, der das Rote Meer mit dem Mittelmeer verbindet. Und auch im Mittelmeer hatten sie Glück. Kein starker Seegang bis Fiume …“
„Was ist das, Papa?“ Alles weiß der kleine Fritz wohl doch noch nicht über die kroatische Küstenheimat seiner mütterlichen Vorfahren.
„Fiume ist eine uralte Stadt, die am adriatischen Meer liegt und heute Rijeka heißt.“
Rijeka, den Namen kennt Fritz von seiner Reise mit der Mama. „Warum heißt sie jetzt anders?“
„Weil sie infolge von Kriegen einmal zu diesem, dann wieder zu jenem Land gehört hat.“
Schon holt der Fritz tief Luft für eine nächste Frage, da fährt der Papa rasch fort: „Als das Schiff des Erzherzogs im Hafen von Fiume ankam, gehörte die Stadt zum Reich des Habsburger-Kaisers. Der Hafen war sehr groß und wichtig für das Kaiserreich. Deshalb führte von ihm eine Bahnlinie nach Budapest, der Hauptstadt Ungarns, das ebenfalls zum Kaiserreich gehörte. Und weil der Erzherzog mit der Bahn über Budapest nach Wien fahren wollte, verließ er in Fiume das Dampfschiff, ließ den Jakob in seinem Käfig auf einen Waggon seines Hofzugs hieven, sah zu, dass man den kleinen Pandit nicht vergaß, reiste bis nach Budapest, besuchte dort den Direktor des Budapester Zoos, der ein guter Freund von ihm war, und schenkte dem Zoo den Elefanten Jakob, was den Direktor sehr erfreute, weil der Zoo zwar ein Elefantenhaus, aber zu dieser Zeit keinen Elefanten besaß.“
Das war ein sehr langer Satz mit viel Neuem, das Fritz erst verdauen muss, ehe er eine weitere Frage stellen kann. Diese Pause nützt der Papa. „Genug für heute, Feppchen, Fortsetzung folgt“, sagt er und verschwindet im Herrenzimmer.
Allerhand, was der Fritz in diesen Tagen und Wochen erfährt. Kein Märchenbuch kann mithalten mit dem, was der Papa über fremde Länder und vergangene Zeiten so nebenbei erwähnt, wenn er Neues vom Jakob berichtet. Freilich, der Papa ist mordsmäßig gescheit. Das sagt auch der Otto, der behauptet, dass der Papa mehr über Geschichte und Geographie weiß als seine Lehrer im Gymnasium. Der Otto ist übrigens auch nicht blöd. Der weiß schon ziemlich viel, ist aber auch sechs Jahre älter als der Fritz. Der Otto hat zwar schlechte Noten, aber nur weil er ein Lausbub ist. Sogar die Lehrer im Schottengymnasium sagen, dass der Otto gescheit ist. Er weiß mehr als die meisten Buben in seiner Klasse.
Aber über den Elefanten Jakob weiß er nix! Manchmal würde Fritz dem Bruder gerne unter die Nase reiben, dass es einen Elefanten gibt, der dem Papa Briefe schreibt. Aber dann wäre der Jakob ja kein Geheimnis mehr. Um ein Haar hätte er sein Geheimnis übrigens verraten. Und zwar ausgerechnet der Mia.
„Warum verschmierst denn dein Tischerl, ich krieg’ ja die rote Farb’ kaum weg“, schimpft sie und reibt an den dicken Strichen, die Fritz darauf gemalt hat. Drei Striche sind es. Einer für jede Woche, die seit dem Brief vom Jakob vergangen ist. Nur noch einer bis zum nächsten Brief … Fritz sieht die Striche unter Mias Reibbürste verschwinden, wartet, bis die Mia ihrerseits verschwindet, holt Ottos Taschenmesser aus dessen Schreibtischlade und säbelt drei tiefe Linien in sein Kindertischerl.
Die entdeckt die Mia, als es Abend wird. „Mein Gott, Bub, was ist denn in dich gefahren? Das krieg’ ich jetzt nimmer weg“, jammert sie. „Das musst du schon der Mama beichten …“ Fritz schüttelt heftig den Kopf. „Dann muss ich es ihr sagen“, droht die Mia. Oje. Sehr schlecht. Die Mama wird so lange fragen, bis er die Wahrheit sagen muss. Schluss mit Geheimnis. „Bitte, Mia, sag’s nicht der Mama, es ist … ein Geheimnis“, fleht er. Die Mia ist auch eine von denen, die mit dem Herzen hören und mit ihren wunderschönen Schwarzkirschenaugen in Kinderseelen hineinsehen kann. „Ist es ein helles Geheimnis oder ein dunkles?“, fragt sie den Fritz. „Ein ganz helles“, sagt der Bub – und seufzt erleichtert auf, als die Mia sagt: „Na gut, dann kannst du es behalten.“
Und dann ist es Ende Mai geworden. Im Garten beginnen die Rosen zu blühen, der Flieder ist fast hinüber. Wenn er abblüht, der Flieder, riecht er besonders stark und süß. Der Fritz beugt sich weit aus dem Fenster, schnuppert in den Abend und lauscht. Der Otto ist irgendwo in Döbling mit dem Fahrrad unterwegs, aus der Küche hört man Teller klappern, sonst ist es still. Bald müsste man Papas Schritte in der Einfahrt hören. Heute ist ja der Tag, an dem ein Brief vom Jakob gekommen sein könnte. Hat der Papa in Aussicht gestellt. Weshalb der Fritz ohne Widerrede die Abendwäsche und das Zähneputzen hinter sich bringt und sich ohne Ermahnung mit einem Bilderbuch in sein Bett verzieht. Was wiederum die Mia erstaunt.
„Hast was angestellt?“, fragt sie.
„Iiiich?“ Wenn der Fritz das „i“ ganz, ganz langzieht, fangt die Mia meistens an, nach Missetaten zu forschen. Heute forscht sie nicht, heut’ muss sie heimlich lachen. Und geht. Warum? Wer weiß …
Da! Papas Schritte auf der Stiege. „Guten Abend, Herr Doktor.“ Das ist die Juli.
Türengeklapper. Am Ende geht der Papa gleich zur Mama? Nein, die Parketten krachen, er kommt näher. Die Tür geht auf, da steht er, schmunzelt und klopft auf sein Sakko. Ja! Der Brief ist da! Deutlich sichtbar ragt er aus der Rocktasche. Fritz holt tief Luft und atmet laut aus. Vor Erleichterung.
„Ist er lang, der Brief, Papa?“
Der Vater holt den Brief aus der Tasche, entrollt ihn und zählt die Blätter.
„Sehr lang. Fünf Seiten“, sagt er und setzt sich auf Ottos Bett, das dem von Fritz gegenübersteht. Der Otto hätte zwar schon gern sein eigenes Zimmer, die Wohnung der Eltern ist nämlich groß, ein ganzes Stockwerk groß, und ein eigenes Zimmer für Otto ginge sich locker aus, aber die Eltern finden, das sei nicht notwendig.
„Also“, sagt der Fritz. Er sitzt quer auf seinem Bett, die Füße baumeln über den Bettrand, das Nachthemd ist ordentlich über die Knie gezogen, Fritz ist bereit.
„Also was?“, fragt der Papa und schmunzelt.
„Lies! Bitte!“ Irgendwie hat Fritz das Gefühl, dass der Papa das Lesen absichtlich hinauszögert. Das machen die Erwachsenen manchmal, wenn die Kinder besonders ungeduldig auf etwas warten. Den Erwachsenen scheint es Spaß zu machen. Weihnachten zum Beispiel. Da raschelt es hinter der verschlossenen Tür, ja ja, das Christkind ist da, aber man muss warten, vielleicht zündet es grade die Kerzen am Christbaum an, man muss warten, bis es fortgeflogen ist, weil die Kinder es ja nicht sehen sollen, wegen der Überraschung … Das kann endlos dauern. Aber dann geht die Tür auf und neben dem Christbaum stehen Papa und Mama …
„Lies schon, Papa! Bitte!“
Der Vater holt die Brille aus der Rocktasche, hält sie gegen das Licht, um zu sehen, ob sie nicht trübe ist, was sie nie ist, weil die Brillen des Vaters immer sauber sind, dann setzt er sie auf die Nase, streicht den Brief glatt, räuspert sich und beginnt endlich langsam, als hätte er Mühe, die Schrift zu entziffern, vorzulesen.