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3 Angst FLORENZ 1910–1911
ОглавлениеOscar Grilli di Cortona war ein Mann, der sein Herz nicht auf der Zunge trug. Vielleicht gehörte es nicht zu seinem Charakter und Temperament, Gefühle zu zeigen und zu benennen, vielleicht waren sie auch unter dem Panzer verschlossen, den die Erziehung in seinen Kreisen jedem jungen Mann um die Brust legte, damit er ein brauchbarer Offizier und würdevoller Repräsentant seines Standes wurde. Nur eine Regung seines Herzens blieb seiner Umwelt nicht verborgen: seine Liebe zu Elena Wissotzky Poggio, genannt Nelly. Nelly war die Liebe seines Lebens. Sie war es als Lebende, und sie blieb es als Tote. Daran änderte sich auch nichts, als Oscar noch einmal heiratete. Jahrelang hatte er der geballten Übermacht seiner Freunde und Ratgeber Widerstand geleistet. Ein Mann, zumal einer in seiner Stellung, müsse verheiratet sein, und so wie bisher gehe es einfach nicht weiter, fanden sie. Oscar hätte gerne so weitergelebt wie bisher, beruflich erfolgreich, privat jedoch einsam und zurückgezogen. Aber schließlich kapitulierte er und ließ sich nach neun Jahren als Witwer zu einer zweiten Ehe überreden.
Er wählte Marguerite, eine Italienerin, Katholikin, Florentinerin, nichts lag näher. Am 1. Dezember 1910 wurde Hochzeit gefeiert, anschließend bezog das Paar ein Haus in der Via Leone X°, nicht weit von der Fortezza – und übernahm Magda in den neu gegründeten Hausstand, jedenfalls für die Sonntage. Tatsächlich war die Zehnjährige für Marguerite so etwas wie eine Altlast ihres Gatten. Nicht, dass sie Kinder nicht gemocht hätte; sie wurde in der Folgezeit selbst Mutter von drei Kindern und war in dieser Rolle nicht unglücklich. Doch Magda war die wandelnde Erinnerung an die erste Ehe ihres Mannes und – weit wichtiger – an die große Liebe ihres Mannes. Dass diese Liebe fortbestand und fortbestehen würde, war Marguerite bald klar. Oscar trug ein Foto von Nelly im Portemonnaie, ihren Ring am kleinen Finger, eine Locke in einer Kette um seinen Hals … dieser Mann, der alles andere als ein Romantiker zu sein schien! Es wurde eine Ehe, die Magda später als Tragödie beschrieb. Marguerite war buchstäblich krank vor Eifersucht. Ihre finsteren Gefühle bezogen sich dabei auf Nelly wie auf Magda, auch wenn das Kind niemals einen sichtbaren Beweis väterlicher Zuwendung oder gar zärtlicher Gefühle erhielt. Und sie ließen im Lauf der vielen Jahre ihrer Ehe niemals nach. Marguerites ängstliches Wachen über ihren Mann machte wiederum Magda eifersüchtig – und konnte doch Oscars Bindung an Nelly nie aus der Welt schaffen. Auch als alter Mann las er noch die Briefe, die seine Verlobte ihm vor Jahrzehnten geschrieben hatte, mehr noch: Er schrieb sie alle von eigener Hand ab. Wieder und wieder versuchte er Nellys Unterschrift zu kopieren – wenigstens das letzte Wort sollte wie von ihr geschrieben aussehen. Nach seinem Tod gingen alle Briefe und das Medaillon mit der Locke in Magdas Besitz über.
Wer fast acht Jahre alt war, den hielt man in den besseren Florentiner Kreisen für alt genug, um das Haus zu verlassen und der höheren Bildung den notwendigen Tribut zu entrichten. Und so kam Magda in eine Internatsschule, die von deutschen Diakonissen geleitet wurde, das Istituto delle Diaconesse di Via Santa Monica auf der anderen Seite des Arno. Die aus der Nähe von Düsseldorf stammenden Kaiserswerther Schwestern hatten im Jahr 1860 ein »Lehr- und Erziehungshaus« gegründet, in dem sie toskanischen Kindern – Florenz gehörte noch nicht zum Vereinigten Italien – eine elementare Schulbildung vergleichbar den heutigen Grundschuljahren boten. Sie endete mit einer Prüfung an einer staatlichen Schule, und für die meisten der Schüler war die Schullaufbahn damit auch schon abgeschlossen.
Als Magda 1909 hier Schülerin wurde, waren fast alle Diakonissen alt, einige kannten sogar Magdas Großmutter, Nonna Grilli, noch als Schülerin. Magda war die Jüngste der Elevinnen, und ihr Bett im großen Schlafsaal war so hoch, dass sie mit Anlauf hineinspringen musste. Am Morgen musste dieses Bett sorgsam gemacht werden und durfte keinesfalls an den Kanten Betttuch-»Würstchen« aufweisen. (Das deutsche Wort »Würstchen« vergaß Magda nie wieder.) Jeden Donnerstagabend durften die Kinder Besuch empfangen, und zwar im kühlen, dunklen »Saal der Kaiser«, deren Porträts streng von den Wänden blickten. – »Vielleicht bin ich deshalb Republikanerin geworden?«, notierte Magda später.
Immer zuverlässig und pünktlich erschien hier donnerstags Grand-Maman, erkundigte sich nach diesem und jenem und vertröstete das heimwehkranke, unglückliche Kind dann auf den Sonntag, an dem sie sich wiedersehen würden – vorausgesetzt, Magda verhielte sich bis dahin tadellos. Am Sonntag nicht nach Hause zu dürfen, war die übliche Strafe für unerlaubtes Verhalten.
Aber auch der Sonntag begann erst einmal bei den Diakonissen, denn es war Grand-Maman, die zur Sonntagschule ins Internat kam, um den Gesang der Kinder auf dem Harmonium zu begleiten.
Damit war die sonntägliche Pflicht jedoch noch längst nicht abgearbeitet. Nach der Sonntagschule ging es nämlich keineswegs gleich zum Mittagessen in Papas Haus. Erst besuchte Grand-Maman zusammen mit der Enkelin den Gottesdienst der sogenannten Schweizer Kirche, der Waldensergemeinde, in der die beiden nahezu eine Stunde lang einer französischen Predigt lauschten beziehungsweise deren Ende herbeisehnten. Spätestens jetzt wurde Magda unruhig, denn sie wusste, dass die Zeit drängte: Zum Abendessen musste sie wieder im Internat sein. Schon bald nach dem Essen mit Papa und Marguerite »überkam mich ein Gefühl, als würde sich mein Herz zusammenziehen, meine Hände fühlten sich kalt an und verkrampften sich. Gleich musste ich zurück in die enge Gasse Santa Monica!«, schrieb sie später.
»Denk am Dienstag an mich«, sagte Grand-Maman, wenn sie Magda gegen Abend zurückbrachte, »dann bin ich ganz in deiner Nähe«.
Einmal in der Woche verteilte Grand-Maman Lebertran an die Kinder des angrenzenden Armenviertels San Frediano. Es war eine wohltätige Aktion der Heilsarmee – wie gerne wäre Magda eins der armen Kinder gewesen, die in Grand-Mamans Nähe sein durften! Stattdessen saß sie in einem finsteren Palazzo und dachte intensiv an ihre Großmutter, die nur einige Schritte entfernt war, ohne dass sie das Recht hatten, einander zu sehen.
Das Istituto delle Diaconesse war eine protestantische Insel im katholischen Florenz. Wer sein Kind nicht »tiefkatholisch« erziehen lassen wollte, hatte nicht gerade die Wahl. Oscar hatte eine englische Großmutter und gehörte deshalb zur Anglikanischen Kirche. Grand-Maman war in der russisch-orthodoxen Kirche aufgewachsen, dann aber in Italien evangelisch geworden und gehörte zur Waldenserkirche. Der Pfarrer der Waldensergemeinde war es auch, der Nelly beerdigt und nach der Beerdigung gefragt hatte: »Ist das Neugeborene eigentlich schon getauft?« Natürlich hatte niemand bei all der Sorge um die schwerkranke Mutter an eine Taufe des Kindes gedacht, also taufte der Pfarrer Magda noch am Tag der Beerdigung, so dass Magda nun auch Protestantin war.
Nicht so wie die anderen zu sein, gehörte für Magda zu den grundlegenden, prägenden Erfahrungen ihres Lebens. Nicht wie das Volk, sondern adelig, nicht wie alle anderen katholisch, sondern protestantisch, nicht nur aus einer Florentiner Familie, sondern auch aus einer russischen – all das machte aus ihr etwas Besonderes, legte aber auch eine schwere Last auf die kindlichen Schultern. Das Leben der Florentiner Normalbürger schien ihr keineswegs uninteressant oder gar minderwertig zu sein, sondern gerade, weil sie es kaum kannte, oft geheimnisvoll und voller wundersamer Möglichkeiten.
Da war zum Beispiel das Gebet für die Toten: »Ada Gay (eine Mitschülerin, die beide Eltern verloren hatte) und ich hatten während der Zeit bei den Diakonissen entdeckt, dass es ein Gebet für die Toten gab. Die Toten kamen entweder in die Hölle oder ins Paradies, meistens jedoch ins Fegefeuer. Dieses Gebet konnte ihnen helfen, aus dem unbequemen Ort zu Gott aufzusteigen. Was für ein Glück! Jetzt konnten wir unseren Mamans helfen, in den Himmel zu kommen! Wir waren nicht katholisch, aber wir rezitierten doch einen Teil des Gebets in einem selbsterdachten Fantasie-Latein.«
Bald darauf hörte Magda, dass alle Protestanten für die Hölle bestimmt seien. War Maman also doch nicht im Fegefeuer, und konnten die Gebete ihrer Tochter gar nichts mehr bewirken? Magda erkundigte sich und erfuhr, dass diejenigen, die in ihrem Erdenleben niemals Die Wahrheit (Mit großem D) gehört hätten, doch ins Fegefeuer und nicht direkt in die Hölle kämen. Hatte ihre Mutter Die (katholische) Wahrheit gehört? Magda wollte lieber gar nicht darüber nachdenken.
Neben der tröstlichen Einrichtung des Fegefeuers hatten die Katholiken auch Feiertage, die den Protestanten nicht vergönnt waren. Bei den Diakonissen waren die ganz im deutschen Stil gefeierten und von den Kindern geliebten Nikolaus- und Weihnachtsfeste die Höhepunkte des Jahres. Am 15. August dagegen – an Mariä Himmelfahrt – musste Magda mit Grand-Maman mitten in den Ferien und in der größten Hitze für die Schule lernen. Dabei gefiel ihr dieses Fest ganz besonders, auch wenn sie wusste: Für die Evangelischen ist Jesus in den Himmel aufgestiegen, für die Katholischen tat es die Jungfrau Maria.
»Sie schien mir sehr anziehend, diese Jungfrau Maria! Ein Kind auf dem Arm haltend, lächelte sie. Sie war eine Mutter. Sie war interessanter als Jesus. Mir fehlte eine Mutter und nicht ein Mann, ein Jesus am Kreuz mit schrecklichen Wunden. In den katholischen Kirchen waren auch viele dieser blutenden Gekreuzigten zu sehen, aber der kleine Jesus auf dem Arm seiner Mutter, das war gut, das war schön, das war so sanft. Die Jungfrau, die Mutter zertrat mit ihren kleinen Füßen aus rosa Wachs eine Schlange. Die Schlange war schrecklich, Angst einflößend und gefährlich, aber die Mutter von Jesus trat das Böse tot, zwang seinen Kopf in den Staub. Das gefiel mir!
Die evangelischen Kirchen waren trist und streng, die katholischen Kirchen waren schön, bunt, vergoldet, voller leuchtender Kerzen. Da gab es Blumen, die gut dufteten, und Weihrauch, der den Geruch der Kirche bestimmte, auch wenn kein Gottesdienst war, ein geheimnisvoller Duft, den es nirgendwo sonst gab. Reichte das aus, um katholisch werden zu wollen? Die Angst vor der Hölle und die Schönheit der Kirchen – war das Grund genug?«
Marguerite, der katholischen Stiefmutter, war Magdas Zuneigung zu allem Katholischen jedenfalls sehr recht, und sie war es auch, die dafür sorgte, dass Magda nach dem Abschluss bei den Diakonissen in das Istituto Frascani Signorini kam, eine katholische Privatschule. Und tatsächlich reifte in Magda der Wunsch, wie alle anderen Kinder die Kommunion zu feiern, ein weißes Kleid zu tragen, einfach richtig dazuzugehören. Zu Hause, wenn man denn Papas Wohnung ein Zuhause nennen konnte, gehörte sie weniger denn je dazu. Marcella, die erste Halbschwester, war geboren, und die Amme und das Baby hatten Magdas Zimmer übernommen. In ihrem neuen Zimmer, einem kleinen, dunklen Raum am Ende des Flures, der zum Hof hin führte, stand Magda noch größere Ängste aus als die, unter denen sie ohnehin von klein an gelitten hatte.
»Die Angst nahm zu. Nachts lag ich lange Stunden mit weit geöffneten Augen auf dem Rücken, weil ich sowohl die rechte als auch die linke Seite meines Bettes überwachen musste. Ich wünschte mir so, das Bett würde wenigstens mit einer Seite an der Wand stehen, dann hätte ich mich auf die Seite legen und etwas entspannen können, weil ich nur noch eine Seite zu überwachen gehabt hätte. Aber nein, das ginge wegen des Putzens nicht, sagte man mir, und überhaupt sei das alles Blödsinn.
Ich hatte zwei elektrische Drähte am Bett festgemacht, einen, der zum Licht führte, und einen, der zur Klingel führte, mit der man damals ›la Bonne‹ herbeirief. Im Dunkeln machte ich mir Sorgen: Waren die beiden Drähte noch an ihrem Platz? Ich musste noch einmal nachgucken, und beim Nachgucken lösten sich die Drähte, also musste ich sie wiederfinden, nehmen und neu festmachen.
Als ich klein gewesen war, hatte ich mir gesagt: ›Ich habe Angst, aber jetzt schläft die Gouvernante neben mir, und später wird mein Ehemann neben mir schlafen.‹ Doch wie viele unruhige, schreckliche Nächte lagen zwischen der Gouvernante und dem Ehemann!
In manchen Nächten, den schlimmsten, stand ich auf und ging, den Rücken immer an der Wand, bis zur Toilette. Dabei musste ich das Stück Wand rechts und links und den Raum vor mir beobachten. Was gab es da zu beobachten? Genau das war das Problem, diese Angst vor allem und vor nichts, die Angst vor dem Unerklärlichen.«
Ob ein Wechsel zum katholischen Glauben diese Ängste aus der Welt schaffen konnte? Magda hoffte es. Grand-Maman sagte angesichts all der Konflikte, die es in der Familie ohnehin schon gab, lieber nichts dazu. Und Papa Oscar hielt es, wenn er es genau bedachte, eigentlich für eine gute Idee: Eine katholische Tochter war sicher leichter zu verheiraten.