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6 Geboren werden SAINT-QUENTIN 1901–1910
ОглавлениеAndrés Geburtshaus liegt nur wenige Meter von den Champs-Elysées entfernt. Das hört sich großartig an, ist es aber nicht. Denn nicht nur die Pracht-Avenue in Paris heißt Champs-Elysées, eine der größeren Straßen von Saint-Quentin heißt genauso. Und Saint-Quentin ist ein Industrieort im Norden Frankreichs, nicht weit von der belgischen Grenze. Keine Schönheit und wenn berühmt, dann von trauriger Berühmtheit. Die Stadt liegt nicht weit entfernt von der Somme, und der Name dieses Flusses weckt bis heute dunkle Erinnerungen. Schon während der Religionskriege, mehr als dreihundert Jahre vor Andrés Geburt, spielte Saint-Quentin als Grenzort eine Rolle. Damals ging es noch um die Grenze zwischen katholischen und protestantischen Ländern. Protestantische Weber flohen aus den zu dieser Zeit katholischen Niederlanden. Sie brachten nicht nur protestantische Gesangbücher mit, sie beherrschten auch eine eigene Kunst: das Weben feiner Stoffe. Die Textilindustrie bestimmte fortan die Geschichte der Stadt und damit, Jahrhunderte später, auch das Leben der Familie Trocmé. Paul Trocmé, Andrés Vater, war ein echter Sohn seiner Stadt. Er war Protestant, und er war in dritter Generation Inhaber einer Textilfabrik. Das (Wohl-)Leben der Familie fußte auf feiner Spitze und wollenem Tuch, wobei beides nicht nur produziert, sondern auch sehr erfolgreich an gediegene und vermögende Pariser Kunden verkauft wurde.
Auch wenn die Champs-Elysées von Saint-Quentin nur ein Abklatsch der »echten« Champs-Elysées waren – das Haus der Trocmés konnte sich sehen lassen. Achtzehn Zimmer hatte es – die Küche und die Hauswirtschaftsräume nicht mitgerechnet –, zwölf davon waren Schlafzimmer. Die Familie war nämlich nicht nur materiell reich, sie war auch kinderreich: Sieben Söhne und zwei Töchter bevölkerten das Haus, auch wenn der Altersabstand der Kinder so groß war, dass nie alle gleichzeitig zu Hause wohnten. Dafür war bei der Ankunft des letzten Kindes auch schon das erste Enkelkind auf der Welt. Weil es ein Ostersonntagmorgen war, als André, der Jüngste, geboren wurde, bekam er gleich einen zweiten Namen: Pascal, der Österliche. Auf Bildern erkennt man ihn an seinen langen blonden Locken, die ihm bis auf die Schultern fallen.
Das alles hört sich nach einer unbeschwerten Kindheit im munteren Kreis vieler Geschwister an – und ist leider weit gefehlt. »Es war kein fröhliches Haus«, schrieb André in seinen Erinnerungen. Und die nahen Champs-Elysées nennt er »la grande promenade mélancolique«.
Was war so niederdrückend am Leben in diesem großen Haus mit seinem parkartigen Garten?
»Ich bin in der strengen religiösen Atmosphäre einer hugenottischen Familie aufgewachsen. Höher als alles in der Welt setzte mein Vater den Begriff der Pflicht. Noch ganz jung, lernte ich, das Böse zu hassen: nicht das Böse, das man bei den anderen sieht, sondern das Böse, das man selbst tut.«
Da war zum Beispiel die Geschichte mit den Butterkeksen. Sie spielt in einer Zeit, als man es ganz normal fand, dass die Erwachsenen etwas Süßes essen, während die Kinder große Augen machen und hoffen, bald groß zu sein, damit sie auch so etwas Gutes bekommen. Andrés Vater hatte die Gewohnheit, nach dem Mittagessen einen Kaffee zu trinken und dazu einen »Petit Beurre LU« zu essen, einen schlichten, zeitlosen Butterkeks, der auch heute, hundert Jahre später, nicht anders aussehen dürfte als damals. Einen zweiten Keks dieser Marke gab es gegen Abend zum Tee. Außerhalb dieser Zeiten befand sich die Keksdose im Esszimmer oben auf dem Buffet.
Schon einige Male hatte André vor dem Zubettgehen ein oder zwei Kekse aus dieser Dose entwendet und sie unter das Kopfkissen im Kinderzimmer geschmuggelt. Wenn Pierre, der Bruder, mit dem er das Zimmer teilte, durch regelmäßiges Atmen signalisierte, dass er schlief, zog André einen Keks unter dem Kopfkissen hervor und aß ihn, genauer: er lutschte ihn unendlich langsam und genussvoll.
Eines Tages wurde er vor seinen Vater zitiert. Eine Hausangestellte hatte einen angebissenen und halb zerkrümelten Keks in Andrés Bett gefunden. Offensichtlich war er während der »Tat« eingeschlafen.
»Stimmt es, dass du Kekse stiehlst?«, fragte der Vater.
»Nein, ich war es nicht«, antwortete André, krank vor Angst.
»Wie kommt es dann, dass in deinem Bett ein Keks gefunden wurde?«
»Vielleicht hat ihn jemand dort hingetan«, log André ein zweites Mal.
Wer der »Jemand« war, lag auf der Hand: Madeleine, Andrés um viele Jahre ältere Schwester, lebte mit ihrem kleinen Sohn im Haus, und der war ein temperamentvoller Feger, der es auf die Nerven des Großvaters abgesehen zu haben schien.
»Sie müssen André glauben«, sagte der Vater daraufhin zur Hausangestellten. »Er lügt nie.«
Während André wie versteinert im Zimmer stehen blieb, hörte er die Schreie des kleinen Jean, der im Nebenzimmer von seinem Großvater verprügelt wurde.
Es folgten Wochen der Todesangst, so beschreibt André es viele Jahre später. »Ich wusste jetzt, dass ich als ein ehrlicher Junge galt, der nie log. Und ich wusste, dass ich dieses Vertrauens nicht würdig war. Die Scham überwältigte mich, die Scham, als jemand zu gelten, der ich nicht war. Ich wusste – und das verursachte mir die meisten Schmerzen –, dass ich niemals den Mut haben würde, meine Feigheit zuzugeben. Ich war zu feige einzugestehen, wie feige ich war. Ich sah in die Abgründe der Sünde und wurde ein unglücklicher Junge, dem ständig die Schamröte ins Gesicht stieg und der im Auge der anderen immer eine Anklage zu entdecken meinte – und deshalb den eigenen Blick stets senkte.«
Warum nur konnte André mit seinem Vater nicht reden, auch nach Wochen und Monaten nicht? Und warum gab es offensichtlich auch keine andere Person im Haus, an die er sich hätte wenden können? Und wie kann es überhaupt bei einem Kind in diesem Alter dazu kommen, dass eine Keksdose mit dem Abgrund der Sünde verknüpft wird und dies schließlich zu einer tiefen Verachtung der eigenen Person führt?
Vielleicht kann man es am besten mit einer speziell protestantischen Form des Rigorismus’ erklären, die in dieser Zeit keineswegs selten war und die auch das Zusammenleben im Hause Trocmé bestimmte. Es war ein konsequent, aber ohne Barmherzigkeit gelebter Glaube, eine Frömmigkeit, die kein Pardon kannte. Jede kleine Sünde konnte der erste Schritt auf dem Weg sein, der in den Abgrund führte. Deshalb musste sie kompromisslos bekämpft werden.
Die Familie Trocmé stammte mütterlicher- wie väterlicherseits von Hugenotten ab, und das, obwohl Andrés Mutter Deutsche war. Der Vater war in erster Ehe mit Marie Walbaum verheiratet gewesen. Sie starb nach der Geburt des neunten Kindes im Alter von 44 Jahren. Seine zweite Frau, Paula Schwerdtmann, eine Lehrerin aus dem kleinen Petzen bei Bückeburg in SchaumburgLippe, war die Tochter eines lutherischen Pfarrers. Sie hatte mit Paul Trocmé zwei weitere Kinder, Pierre und André. Da zwei Kinder aus erster Ehe schon in frühem Alter gestorben waren, hatte die Familie Trocmé nun neun Kinder.
Bis an sein Lebensende behielt André die Besuche bei seinen Großeltern in Deutschland in seliger Erinnerung. Die beiden Alten waren der Inbegriff unerschütterlicher Pfarrersleute im klassischen deutschen Pfarrhaus. Hier war André glücklich: Diese Kaffeetafeln, dieser Zuckerkuchen! Und dann der Großvater, der im Ohrensessel die große Pfeife rauchte! Es war eine gemütliche Art des gottseligen Lebens, die er hier erlebte. Für ihn, der immer etwas ängstlich war, aber auch für seine Mutter, die mit ihm reiste, bildete die warme Welt des kleinen Dorfes Petzen einen wohltuenden Kontrast zur kühlen Atmosphäre des Vaterhauses.
Zurück in Saint-Quentin verwandelte sich Andrés Mutter wieder in die strenge Regentin eines großen Hauses. Von den Kindern wurde sie mit Mère angesprochen – im Gegensatz zur Mutter der älteren Geschwister, die Maman genannt worden war. Das Mieder der großen und stattlichen Frau war eng geschnürt, der Knoten stramm am Hinterkopf befestigt, und die Brille, Modell pince-nez – Nasenkneifer –, war auch nicht dazu angetan, ihr Gesicht weicher erscheinen zu lassen. Alle praktischen Dinge, die Kinder betreffend, waren Aufgabe der Kindermädchen Jeanne und Marie. Nicht la Mère, sondern sie putzten die Nasen, verbanden aufgeschlagene Knie und sorgten vor allem dafür, dass ihre Schutzbefohlenen sich in jeder Situation angemessen benahmen. Doch wenn Jeanne oder Marie die zwei Kleinen am Abend gebadet und ins Bett gebracht hatten, erschien la Mère, sang mit ihren Söhnen und las ihnen vor. Sie war es auch, die die Kinder früh zum selbständigen Lesen anhielt. Die Nähe dieser Mutter war etwas Besonderes, ihre Anwesenheit verbreitete einen Glanz, der wenige herausgehobene Stunden der Woche auszeichnete.
Die streng geordnete Welt der Familie Trocmé zerbrach am 24. Juni 1911.
Es war ein sonniger Samstag, der Johannistag und Sommerbeginn. Das Ehepaar Trocmé hatte mit den jüngeren Kindern im Landhaus der Familie übernachtet, in Saint-Gobain, gut dreißig Kilometer südlich von ihrem Stadthaus. Jetzt sollte es zurück nach Saint-Quentin gehen, aber das Wetter war einfach zu gut, um den direkten Weg zu nehmen. Paul Trocmé war es ein Vergnügen, seine Frau, seine zwei Söhne Pierre und André und Annette Seebas, eine Nichte seiner Frau, die gerade in Frankreich zu Besuch war, in sein neu erstandenes Automobil zu bitten. Es war ein Panhard & Levasseur von 1910, das erste Auto mit Vierzylinder-Schiebermotor – ein Wagen, der den Gipfel an Fortschritt und Eleganz auf dem Automarkt seiner Zeit markierte. Der hintere Teil, in den die Kinder kletterten, war geschlossen, die beiden vorderen Sitze dagegen wie die eines Cabriolets offen, beschattet nur durch das überstehende Dach der Kabine und von vorne geschützt durch eine halbhohe Windschutzscheibe. Zu der kleinen Extratour zwischen hohen Kornfeldern und blühenden Wiesen setzte sich Madame Trocmé auf den Beifahrersitz, während Monsieur das Lenkrad in die Hand nahm.
Es war eine traumhafte Fahrt – bis ihr Wagen von einem kleineren Auto überholt und von einer Staubwolke eingehüllt wurde. Wer war da so frech und außerdem schneller als ihr Panhard & Levasseur? Paul Trocmé trat aufs Gas. Gleich würde man sehen, dass eine Luxuslimousine sich nicht von einer Klapperkiste beleidigen ließ. Die Kinder im Fond schrien vor Vergnügen. Zeig’s ihm, Papa!
»Und dann passierte es«, schreibt André in seinen »Erinnerungen«. »Das, was von alters her vorherbestimmt war: dass Papa Mutter zu Tode bringen würde. Seitdem bin ich hundert, ja tausend Male gestorben, auch ich, bei diesem Unfall. Ein schreckliches Kreischen von fünf Wesen in Todesangst. Etwas, das wie ein riesiger Hammer – woher kommt er bloß? – auf uns einschlägt. Unermesslich groß, brutal und gleichzeitig so ironisch, so unbeteiligt. Es, das man den Tod nennt, und das Niemand ist, noch nicht einmal ein Knochenmann mit Sense, mit dem man wenigstens diskutieren könnte. Es, ein Nichts, hat uns zerstört, zermalmt und dann auf verbeultem Blech liegen lassen. Kein Ton mehr, außer den Grillen, die in den Wiesen zirpten, und dem Benzin, das aus dem Tank tropfte … Tausend Mal bin ich mit Mutter gestorben.
Dann die ersten Bewegungen, stöhnend, auf dem Boden kriechend. Diese schreckliche Anstrengung, dem Tod zu entkommen. Die drei Kleinen und Papa, der sein gebrochenes Handgelenk hielt, zitternd richteten sie sich neben der verbogenen Karosserie auf, und dann begannen sie zu lachen wie die Verrückten, weil sie noch lebten.
Erst jetzt sah einer von uns Mutter. Nein, da war sie es schon nicht mehr. Auf der Straße, zehn Meter hinter uns, ruhte ein großer, im Staub gewälzter Körper. Die Beine leicht gespreizt, ein Faden Blut, der aus der rechten Mundecke rann. Die Augen geschlossen. Nicht wie zum Schlaf geschlossen, sondern wie die Fenster eines Hauses, das vor langer Zeit verlassen wurde. Auf dem Gesicht ein teilnahmsloser, hochmütiger Ausdruck, das Zeichen des Es, das Nichts ist. Das nervöse Lachen der Überlebenden verwandelte sich in stummes Schluchzen, die Kiefer aufeinandergepresst, um nicht zu schreien, um nicht noch mehr zu zittern.
Ein Arzt. Ein Taxi, das aus dem Nichts auftaucht. Und plötzlich, auf einen Schlag, in einem einzigen Schrei habe ich alles verstanden, alles ermessen: Ich hatte keine Mutter mehr. Mir schmerzte der Körper, das Herz, die Seele, und ich war geboren, ich war ein Mann.«