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1 Gefunden NEW YORK 1926

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Er war groß, und mit seinen langen Beinen machte er so große Schritte, dass er nach einigen Metern schon wieder vor ihr her ging, statt neben ihr zu gehen. Dabei war es der erste Spaziergang, den er je mit einer Frau machte, und er wünschte sich nichts mehr, als ihr nah zu sein.

»Sie ist es! Sie ist es!« Kein Hauch eines Zweifels mehr. Nichts als Jubel. Vierzig Jahre später hielt er schriftlich fest, was er an diesem Abend empfand. »Sie gehört zu mir und ich zu ihr!«

Sie gingen die Amsterdam Avenue im Nordwesten Manhattans entlang. Beide fühlten sie sich immer noch neu und fremd in dieser riesigen Stadt, dabei lebten sie nun schon Monate in New York, er als Theologiestudent, sie als angehende Sozialarbeiterin. Das Studienjahr würde bald vorbei sein, aber erst jetzt, vor ein paar Tagen, hatten sie bei einer gemeinsamen Exkursion die ersten Worte gewechselt. Sie waren mit dem Zug nach Washington gefahren und hatten dies und jenes besichtigt. Die National Cathedral, den Militärfriedhof von Arlington, das Landhaus von George Washington – sie hatten alles für Touristen Wichtige gesehen und langen Erklärungen gelauscht. Doch zumindest er hatte das alles nur als Kulisse wahrgenommen. Wirklich gesehen hatte er nur sie, im einen Moment fasziniert, im anderen schockiert. Sie war schön. Aber sie rauchte, und er konnte rauchende Frauen nicht ausstehen. Sie war Italienerin und sprach Englisch wie Französisch mit einem herben italienischen Akzent. Sie hatte lebhafte, intelligente Augen. Aber sie schien voller Unruhe zu sein, innerlich immer auf dem Sprung.

Seine Beobachtungen hatten ihn so aufgewühlt, dass er, ohne den Mitreisenden ein Wort zu sagen, vorzeitig nach New York zurückgefahren war. In einer schlaflosen Nacht hatte er sich wieder und wieder dieselben Fragen gestellt: Passt diese Frau zu dem Leben, das ich führen will? Kann man wie Gandhi leben und gleichzeitig verheiratet sein? Kann man sich überhaupt als Familie einem Leben in Armut verschreiben? Und die Weltreise nach dem New-York-Jahr? Der Besuch bei Tagore? – Egal, darauf würde er einfach verzichten. Doch wenn er eines Tages in Frankreich reformierter Pfarrer sein würde … Könnte Magda die klassische Pfarrfrau abgeben? Schwer vorstellbar. Erstaunlicherweise schien sie ja Italienerin und trotzdem evangelisch zu sein. Nach dem zu urteilen, was sie in Washington geäußert hatte, bewegte sie sich allerdings eher am Rande des christlichen Glaubens. »Ich ziehe es vor, meinen Glauben nicht zu definieren«, hatte sie gesagt, und dann hatte sie sich sehr kritisch zur Kirche geäußert.

Aber jetzt, hier, auf der Amsterdam Avenue plötzlich dieses Emmaus-Gefühl. So nannte er es später in seinen »Erinnerungen«. Da war sie, diese überwältigende, alle Zweifel beiseite schiebende Gewissheit: Ich habe das gefunden, wonach ich schon immer gesucht habe!

Heute nun war André zum International House gegangen, in dem Magda wohnte. Er hatte ein Treffen der »Washington-Freunde« angeregt (ausgerechnet er, der überstürzt abgereist war!), ein gemeinsames Abendessen. Doch als er im Foyer des Studentenwohnheims stand, ließen sich alle entschuldigen. Der Schweizer Mitreisende war verhindert, der russische Student krank, und auch Magdas Freundin, mit der sie im Zug nach Washington so hemmungslos laut gelacht und ungeniert geraucht hatte, ließ sich entschuldigen. Im Foyer standen nur sie zwei: Magda und André.

»Ja, dann, Mademoiselle …«, sagt er und schaute von oben mehr auf den Scheitel ihrer schwarzen Haare als in ihr Gesicht. Ein plötzlicher Fluchtimpuls ergriff ihn. »Bis ein andermal«, wollte er gerade sagen, doch sie kam ihm zuvor.

»Dann besuchen wir eben Skitzky«, sagte sie, zum Aufbruch bereit. Skitzky war der kranke russische Student.

Sie besuchten den Kranken, genauer: Magda nahm Anteil am Ergehen des Patienten, redete, lachte, diskutierte. Wie schon in Washington ging es um Gott und die Welt, das große Ganze, Entwicklungen in Amerika und Europa, das Leben, das sie führten, und das Leben, das sie führen sollten und wollten. André sagte auch ein paar Sätze, aber vor allem beobachtete er Magda. Dann standen sie wieder auf der Straße und gingen parallel zum Hudson in Richtung International House.

»Sobald wir zusammen waren, überwältigte mich ein Gefühl der Nähe, fast könnte man sagen: der Identität«, schrieb er später. »Doch plötzlich ergriff mich Panik. Wenn ich so weitermache, sagte ich mir, werde ich ihr gleich meine Liebe gestehen. Ich werde es nicht schaffen, es nicht zu tun. Dabei bin ich nicht bereit. Ich habe noch nicht genug nachgedacht. Ich will mich nicht binden.«

Er blieb stehen. »Es tut mir leid, Mademoiselle«, sagte er leise, »aber ich glaube, es ist besser, wenn ich Sie niemals wiedersehe. Entschuldigen Sie mich.« Nicht einmal zu einem Händedruck blieb er noch stehen. Einige große Schritte, und er war verschwunden.

»Ich habe kein Wort von seinem französischen Gemurmel verstanden«, gestand sie später.

Er hatte sein Studentenzimmer noch nicht erreicht, als er sich von einem Gefühl der Zerrissenheit und der Verzweiflung überwältigt fühlte. Er stürmte in sein Zimmer, setzte sich aufrecht hin, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, sich zu konzentrieren, zu beten. Das Gesicht seines Vaters tauchte vor ihm auf. Wie sollte er ihm je erklären, dass er diese keinesfalls lupenrein protestantische Italienerin heiraten wollte? Geschichten, die man zu Hause bei Tisch erzählte, fielen ihm ein. Von Pfarrern, die ihren Dienst durch die Wahl der falschen Frau ruiniert und ihre Berufung zunichte gemacht hatten. Aber diese Italienerin … War sie nicht unglaublich idealistisch, hilfsbereit, großzügig …?

Und ich lasse sie allein im Dunkeln zum International House laufen!, durchfuhr es ihn. Ich ungehobelter Trottel!

Er sprang auf und lief Richtung Hudson. Natürlich war weit und breit keine Spur mehr von Magda. Sicher war sie längst zu Hause. Im großen Saal des International House brannten die Lichter. Freitagabends wurde hier getanzt.

»I want to see Miss Grilli«, sagte er der Dame, die neben dem Aufzug saß und darüber wachte, dass kein männliches Wesen das Stockwerk mit den Mädchenschlafsälen erreichte.

»It is impossible, Sir. You know the rules.«

Er wandte sich um und stand Elizabeth gegenüber, der meistumschwärmten Studentin des Hauses. Sie musterte ihn streng.

»Sie sind es also«, sagte sie knapp.

»Ja. – Aber wo ist Miss Grilli? Ist sie zurückgekommen?«

»Natürlich ist sie zurückgekommen. Aber in Tränen aufgelöst. Was haben Sie ihr getan?«

»Könnten Sie sie vielleicht bitten, herunterzukommen?«

Und dann stand Magda vor ihm.

»Sie haben also an mich gedacht?«, fragte André vorsichtig.

Sie nickte stumm.

»Ich muss noch nachdenken«, sagte er. »In ein paar Tagen würde ich Sie gern wiedersehen.«

Er setzte sich eine Frist von zwei Tagen. Bis Sonntagabend wollte er in seinem Kopf und in seinem Herzen Ordnung geschaffen haben. Er schloss sich in sein Zimmer ein, nahm ein weißes Blatt Papier, teilte es durch einen Strich in eine rechte und eine linke Hälfte, schrieb »Pro« und »Kontra« über die Spalten, versuchte vergeblich zu beten, ließ es dann sein und füllte die Pro-Spalte in einem Rutsch von oben bis unten.

Am Sonntag, dem 18. April 1926, gleich nach dem Gottesdienst rannte er die Außentreppe zum International House hinauf.

»Was ist los, Troc? Du siehst so zufrieden aus!«, rief ein Student ihm zu.

»Allerdings!«, gab er lachend zurück. »Ich werde mich gleich verloben!«

Keine Sekunde kam ihm der Gedanke, dass die Frau, für die er sich entschieden hatte, etwas anderes als Ja sagen könnte.

Mademoiselle Grilli di Cortona hatte ihn erwartet. Das klassische Kostüm ließ sie noch schmaler wirken als sonst. Sie zog einen hellen Kamelhaarmantel darüber und setzte einen Filzhut auf, der den Kopf wie eine runde Kappe umschloss. Ganz ruhig waren ihre Hände nicht – die große Nadel, die ihren Haarknoten befestigen sollte, stach durch den Filz. Sie lächelte und zuckte dann kurz mit den Schultern. Sie war bereit. Schweigend verließen die beiden das Haus. Schweigend gingen sie zur 125. Straße hinunter. Schweigend setzten sie sich nebeneinander auf eine Bank der Fähre und beobachteten, wie sie dem jenseitigen, schon zu New Jersey gehörigen Ufer näher kamen. Dort, wo heute Hochhäuser auf den Hudson blicken, fanden sie zwischen hohem Gras und struppigen Sträuchern auf einem Felsen ein stilles Plätzchen.

»Wollen Sie meine Frau werden?«, fragte André. »Ich werde protestantischer Pfarrer sein, und ich möchte ein Leben in Armut führen. Ich bin Kriegsdienstverweigerer, und das kann mich ins Gefängnis und in alle möglichen Schwierigkeiten bringen.«

Es war der Tag, an dem sie sich zum dritten Mal sahen.

Sie sagte nicht Ja. Sie sagte auch nicht Nein. Sie begann mit einer Aufzählung aller Dinge, die gegen ihre Verbindung sprachen. Es war eine lange Liste. Sie begann mit schweren Kindheitserfahrungen und endete mit einem Hinweis auf ihre schwache Gesundheit und auf ein unerklärliches Fieber, das sie jeden Abend heimsuche. Als sie mit ihrer Aufzählung fertig war, schwieg sie kurz. Dann sagte sie: »Wenn Sie Ihren Antrag dennoch aufrecht erhalten möchten, werden wir das Weitere sehen.«

Ich dachte, dass sie stark ist, ging es ihm durch den Kopf, aber sie ist schwach. Ich wollte mich auf sie stützen, aber sie wird sich auf mich stützen müssen. Werde ich je genug Stärke für zwei Menschen besitzen?

Aber da saß sie, ehrlich, ernsthaft, schwach, die Frau, die er liebte.

Ja, das ist es, was ich möchte, dachte Magda. Leben und arbeiten mit diesem Mann.

»Et voilà«, notierte sie in ihren Erinnerungen, »von diesem Tag an betrachteten wir uns als verlobt.«

Die Neuigkeit machte die Runde, und im Union Seminary, dem theologischen Seminar, an dem André studierte, wurde gut gelaunt gefeiert. Seiner Familie machte André monatelang keine Mitteilung. So lange, dass Magda glaubte, er stehe nicht zu ihrer Verbindung. Da setzte er sich hin und schrieb seinem Vater einen Brief mit drei Punkten: 1. sei er verlobt, 2. beabsichtige er, in den USA zu heiraten, 3. habe das Paar vor, nach Frankreich zurückzureisen, allerdings auf dem Weg über Indien, und da das Geld für eine solche Weltreise sicher nicht reichen werde, wolle man auf dem Schiff eine Arbeit annehmen.

Die Antwort kam prompt: Frankreich fehle es nicht an Weltenbummlern, Frankreich fehle es an protestantischen Pfarrern, die ihrem Auftrag und ihrer Pflicht nachkämen.

Dass der einundachtzigjährige Monsieur Trocmé glaubte, sein Sohn habe seine »Maitresse« geschwängert und müsse jetzt eilends in den USA heiraten, erfuhr André erst später.

Von Liebe und Widerstand

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