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2 Männerwelten, Frauenwelten FLORENZ UND ROM 1901–1909

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Vittorio Emanuele Ferdinando Maria Gennaro di Savoia, genannt Viktor Emanuel III., der König von Italien, war prächtig anzusehen. Die kleine Magda stand vor seinem Abbild in Öl und staunte. Wer neben der Schärpe so viele Sterne, Bänder, Knöpfe, Medaillen und Troddeln trug, war zweifelsohne nicht nur der wichtigste, sondern sicher auch der stärkste Mann von Italien. Und gleich nach ihm kam Papa. Dass die beiden gute Freunde waren, sah man am Schnurrbart und an den Orden. Einen lustigen Bart hatte der König. Seine Spitzen waren nach oben gedreht, so dass sie genau auf die Ohren zeigten. Papas Schnurrbart war kürzer, und seine Ohren standen unter der Mütze auch nicht so ab wie die vom König. Deshalb sah Papa noch besser aus, obwohl er ein paar Orden weniger auf der Brust trug.

»Papa reitet mit seinen Soldaten an unserem Haus vorbei.« In einer ihrer ersten Kindheitserinnerungen steht Magda auf dem Balkon und schaut der Parade zu, die genau vor ihrem Haus entlangführt. Papa sitzt auf einem wunderschönen Pferd. Vor ihm her schreitet das Musikkorps. Papa ist ein Colonel. Magda weiß nicht, was das ist, aber es hört sich so ähnlich an wie colonna, Säule. Papa ist schlank und schön wie eine Säule. Er ist so wichtig, dass er nicht zu Hause wohnen kann. Papa passt nämlich auf das ganze Land auf.

Oscar Grilli di Cortona durfte von sich behaupten, tatsächlich zu den Säulen des italienischen Königreichs zu gehören. Zurzeit der Parade, an die sich Magda erinnerte, war er in der Fortezza von Florenz stationiert. Sie lag am Ende der Viale Margherita, in der auch das Haus der Familie stand. (Heute ist die Straße umbenannt, das Haus wurde abgerissen.) Im Stall der Fortezza stand Oscar Grillis schönes Pferd, und am Brunnen vor der Fortezza hatte Magda an guten Tagen das seltene Glück, auf andere Kinder zu treffen. Es gab kleine Kinder, die an der Hand ihrer Ammen zum Brunnen kamen, und es gab größere Kinder, die von ihren Gouvernanten begleitet wurden. Die Ammen erkannte man außer an ihrem großen Busen an ihrem reichen Schmuck. Für jeden Fortschritt des ihnen anvertrauten Kindes erhielten sie von ihrer Herrschaft einen glitzernden Dank: einen Armreif anlässlich des ersten Zahns, einen Anhänger, nachdem das Kind die ersten freien Schritte gemacht hatte, und so weiter. Fast alle Ammen sprachen Italienisch mit den Kindern, im Gegensatz zu den Gouvernanten, die selbstverständlich nur Französisch sprachen. Magdas Gouvernante war nach dem Vorbild der Gouvernante am Königshof eine Vaudoise, eine Frau aus einem der Waldensertäler des Piemont, gebildet, protestantisch und nicht ohne Stolz auf ihre Herkunft. Auf dem Weg zur Fortezza begegneten die beiden manchmal Kindern, die Florentinisch, den lokalen Dialekt, sprachen und – noch viel seltsamer als das – die ohne eine Gouvernante unterwegs waren! Wenn Magda stehenblieb und ein solches Kind anstaunte, wurde sie von ihrer Gouvernante sofort am Ärmel ihres Kleides weitergezogen. Nie kam es auch nur zu einem kurzen Dialog geschweige denn zu einem gemeinsamen Spiel. Ob sie einander überhaupt verstanden hätten?

»Wer kommt in meine Arme?« Ein schwarzer großer Mann steht am Ende eines langen dunklen Flurs, und er möchte, dass das kleine Mädchen in seine Arme läuft. Das ist Magdas zweite Kindheitserinnerung. Der Mann hat einen schwarzen Mantel an, der bis auf die Erde reicht, und auf seinem Kopf sitzt ein schwarzer hoher Hut. Das kleine Mädchen hat Angst und will auf keinen Fall tun, worum er bittet. Es weiß nicht, dass der schwarze Mann ein Mönch ist und zu der russisch-orthodoxen Kirche gehört, deren Gottesdienste einige Stockwerke unter der Wohnung der Familie Grilli in Rom stattfinden, in demselben Palazzo an der Piazza Cavour, nicht weit vom Vatikan. Es spürt nichts als Angst.

Oscar Grilli di Cortona war für wenige Jahre in Rom stationiert, aber »Rom« oder »Florenz« sagten der Drei- oder Vierjährigen natürlich nichts, sie kannte hier wie dort nur hohe Räume, unendlich lange, spärlich beleuchtete Flure, dunkelrote Teppiche und Aufzüge, die von den Gouvernanten Paternoster genannt wurden. Das Ambiente unterschied sich kaum, nur die Gouvernanten wechselten einander im Jahresrhythmus ab. Die aus dem Norden anreisenden höheren Töchter – das Wort »Au pair« war noch nicht erfunden – machten ihre »Italienische Reise« und besuchten auf Goethes Spuren Florenz, Rom und Neapel. Und dort, wo sie für einige Monate blieben, hüteten sie ein etwas verschrecktes Mädchen, dem sie das beizubringen versuchten, was sie selbst für das Wichtigste hielten. Im Fall eines »Fräuleins« aus Deutschland waren das deutsche Sätze in makellos schöner Schreibschrift. Nur eine junge Frau blieb Magda in guter Erinnerung: Hedwig, die Tochter des Erlanger Theologieprofessors Theodor Ritter von Zahn. Alle anderen erschienen ihr wie ein unabwendbares Schicksal.

Ja, hatte das Kind denn keine Mutter!?, möchte man rufen.

Nein. Magda wuchs in einer mutterlosen Welt auf. Nelly Wissotzky Grilli di Cortona, Magdas Mutter, war zehn Monate nach der Hochzeit mit Oscar Grilli und nicht einmal vier Wochen nach der Geburt ihrer Tochter im Alter von dreiundzwanzig Jahren gestorben.

Magdas Welt war eine mutterlose Welt, aber es war doch eine Welt voller Frauen.

Da war zunächst einmal Varia Wissotzky Poggio, genannt Grand-Maman. Sie war Magdas Großmutter mütterlicherseits und wohl diejenige im Grilli-Haushalt, die am ehesten in der Lage war, für die kleine Magda so etwas wie mütterliche Sorge zu empfinden und mit dem Kind eine emotionale Bindung einzugehen. Grand-Maman sprach Französisch mit der Enkelin und wurde von dieser selbstverständlich gesiezt. Manchmal wechselte sie aber auch zu Englisch oder Deutsch, und wenn Magda nicht verstehen sollte, was gesprochen wurde, sprach sie mit den anwesenden Erwachsenen auf Russisch weiter. Grand-Maman war nämlich in Sibirien geboren.

Wie kommt ein Florentiner Kind an eine sibirische Großmutter? Die Geschichte ist etwas verschlungen, aber nicht untypisch für eine Zeit, in der der »Migrationshintergrund« zwar noch nicht erfunden war, die Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben aber bereits kreuz und quer durch Europa zogen.

Der Vater von Grand-Maman hieß Alexej Poggio und lebte in Sankt Petersburg. Dass er einen italienischen Nachnamen trug, verdankte er der Tatsache, dass sein Vater, ein adeliger Handelstreibender aus Genua, seinen Gegner bei einem Duell getötet hatte und danach von Italien nach Russland geflohen war. Die unrühmliche Migration des Vaters hinderte den jungen Alexej nicht, in der russischen Gesellschaft aufzusteigen. Erst kämpfte er vor Moskau gegen Napoleon, dann wurde er Gardeoffizier am Hofe des Zaren. Bis zum Dezember 1825 genoss er das angenehme Leben im Glanze des Herrscherhauses. Dann folgte der neue Zar, Nikolaus I., seinem Vater auf dem Thron. In einer feierlichen Zeremonie sollten die Gardeoffiziere den Eid auf den neuen Herrscher ablegen, doch sie verweigerten ihn. Nach ihrer Meinung blockierte die russische Krone längst überfällige Reformen. Besonders die Leibeigenschaft gehöre endlich abgeschafft, fanden sie – und riskierten damit Kopf und Kragen. Alexej konnte sich glücklich schätzen, nicht zu den Rädelsführern gerechnet zu werden. Die wurden umgehend gehängt. Die anderen Aufständischen, die man später Dekabristen nannte (dekabr ist das russische Wort für Dezember), wurden »nur« degradiert und nach Sibirien verbannt. Zu ihnen gehörte auch Alexej, der dort dreißig Jahre blieb, bis der Sohn des Zaren, Alexander II., den Thron bestieg und die Bestrafung der Dekabristen für abgeschlossen erklärte.

So kam es also, dass Grand-Maman in Sibirien geboren wurde. (Dass bei Licht betrachtet Alexej zwar ihr biologischer Vater, ein anderer Dekabrist aber ihr sozialer Vater und der Mann ihrer Mutter war, ist eine andere Geschichte. Die beiden Männer waren befreundet und wählten statt eines Duells eine stillschweigende Übereinkunft.)

Ein Leben, das in Sibirien begann und sie in die Toskana führte, hatte aus Grand-Maman eine Frau gemacht, die anpassungsfähig war und alles Neue erst einmal mit Neugierde betrachtete. Grand-Maman fand zum Entsetzen der anderen Erwachsenen im Florentiner Haus zum Beispiel, dass man ruhig Melonenscheiben vom fahrenden Händler kaufen konnte. Wenn der Melonenwagen kam, liefen die Leute zusammen und aßen die saftig tropfende Frucht fröhlich schmatzend gleich auf der Straße. Ein abstoßendes Schauspiel, da waren sich alle einig. Nur Grand-Maman fand es lustig.

Grand-Maman trug unabhängig von der Tages- oder Jahreszeit immer Schwarz. Und sie war – jedenfalls im Urteil ihrer stilbewussten italienischen Verwandtschaft – immer schlecht gekleidet.

»Irgendwann wird dir noch mal jemand auf der Straße zwei Groschen zustecken!«, sagte Nonna Grilli, Magdas Oma väterlicherseits, der der Unterschied zwischen dem gemeinen Volk und einer Familie wie der ihren auch optisch stets vor Augen stand.

»Dann nehm ich sie und geb sie jemandem, der sie gebrauchen kann!«, antwortete die Unkonventionelle schlagfertig.

Grand-Maman war in Genf und Florenz zur Pianistin ausgebildet worden, aber sie pflegte auch ihre große Liebe zur Philosophie und Literatur. Als Magda älter war, führte die Großmutter anregende Gespräche mit ihr. Da ging es um den russischen Teil der Familiengeschichte, die Frage der Leibeigenschaft und den Kampf der Dekabristen. Das Wort »Menschenrechte« wird Magda sicher das erste Mal aus dem Mund von Grand-Maman gehört haben. Aber dann ging es wieder um das Alltägliche und Italienische. Grand-Maman hörte Magda ab, wenn Prüfungen anstanden; manchmal hatte sie den Stoff sogar parallel zur Enkelin selbst gelernt. Sie war die Lieblingsoma, vielleicht sogar eine ältere Freundin, in späteren Jahren ab und zu eine Komplizin. Niemals jedoch war sie zärtlich zu Magda. Das Mädchen auf den Schoß nehmen und ihm einen Kuss geben? Nein, das konnte Grand-Maman nicht.

Und noch etwas blieb ihr ein Leben lang unmöglich: Sie konnte nicht von Nelly, ihrer toten Tochter und Magdas Mutter, sprechen und ertrug es auch nicht, wenn andere es taten. Nellys Leben, Nellys Tod – beides war tabu in der Familie Grilli. Im Schlafzimmer von Magdas Vater hing ein Foto der Verstorbenen. Es zeigte Nelly als junge, zerbrechlich wirkende, wunderschöne Frau – die Angebetete, die sie für Oscar ein Leben lang blieb.

»Weißt du, wer das ist?«, fragte der Vater Magda einmal. Es war einer der seltenen Tage, an dem sie ihn besuchte und dieses Zimmer betrat.

»Die Frau auf dem Bild? Nein. Das weiß ich nicht.«

Konnte sie es nicht sagen, ging ihr das Wort »Maman« nicht über die Lippen? Oder wusste sie es wirklich nicht? Auch die sechzigjährige Magda, die von ihren Kindern gedrängt ihre Erinnerungen auf ein Tonband sprach, konnte auf diese Frage keine Antwort geben.

Zu Grand-Maman gehörte ein Grand-Papa. Der war nicht tot, aber er war unsichtbar. Grand-Maman sprach nie von ihm, doch ab und zu erreichte die Enkelin ein Geschenkpäckchen, das Grand-Papa an einem geheimnisvollen Ort für sie aufgegeben hatte. Wo dieser Ort war und warum der Großvater niemals wie andere Großväter leiblich sichtbar wurde, war eines der vielen Rätsel, die Magdas Kindheit begleiteten.

Die zweite Frau in Magdas früher Welt war Nonna Grilli, Vaters Mutter. Vornehm, streng und standesbewusst war es für die geborene Italienerin selbstverständlich, Französisch zu sprechen. Des Italienischen bediente sie sich nur, um Handwerkern und Lieferanten Anweisungen zu geben. Zwischen ihr und Magda standen zuerst die Amme, dann ein ganzer Kometenschweif von Gouvernanten und vor allem sämtliche Konventionen, die geeignet waren, den Nachwuchs den Erwachsenen buchstäblich vom Leibe zu halten.

Die dritte Frau, die ebenfalls im Haus wohnte und Magdas Leben und Weltsicht mitbestimmte, war Tante Olga, die Schwester von Nelly, Magdas Mutter. Auch sie war so gut wie unsichtbar, dabei ruhte sie nur einige Schritte entfernt im abgedunkelten Nebenzimmer. Tagein, tagaus lag sie dort auf ihrer Chaiselongue. Tante Olga litt an Migräne, und für einige Jahre war es Magdas Traum, ihr Leiden teilen zu dürfen. Wer Migräne hatte, bekam von den Bediensteten Tee und edles Gebäck gereicht, das er im Liegen zu sich nehmen durfte, dazu natürlich Anteilnahme und Nachsicht. Er musste nicht endlose Klavieretüden wiederholen oder eine tadellose Handschrift einüben. Er durfte einfach da sein und nichts tun. Was für ein Leben!

Tante Olga hatte eine Tochter, Lalli, das vierte weibliche Wesen in Magdas Welt. Aus den beiden fast gleich alten Cousinen wurden innige Vertraute – der Lichtblick in Magdas Kindheit.

Auch Lallis Familie war ohne einen Mann; der Vater hatte die Familie kurz nach der Geburt der Tochter verlassen und eine andere Frau geheiratet. Die kleine Magda zog daraus ihre eigenen Schlüsse: »Ich habe einen Vater. Lalli hat eine Mutter. Manche Kinder haben also einen Vater, andere haben eine Mutter.« Da man sich mit der Aufklärung der Kinder damals gehörig Zeit ließ, wurde Magdas Überzeugung erst nach Jahren erschüttert. Doch nicht etwa durch eine kindgemäße Aufklärung über Zeugung und Geburt, sondern durch eine jähe und geradezu brutale Aufklärung über ihr Schicksal, die ihr klarmachte, dass auch in ihrem Leben eine Mutter gewesen war. Eines Tages stand Magda daneben, als eine Kammerdienerin zur anderen sagte: »È lei che ha ammazzato sua madre!« (»Sie ist es, die ihre Mutter umgebracht hat!«) Erst begriff Magda gar nicht, von wem die Rede war. Aber dann sah sie den Blick der zweiten Zofe auf sich gerichtet. Sie war gemeint! Sie war die Mörderin ihrer Mutter!

Der Gedanke ließ Magda nicht mehr los, der Satz grub sich in ihr Herz ein. Einen Menschen, mit dem sie darüber hätte reden können, kannte sie nicht.

Von Liebe und Widerstand

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