Читать книгу Das Digital Transformer's Dilemma - Hannah M. Mayer - Страница 15
ERFOLG IST NICHT GLEICH ERFOLG – VERSCHIEDENE REGELN IN DER ALTEN UND NEUEN WELT
ОглавлениеBasierend auf unserer Forschung und unserer praktischen Erfahrung in vielen verschiedenen Unternehmen fanden wir heraus, dass es einige Erfolgsprinzipien gibt, die etablierte Unternehmen internalisieren müssen, wenn sie entlang beider S-Kurven durch ein Minenfeld von digitalen Transformations-Fallen navigieren. Am wichtigsten ist es, zu verstehen, dass das Kerngeschäft (1. S-Kurve) neudefiniert und digitalisiert werden muss, während ein neues, disruptives digitales Geschäft (2. S-Kurve) etabliert wird. Die Erfolgsfaktoren dieser beiden S-Kurven unterscheiden sich stark, dennoch müssen die beiden S-Kurven integriert werden und dürfen nicht als zwei für sich allein stehende Welten behandelt werden. Besonders die Erfolgsfaktoren der 2. S-Kurve – und das Geschäft der 2. S-Kurve allgemein – werden an Bedeutung zunehmen. Disruptive digitale Produkte und Services werden der Schlüssel für den Ausgleich der Verluste sein, die vom traditionellen Geschäft im Nachklang der Corona-Krise gemacht werden.
Eine Digitalstrategie muss Teil der holistischen Unternehmensstrategie sein – aber die Herausforderung dabei ist eigentlich nicht die Strategie. Die Aktivitäten der 2. S-Kurve dürfen nicht bloß auf langwierigen Analysen und philosophischen Erwägungen beruhen. Statt einer extensiven Planung ist vielmehr eine schnelle Umsetzung gefordert. Die 1. S-Kurve sollte sich von der 2. S-Kurve inspirieren lassen und, wo es passt, einige ihrer Prinzipien übernehmen. Genauso sollte sich die 2. S-Kurve auf die bewährten Erfolgsfaktoren der 1. S-Kurve verlassen, wenn es zur Skalierung des neuen digitalen Geschäfts kommt. Sowohl weiche als auch harte Faktoren machen den Erfolg der Implementierung aus – mit weichen Faktoren, die sich um die Mitarbeiter und deren Mindset drehen, und harten Faktoren rund um (infra-)strukturelle Elemente. Einmal unterwegs, muss die Leistung auf beiden S-Kurven gemessen werden, wobei verschiedene S-Kurven-spezifische Leistungsmerkmale genutzt werden, um den Transformationsfortschritt im Auge zu behalten.
Um am besten zu illustrieren, wie Erfolgsprinzipien sich holistisch entwickeln, stellen wir diese Erkenntnisse anhand eines vierteiligen Frameworks dar (siehe Abbildung 0.3). Dieses Framework zeigt, wie das Zusammenspiel der zwei S-Kurven den Ablauf einer digitalen Transformation beeinflusst. Deren Dimensionen (Warum, Was, Wie, Wo) und Unter-Dimensionen bilden die Struktur dieses Buchs.
WARUM: Wir untersuchen zunächst einmal die Gründe dafür, eine digitale Transformation in Angriff zu nehmen, und erklären, warum ein dualer Geschäftsansatz nötig ist, der die Digitalisierung etablierter Geschäftsaktivitäten ermöglicht (1. S-Kurve) und gleichzeitig Möglichkeiten erkundet, das volle Potenzial neuer (digitaler) Produkte und Services auszuschöpfen (2. S-Kurve). Wir schauen auch darauf, warum so viele Unternehmen damit gescheitert sind, rechtzeitig zu handeln und es richtig zu machen.
Abbildung 0.3 Das Digital Transfomer’s Dilemma
Quelle: Bestandteile von Geschäftsmodellen, angelehnt an Oliver Gassmann, Karolin Frankenberger, Michaele Csik: The Business Model Navigator. 1. Auflage. ©2014. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Pearson Education. S-Kurven, angelehnt an Gabriel Tarde: The Laws of Imitation. Henry Holt Company, New York 1903.
WAS: Wir beschreiben, wie eine umfassende Strategie entwickelt werden kann, die eine Strategie für das Kerngeschäft beinhaltet, eine Strategie für das neue, disruptive (digitale) Geschäft und einen Plan dafür, wie man die beiden zusammenbringt und die Interaktionen zwischen ihnen managt. Wir bieten auch Ratschläge, wie ein Geschäftsmodell entwickelt werden kann, das auf neuartigen digitalen Nutzenversprechen gründet, um die Strategie zum Leben zu erwecken. Und wir leiten Praktiker beim Übergang von der Strategie zum Geschäftsmodell an.
WIE: Zwar ist es unverzichtbar, die Frage nach dem Warum und dem Was zu klären, aber die gründliche Planung ist nur der Anfang. Die wirkliche Herausforderung liegt darin, die Transformation von Anfang bis Ende durchzuziehen – und genau hierauf fokussiert sich dieses Buch. Um sicherzugehen, dass die Implementierung reibungslos verläuft, erklären wir, wie die richtige (Infra-)Struktur (Organisation, Technologie, Prozesse) aufgebaut wird und wie dazu passend für die richtigen Mitarbeiter und das richtige mentale Mindset (Führungskräfte, Mitarbeiter, Unternehmenskultur) gesorgt werden kann.
Organisation: Einem Unternehmen nur digitale Rollen hinzuzufügen, reicht nicht aus. Stattdessen sind fundamentale Veränderungen der Organisationsstruktur notwendig. Wir beginnen damit, die verschiedenen Orte für den digitalen Impetus zu umreißen, der sowohl von der 1. als auch der 2. S-Kurve ausgehen kann, und gehen dann dazu über, die Archetypen zu portraitieren, anhand derer die neuen (digitalen) Aktivitäten am besten in die Organisation eingebettet werden können. Wir erklären, wie das ideale Vorgehen vom jeweiligen digitalen Reifegrad eines Unternehmens und der Ähnlichkeit des digitalen Geschäfts zum etablierten Kerngeschäft abhängt. Wir schließen mit Vorschlägen, wie die organisationsbezogene Lücke zwischen den beiden Welten überbrückt werden kann.
Technologie: Mit Technologie-Schlagwörtern wie künstliche Intelligenz (KI), maschinelles Lernen, IoT (Internet of Things) oder Big Data um sich zu werfen, ist in diesen Tagen modern. Start-ups verbinden diese Trends bereits mit realen Geschäftsmodellen. Wir sagen etablierten Unternehmen, welches die relevantesten Technologien für sie sind, und zeigen Erfolgsfaktoren für die Implementierung auf. Wir tauchen auch in IT-Themen ein und erklären, wie am besten alte und neue IT-Architekturen kombiniert werden können.
Prozesse: Die Durchführung einer digitalen Transformation erfordert die richtigen Prozesse. Wir führen im Detail aus, wie ein ideales Stage-Gate-Entwicklungsverfahren aussieht, und folgen dabei erprobten Verfahrensweisen aus der Start-up-Szene. Wir sprechen außerdem über die Entscheidungsgremien, die zur Unterstützung und Steuerung der Transformation erforderlich sind, über die richtige Budgetallokation und über die Frage, woher die Finanzierung stammen soll.
Führungskräfte: Führungsstile unterscheiden sich auf der 1. und 2. S-Kurve ganz grundsätzlich. Wir reden darüber, welche spezifischen Führungseigenschaften den Bemühungen um digitale Transformation auf beiden Kurven am zuträglichsten sind und wie diese Eigenschaften aufgebaut werden können. Wir führen auch im Einzelnen auf, wie die Koexistenz dieser unterschiedlichen Führungsstile in einem Unternehmen am besten gehandhabt werden kann.
Mitarbeiter: Das Wichtigste sind bei einer digitalen Transformation die Menschen, die sie durchführen. Wir zeigen, welche Fähigkeiten Mitarbeiter an den digitalen Transformationstisch mitbringen sollten, und bieten eine Leitlinie, wie das Personal der Zukunft, das solche Fähigkeiten beisteuert, aufgebaut werden kann.
Kultur: Obwohl der Begriff »Kultur« manchen schwer zu fassen erscheint, definieren wir ihn recht streng als die Überzeugungen und Verhaltensweisen, die festlegen, wie Mitglieder eines Unternehmens interagieren. Die Frage, die wir dann beantworten, ist, wie neue Überzeugungen und Verhaltensweisen gefördert werden können, die für die digitale Transformation nötig sind, in Einklang mit Mission, Vision und Werten des Unternehmens, die unverändert bleiben. Wir reden über die Art von Überzeugungs- und Verhaltensänderungen, die nötig sind. Und wir veranschaulichen, wie dieser kulturelle Wandel zu orchestrieren ist.
WO: Vergessen wir nicht, dass auch in einer digitalen Transformation das alte Sprichwort gilt: »Only what gets measured gets done.« (»Nur was messbar ist, wird auch geschafft.«) Die Beurteilung des Erfolgs ist deshalb wesentlich. Wir zeigen, wie Sie bei der Beurteilung übergreifend und spezifisch für beide S-Kurven vorgehen und dabei zwischen qualitativen und quantitativen KPIs (Key Performance Indicators, wichtige Leistungsindikatoren) abwägen können. Wir vergessen auch nicht zu erwähnen, wie Ziele definiert werden sollten, Verantwortung zuzuordnen ist und für Transparenz gegenüber relevanten Stakeholder-Gruppen gesorgt wird.
Wir hoffen, dass Ihnen dies alles beim Lesen logisch erscheint und intuitiv Sinn macht. Jedoch übersetzt sich konzeptionelle Logik nicht immer von allein in die Praxis des wirklichen Lebens. Was in der Realität bedeutet, dass die individuellen Dimensionen dieses Frameworks oft nicht so klar umrissen sind. Stattdessen gibt es eine Vielzahl von Verflechtungen zwischen ihnen. Zum Beispiel wird eine Veränderung Ihres WAS alles über den Haufen werfende Einflüsse auf beinahe alle Ihre WIE-Unterdimensionen haben. Jeglicher Einfluss auf Ihr WO mag wiederum seinen Widerhall in Ihrem WAS finden. Dies impliziert, dass die vier Dimensionen des Frameworks nicht typischerweise einer strengen Reihenfolge nach durchlaufen werden, sondern dass es Loopings geben kann (und es wird und sollte sie geben). Wann sind Sie zum letzten Mal Achterbahn gefahren? Dann machen Sie sich mal wieder bereit für den einen oder anderen Kopfstand.
Doch das soll nicht heißen, dass das hier präsentierte Framework unrealistisch ist. Es bedeutet nur, dass unser Framework den Idealzustand darstellt. Viele (obwohl, in diesem Fall, nicht alle) Wege führen nach Rom. Unternehmen können und waren mit einer Vielzahl verschiedener Herangehensweisen erfolgreich. Aber bei unseren Interviews haben wir die vielversprechendsten Ansätze ausgewählt und daraus das Framework geformt, das den Idealzustand beschreibt. Für jene Unternehmen, die bereits mit ihrer digitalen Transformation begonnen haben, bedeutet dies, dass sie tief in die Elemente und Sub-Dimensionen, die für sie von Belang sind, eintauchen können, während sie in anderen bei ihrer eigenen Strategie bleiben, wenn sie das wünschen. Jenen Unternehmen, deren Reise der digitalen Transformation erst noch beginnt, schlagen wir die Befolgung des idealen Wegs vor, wie wir ihn aufzeigen. Er basiert auf den Lernprozessen sehr vieler anderer Unternehmen und kann ihnen vielleicht einfach ein paar graue Haare ersparen.
Während sich die Unternehmenswelt als Antwort auf die COVID-19-Epidemie stark verändert, bleiben die Richtlinien für den Ablauf einer digitalen Transformation weiterhin relevant, mit dem einzigen Unterschied, dass vielen Kompetenzen, die charakteristisch für die 2. S-Kurve sind, durch die Krise eine noch größere Bedeutung zukommt. Unternehmen müssen nun nicht nur die kurzfristigen Folgen der Pandemie managen und die organisatorische Ambidextrie der 1. und 2. S-Kurve bewältigen, sondern sich gleichzeitig mittelfristig auf die Nach-Corona-Welt vorbereiten. Die Pandemie hat verdeutlicht, wie schnell sich scheinbar gesetzte Rahmenbedingungen verändern können. Um zukünftig besser auf solche Herausforderungen reagieren zu können, werden Unternehmen ein verstärktes Augenmerk auf ihre unternehmerische Resilienz legen müssen, wobei neue Technologien und die Kompetenzen von Führungskräften und Mitarbeitern eine wichtige Rolle spielen werden.
Während Unternehmen zu Beginn der Pandemie bei neuen Investitionen noch auf der Bremse gestanden sind, zeichnet sich ab, dass neue Technologien nun deutlich schneller eingeführt werden. Dass die Zeit dafür reif ist, zeigt etwa Zoom das innerhalb kürzester Zeit zum Kommunikationsmedium der Wahl im Home-Office wurde und den Platz von persönlichen Konferenzen, informellen Gesprächen und Teeküchen-Geplauder einnimmt und sogar Telefongespräche verdrängt. Klar ist, dass die Digitalisierung von Arbeitsprozessen und die Schulung von Führungskräften nun schneller vorangetrieben werden muss, um Chancen zu nutzen, die sich online – auf dem neuen Standard-Marktplatz – ergeben haben und sicherlich noch ergeben werden. Das bedeutet, dass Mitarbeiter der 1. S-Kurve entsprechend umgeschult werden müssen, damit sie die Initiativen der 2. S-Kurve unterstützen können. Führungskräfte müssen jetzt mehr denn je ihre Eignung beweisen, in einer VUCA-Welt zu führen, und Mut, Resilienz, unternehmerische Tatkraft und schnelle Entscheidungsfähigkeit zeigen. Mehr Netzwerke, weniger Hierarchien, vermehrtes und schnelleres Lernen, weniger Silodenken und größere Agilität werden die neuen kulturellen Normen, schneller, als sie es ohne das Coronavirus geworden wären. Dadurch hat die COVID-Krise die digitale Transformation bereits jetzt signifikant beschleunigt.
Ein weiterer Aspekt, der durch die Pandemie an Bedeutung gewonnen hat, ist die Sensibilisierung und der Fokus auf das Thema Nachhaltigkeit. Die Koppelung finanzieller Unterstützungen an den »Green Deal« der Europäischen Union wird dazu führen, dass zukünftige Investitionen noch stärker auf ihre Nachhaltigkeit hin bewertet werden müssen. Auch hier werden neue digitale Geschäftsmodelle und der Einsatz (sauberer) Technologie zukünftig eine noch wichtigere Rolle spielen.
Als praktische Warnung zu unserem idealisierten Framework sei gesagt, dass es Rückkopplungseffekte zwischen beiden S-Kurven geben wird. Besonders die 2. S-Kurve wird sich auf die 1. S-Kurve auswirken. Denken Sie zum Beispiel an das WO: Positive Leistung auf Ihrer 2. S-Kurve führt vielleicht zu Übertragungseffekten auf Ihre 1. S-Kurve. Sagen wir, das neue (digitale) Geschäft erreicht ausgezeichnete Wachstumsraten und bekommt eine Menge vorteilhafte Berichterstattung in den Medien. Dies wird sicherlich zu einem Vertrauenszuwachs bei Investoren und zu potenziell steigenden Aktienkursen führen, welche typische Indikatoren der 2. S-Kurve sind. Gleichzeitig wird sich die erhöhte Geschwindigkeit, welche die Champions der 2. S-Kurve in ihrem eigenen Geschäft an den Tag legen, auch auf die 1. S-Kurve auswirken und deren Prozesse und deren Ressourcen-Nutzung generell effizienter machen und damit einen Beitrag leisten zu den traditionellen KPIs der 1. S-Kurve, wie Return on Assets (ROA). Erinnern Sie sich an die Achterbahn? Wir stellen uns vor, dass die Achterbahn mehrere Spuren hat, so dass Sie – als Fahrer der 1. S-Kurve – in Ihrem eigenen Wagen mit den anderen Mitfahrern der 1. S-Kurve fahren, während hinter Ihnen auf einer eigenen Spur andere Fahrer herankommen. Diese befinden sich auf dem Weg zur 2. S-Kurve und geben Ihnen und allen Ihren 1.-S-Kurve-Mitfahrern im Vorbeirauschen einen kräftigen Schubs mit auf den Weg.
Ein letztes Element bei unserer Framework-Achterbahn-Logik ist die unerbittliche Wahrheit, dass, selbst wenn Sie die vier Elemente bezwungen und die Fahrt heil hinter sich gebracht haben, dies nicht das Ende ist. Letztlich wird vielleicht Ihre 2. S-Kurve einfach wieder zu einer 1. S-Kurve werden, wenn die ursprüngliche 1. S-Kurve nicht mehr länger von Wert für den Kunden ist. Und dann beginnt der ganze Kreislauf von Neuem. Die Bedingungen mögen dann andere sein; die grundlegenden Technologien mögen sich verändert haben; Ihre Kunden mögen eine ganz andere Mentalität haben; oder eine weltweite Pandemie mag Sie dazu gedrängt haben, neue digitale Produkte und Dienstleistungen schneller als geplant voranzubringen, mit einer daraus resultierenden Notwendigkeit, schneller als erwartet über neue Grenzen jenseits der ursprünglichen 2. S-Kurve nachzudenken. Aber die Realität von Unternehmen, die sich einmal mehr transformieren müssen, und dies parallel zum weiteren Aufrechterhalten des Kerngeschäfts, bleibt unverändert bestehen. Wie Ginni Rometty, frühere CEO von IBM, es treffend ausgedrückt hat: »Der einzige Weg, um zu überleben, ist ständiger Wandel.«21
Sie werden in diesem Buch noch viele weitere persönliche Berichte von Führungskräften finden, die sich wissentlich und sehr erfolgreich auf diese Achterbahnfahrt eingelassen haben. Die meisten herrschen über ausgewählte Teilstücke der Achterbahn; ein paar wenige haben sie insgesamt gemeistert. Mit Sicherheit kennen alle von ihnen die Höhen und Tiefen, die eine Achterbahnfahrt mit sich bringt. Wenden wir uns einem spannenden Beispiel zu.