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Irma (Irmgard) Hanner
ОглавлениеDie Stimme am Telefon hatte eine vertraute Diktion. Die Dame sprach Englisch, aber irgendwie klang es doch sehr deutsch – nicht unfreundlich, sondern härter und energischer als die englische Sprache. Irma war am Telefon – ich hatte sie angerufen, um einen Termin mit ihr auszumachen. Irma war, nach über 60 Jahren in der Emigration in Australien, unverkennbar eine Deutsche. Sie lud mich sofort zu einem Gespräch zu sich nach Hause ein, und als ich kam, standen frisch gebackene Plätzchen auf dem Tisch. „Die wollen meine Enkel immer essen“, erklärte sie und forderte mich auf, sie zu probieren. Später gab sie mir dann das Rezept.
Irma im Holocaust Museum Melbourne, 2010
Irma antwortete offen auf alle meine Fragen, oft wechselten wir vom Englischen ins Deutsche und wieder zurück.
Es ist eine schwierige Biografie. Mit neun Jahren verlor Irmgard ihre Mutter, mit zwölf Jahren wurde sie aus dem Schlaf heraus verhaftet und nach Theresienstadt deportiert. Das Mädchen war zu jung, um zu begreifen, was vor sich ging, fand sie sich doch, unvorbereitet und unbeschützt von Erwachsenen, in einer Welt voller Angst, Entsetzen und Grausamkeit wieder. Als eines von wenigen Kindern hat Irma den Holocaust überlebt. Rein äußerlich hat sie ihr Leben gut gemeistert. Ihr Mann ist leider viel zu früh gestorben, aber sie lebt in einem schönen Haus, und die Söhne und Enkelkinder sind oft bei ihr. Wie es in Irmas Inneren aussieht, ist schwer zu sagen. Noch heute hat sie Schwierigkeiten, über ihre Mutter zu sprechen. „Wenn ich das einmal in der Woche vor Besuchern im Museum mache, dann reicht das“, sagt sie.
Dann und wann backe ich die Plätzchen – ich habe sie Irma-Plätzchen genannt. Sie sind lecker und sehr schnell zu machen. Man nimmt 125 g Butter, 150 g Zucker, ein Päckchen Vanillezucker, ein Ei und ein Eigelb, 285 g Mehl, ein halbes Päckchen Backpulver und eine halbe Tasse gemahlene Nüsse, macht von allen Zutaten einen Teig, rollt ihn aus, formt Plätzchen und bäckt sie in 10 Minuten goldgelb – fertig.
Irmas Geschichte
Irmgard wird 1930 in Dresden in die alteingesessene deutsch-jüdische Familie Conradi hineingeboren. Der Vater stirbt früh, Irmgard ist das einzige Kind, und die Mutter Rosa arbeitet als Hausmädchen, um sich und die kleine Tochter durchzubringen. Die beiden wohnen in der Bautzner Straße – in einem Haus, das der Jüdischen Gemeinde gehört.
Irma mit ihrer Mutter und Großmutter
„Meinen Vater habe ich leider nie gekannt, und mein Großvater ist auch schon gestorben, bevor ich überhaupt geboren war. Er ist 1925 bei einem Autounfall verunglückt – stellen Sie sich das mal vor: ein Autounfall in dieser Zeit. Da gab’s ja noch gar nicht viele Autos! Er ist abends spät von der Arbeit nach Hause gekommen und wurde von einem betrunkenen Fahrer überfahren. Meine arme Großmutter musste dann ihre drei Kinder alleine großziehen. An meine Großmutter erinnere ich mich gut, obwohl ich erst fünf Jahre alt war, als sie starb. Ich habe immer noch ihre Kinderreime im Kopf, die sie mir erzählte oder vorsang, oder andere Weisheiten, die sie mir mit auf den Weg gab, zum Beispiel: ‚Geben ist seliger als nehmen.‘
Meine Mutter und ich haben viel Zeit mit meiner Tante Lotti und meinem Onkel Max verbracht – das waren ihre beiden jüngeren Geschwister. Ich habe sie beide sehr gemocht.“
Hochzeitsfoto von Lotte Conradi und Walter Hempel, Dresden 1933
1933, im gleichen Jahr, in dem Hitler an die Macht kommt, heiratet Irmgards Tante Lotte den Nichtjuden Walter Hempel – ein Umstand, der für Irmgard bald lebenswichtig werden soll. Hempels Mutter ist nicht sonderlich glücklich über die Verbindung ihres Sohnes mit einer Jüdin. Ihr zweiter Sohn macht es besser: Er tritt in die SS ein.
„Walter Hempel wurde später zu meiner Rettungsleine, weil er eben nicht jüdisch war und zu meiner Tante und zu mir hielt. Onkel Walter war Musiker – er spielte die Posaune in einem Tanzorchester. Er reiste viel mit dem Orchester, und meine Tante reiste mit ihm. Tante Lotti war ein Modemodell, sie war sehr hübsch und auch intelligent, und beide lebten in einem tollen Apartment. Für mich waren sie immer richtige Leute von Welt.“
Die Jüdische Gemeinde Dresden hat zu dieser Zeit etwa 4.700 Mitglieder. Die Conradis gehen zuweilen in die Synagoge und feiern die jüdischen Feiertage, aber sie sind assimilierte deutsche Juden.
„Ich erinnere mich, dass ich in den deutschen Kindergarten ging und auch mit den Nachbarskindern spielte, die nicht jüdisch waren. Später dann ging ich in die jüdische Schule. An meinem ersten Schultag bekam ich eine Zuckertüte: eine große bunte Tüte aus Pappe, gefüllt mit Süßigkeiten und Schokolade. Ist das heute immer noch ein Brauch in Deutschland – eine Zuckertüte am ersten Schultag? Na ja, das war schön, aber leider hat mir die Tüte kein Glück gebracht, denn alles in allem habe ich nur vier Jahre Schule in meinem ganzen Leben gehabt, mehr nicht.“
Irmgard geht deshalb in die jüdische Schule, weil es 1937 schon extrem schwierig war, als jüdisches Kind in einer staatlichen deutschen Schule eingeschult zu werden. Im November 1938 werden alle jüdischen Schüler, die zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch staatliche Schulen besuchen, von den Schulen gewiesen. Die Reichsvereinigung der Juden ist von nun an für die Schulbildung aller jüdischen Kinder und Jugendlichen zuständig. Irmgards Schule befindet sich direkt neben der Dresdner Synagoge – ein Bauwerk, das nach den Plänen des berühmten Architekten Gottfried Semper gebaut und 1840 eröffnet worden war.
Während Irmgard eingeschult wird, läuft die Judenverfolgung im Deutschen Reich auf Hochtouren. Nach und nach wird den Juden die Lebensgrundlage entzogen. Die Nationalsozialisten versuchen alles, um sie zum Auswandern zu bewegen. Zwischen 1933 und 1937 emigrieren etwa 130.000 deutsche Juden. Im Oktober 1938 nimmt die Polizei 17.000 im Deutschen Reich lebende polnische Juden fest, transportiert sie an die polnische Grenze und treibt sie mit Hilfe von SS und Gestapo über die Grenze.
„Ich hatte eine ganze Menge Mitschüler in meiner Klasse, die polnischer Abstammung waren. Die waren plötzlich alle weg. Aber auch die anderen in meiner Klasse – fast jeden Tag fehlten Schüler, wir wurden immer weniger, das war gespenstisch. Mich hat das sehr beschäftigt und auch verängstigt, ich konnte mich gar nicht mehr konzentrieren in der Schule. Ich erinnere mich, dass ich das Wort ‚Gestapo‘ aufschnappte und meinen Lehrer fragte, was das heißt.“
Am 9. November orchestrieren die Nazis ein gewalttätiges Pogrom gegen die Juden im gesamten Deutschen Reich und in Österreich. Auch in Dresden klirren Fensterscheiben, Geschäfte werden verwüstet, jüdische Bürger tätlich angegriffen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November werden unter anderem die Synagoge und zwei Kaufhäuser in Brand gesteckt.
„Die wunderschöne Synagoge ist komplett abgebrannt – die Feuerwehr hatte ausdrücklichen Befehl, das Feuer nicht zu löschen. Meine Schule, die ja gleich neben der Synagoge war, ist bei der Gelegenheit natürlich auch schwer beschädigt worden. Es hat fünf oder sechs Monate gedauert, bis sie repariert war und wir wieder in die Schule gehen konnten – bis dahin war die Schule geschlossen.“
Am 12. November werden die rauchenden Ruinen der Synagoge gesprengt. Der Oberbürgermeister von Dresden verkündet, dass damit „das Symbol des Erzfeindes endgültig vernichtet“ worden sei. „Da war dann nur noch ein Berg von Schutt und Geröll neben der Schule, der uns an die Synagoge erinnerte.“
Während der Novemberpogrome werden 151 jüdische Bürger Dresdens verhaftet, darunter der gesamte jüdische Gemeindevorstand. Die meisten Opfer werden in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar verbracht, einige in das KZ Sachsenhausen bei Berlin.
„Meinen Onkel Max haben sie auch festgenommen – sie haben die Wohnung nach angeblichen Waffen durchsucht und völlig verwüstet und ihn dann mitgenommen. Unter der Bedingung, Deutschland zu verlassen, wurde er dann nach einiger Zeit freigelassen.“
Der Auflage, das Deutsche Reich zu verlassen, ist unterdessen nicht mehr leicht nachzukommen, die deutschen Behörden machen es zunehmend schwerer: Die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“ ist extrem hoch, Wertpapiere und Bankvermögen können nur gegen hohe Abschläge ins Ausland transferiert, Devisen müssen zu einem irrwitzigen Umtauschkurs gekauft werden. Die auswanderungswilligen Juden werden vor der Ausreise praktisch ihres gesamten Besitzes beraubt. Mittellose Juden aber sind in Zuwanderungsstaaten nicht willkommen und haben es schwer, ein Visum zu erhalten – ein Teufelskreis.
„Ich weiß nicht wie, aber Onkel Max ist von einer jüdischen Organisation nach England geschmuggelt worden. Dort hat er dann sechs Jahre in der britischen Armee gedient. Nach dem Krieg ist er nach Australien ausgewandert.“
Irmgard verliert nun auch eine ihrer besten Freundinnen.
„Irgendwann in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre verließ meine Freundin Lydia Dresden. Die Familie emigrierte nach Argentinien. Niemand verstand das damals – ein Land, das so weit weg war. Ich war sehr traurig. Aber irgendwann haben wir dann natürlich begriffen, dass Lydias Familie die richtige Entscheidung getroffen hatte.“
Während die Freundin im fernen Argentinien in Sicherheit ist, sieht Irmgards Zukunft düster aus. Ab Juli 1938 werden alle jüdischen Läden in Dresden kenntlich gemacht – sie müssen von nun an ein Schild „Jüdisches Geschäft“ im Schaufenster haben. Das Königsufer, die Elbuferzone in der Mitte der Stadt, darf von den jüdischen Bürgern Dresdens nicht mehr betreten werden, ebenso wenig wie andere Parks der Stadt. Der Oberbürgermeister von Dresden kündigt allen Juden, die in städtischen Wohnungen wohnen, den Mietvertrag. Private Hausbesitzer folgen dem Beispiel des Oberbürgermeisters. Dresdens Juden werden obdachlos, und erst nachdem die Reichsvertretung der Juden protestiert, werden sogenannte „Judenhäuser“ eingerichtet. Im November 1939 existieren 37 Judenhäuser in Dresden – die lokalen Nazi-Größen in Sachsen beginnen viel eher mit der „Entmietung“ ihrer jüdischen Mitbürger als die Nazis in anderen Städten des Deutschen Reiches.
Der in Dresden lebende Literaturwissenschaftler und Chronist Victor Klemperer listet im Juni 1942 in seinem Tagebuch die immer neuen, zermürbenden Schikanen gegen die Juden auf: „1) Nach acht oder neun Uhr abends zu Hause sein. Kontrolle! 2) Aus dem eigenen Haus vertrieben. 3) Radioverbot, Telefonverbot. 4) Theater-, Kino-, Konzert-, Museumsverbot. 5) Verbot, Zeitschriften zu abonnieren oder zu kaufen. 6) Verbot zu fahren; (dreiphasig: a) Autobusse verboten, nur Vorderperron oder Tram erlaubt, b) alles Fahren verboten, außer zur Arbeit, c) auch zur Arbeit zu Fuß, sofern man nicht 7 km entfernt wohnt oder krank ist […] 7) Verbot, „Mangelware“ zu kaufen. 8) Verbot, Zigarren zu kaufen oder irgendwelche Rauchstoffe. 9) Verbot, Blumen zu kaufen. 10) Entziehung der Milchkarte. 11) Verbot, zum Barbier zu gehen … 12) Jede Art Handwerker nur nach Antrag bei der Gemeinde bestellbar. 13) Zwangsablieferung von Schreibmaschinen, 14) von Pelzen und Wolldecken, 15) von Fahrrädern […] 16) von Liegestühlen […] 17) von Hunden, Katzen, Vögeln. 18) Verbot, die Bannmeile Dresdens zu verlassen, 19) den Bahnhof zu betreten, 20) das Ministeriumsufer, die Parks zu betreten, 21) die Bürgerwiese zu betreten und die Randstraßen des Großen Gartens […] zu benutzen […] Auch das Betreten der Markthallen seit vorgestern verboten. 22) Seit dem 19. September der Judenstern. 23) Verbot, Vorräte an Essen im Hause zu haben (Gestapo nimmt auch mit, was auf Marken gekauft ist.) 24) Verbot der Leihbibliotheken. 25) Durch den Stern sind uns alle Restaurants verschlossen. Und in den Restaurants bekommt man immer noch etwas zu essen […], wenn man zu Haus gar nichts mehr hat. […] 26) Keine Kleiderkarte. 27) Keine Fischkarte. 28) Keine Sonderzuteilung wie Kaffee, Schokolade, Obst, Kondensmilch. 29) Die Sondersteuern. 30) Die ständig verengte Freigrenze. Meine zuerst 600, dann 320, jetzt 185 Mark. 31) Einkaufsbeschränkung auf eine Stunde (drei bis vier, Sonnabend zwölf bis eins).“
Klemperer merkt an: „Ich glaube, diese 31 Punkte sind alles. Sie sind aber alle zusammen gar nichts gegen die ständige Gefahr der Haussuchung, der Misshandlung, des Gefängnisses, Konzentrationslagers und gewaltsamen Todes.“
Im November 1939 wird Irmgards Mutter Rosa verhaftet.
„Ich kam wie immer von der Schule nach Hause, und meine Mutter war nicht da. Ich spielte also mit den Nachbarskindern, aber Stunde um Stunde verging, und meine Mutter kam immer noch nicht. Nach zwei Tagen kam dann meine Tante Lotti – ich weiß nicht, ob die Nachbarn sie informiert haben oder wieso sie kam.“
Das Gespräch stockt, Irmgard kann sich an keinerlei Einzelheiten erinnern – wie sie die zwei Tage verbrachte, wie die Zeit herumging. Das Einzige, woran sie sich erinnert und was sie heute noch fühlt, ist diese unsägliche Traurigkeit.
„Meine Tante hat mir erzählt, dass sie mich in einer Küchenecke sitzend gefunden hat. Dort saß ich und weinte. Nicht mal daran kann ich mich erinnern. Ich muss meine Gefühle wohl völlig betäubt haben. Ich weiß nur noch, dass ich mich elend verlassen fühlte – verlassen von meiner Mutter. Warum bloß hatte meine Mutter mich verlassen?“
Lotte Hempel nimmt ihre Nichte mit zu sich nach Hause und wendet sich aufgebracht an die Dresdner Staatspolizeidienststelle.
„Meine Tante ist gleich zur Gestapo gegangen, um herauszufinden, was mit meiner Mutter passiert ist. Sie hat natürlich nichts erreicht und nur erfahren, dass meine Mutter verhaftet worden sei.“
Walter Hempel, der inzwischen zur Wehrmacht gezogen wurde, wird aufgefordert, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen. Als er nicht Folge leistet, wird er aus der Wehrmacht entlassen und zu Zwangsarbeit verpflichtet.
„Auch meine Tante wurde zur Zwangsarbeit herangezogen. Sie haben beide bei Zeiss Ikon gearbeitet, das war eine bedeutende Kamerafirma, die in ein Rüstungsunternehmen umfunktioniert worden war und nun Zeitzünder und Bombenzielanlagen produzierte. Als Nächstes wurden mein Onkel und meine Tante dann aus ihrer Wohnung geschmissen, sie mussten in eine sehr arme Gegend Dresdens ziehen, die Wohnung lag über einer Konservenfabrik. Diese Fabrik beschäftigte eine Menge Zwangsarbeiter aus Polen, Russland, der Ukraine und aus Litauen. Jeden Abend um sieben klopfte es an der Tür – das war die Gestapo, die kontrollierten, ob Tante Lotti und Onkel Walter zu Hause waren.“
Die vermutlich demütigendste antijüdische Verordnung wird am 1. September 1941 erlassen – die Polizeiverordnung zum Tragen eines Judensterns. Mit Wirkung vom 19. September müssen alle Juden des Großdeutschen Reiches und des Protektorats Böhmen und Mähren, die das sechste Lebensjahr vollendet haben, einen Judenstern tragen. In der Mitte des handtellergroßen gelben sechszackigen Sterns steht – in einer seltsam gebogenen Schrift, die hebräisch anmuten soll – das Wort „Jude“. Der Stern muss bei der jeweiligen Gemeinde gegen die Zahlung von zehn Pfennig und gegen Unterschrift einer Quittung abgeholt und auf die linke Brustseite der äußeren Kleidung aufgenäht werden.
„Ich habe den Stern gehasst. Auf meinem Weg zur Schule bin ich von anderen Kindern geschlagen worden, sie haben mich bespuckt und mich ‚verdammte Jüdin‘ genannt. Ich habe immer versucht, den Stern zu verstecken und habe meinen Schulranzen davor gehalten. Das war natürlich verboten.“
Für Erwachsene ist das Tragen des Judensterns gleichermaßen erniedrigend. Victor Klemperer geht am 19. September, nachdem seine Frau den Stern aufgenäht hat, nur im Schutze der Dunkelheit auf die Straße. Der Weg zum Kaufmann am nächsten Tag kostet ihn enorme Überwindung.
Nachdem der Besuch deutscher Schulen für jüdische Kinder bereits seit November 1938 verboten ist, wird die Reichsvereinigung der Juden im Juni 1942 angewiesen, alle jüdischen Schulen im Deutschen Reich zu schließen. Auch die jüdische Schule in Dresden wird geschlossen. Von nun an ist Irmgard tagsüber auf sich selbst angewiesen. Während Lotte und Walter Hempel bei Zeiss Ikon arbeiten, streunt Irmgard durch Dresden.
„Ich war ziemlich alleine und wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Meine Tante hat mich dann bei einer anderen jüdischen Familie untergebracht, aber die wurde verhaftet, und so war ich also wieder alleine. Meine Tante, die wahrscheinlich nicht wusste, was sie mit mir machen sollte, kaufte mir dann einen Frosch, der mir Gesellschaft leisten sollte. Er saß in einem kleinen Glas, und ich musste Fliegen für ihn fangen. Das hat mich jeden Tag eine Weile beschäftigt. Die restliche Zeit hab ich viele Bücher gelesen.“
Dass Lotte Hempel einen Frosch anstelle eines Hundes oder einer Katze kauft, hat seinen Grund: Per Verordnung ist es Juden und jedem, der mit ihnen zusammenwohnt, ab Mai 1942 verboten, Haustiere (Hunde, Katzen und Vögel) zu halten. Tiere, die bereits im Besitz von Juden sind, dürfen nicht in Pflege gegeben werden. Victor Klemperer berichtet, wie er und seine Frau den geliebten Kater Muschel beim Tierarzt töten lassen müssen.
Die Gestapo weist Lotte Hempel an, keinen Kontakt mit „arischen“ Bürgern zu halten.
„Mein Onkel und meine Tante hatten aber viele nicht jüdische Freunde, und sie sahen gar nicht ein, dass sie den Kontakt abbrechen sollten. Der Besitzer der Konservenfabrik, ein Nazi, denunzierte meine Tante dann. Daraufhin wurde sie zur Gestapo-Dienststelle bestellt, wo sie ein Papier unterzeichnen musste, dass sie in Zukunft nicht mehr mit ‚Ariern‘ verkehre. Nachdem sie sich wieder nicht daran hielt, wurde sie erneut denunziert und ein zweites Mal zur Gestapo zitiert. Dieses Mal ging mein Onkel mit. Da war ein SS-Mann namens Müller, der sagte zu meinem Onkel: ‚Wenn Ihre Frau meine Frau wäre, würde ich sie auch beschützen‘, und der tat dann so, als würde er das von meiner Tante unterschriebene Papier nicht finden. Er ließ sie gehen. Solche Leute gab es eben auch.“
Ende 1941 zählt die jüdische Gemeinde Dresdens noch 1.228 Mitglieder. Anfang 1942 finden die ersten „Evakuierungen“ der Dresdner Juden ins „Reichskommissariat Ostland“ statt – ein deutsches Verwaltungsgebiet, das das Baltikum und Teile Weißrusslands in der von den Deutschen besetzten Sowjetunion umfasst. Am 15. Januar werden 224 Dresdner Juden davon informiert, dass sie für einen Evakuierungs-Transport in wenigen Tagen bestimmt seien. Sie dürfen 50 kg Gepäck mitnehmen, nicht erlaubt sind Wertpapiere, Sparkassenbücher, Devisen, Gold oder Silber außer dem Ehering. 50 Reichsmark müssen für die Transportkosten bereitgehalten werden. Am 20. und 21. Januar werden die Dresdner Juden frühmorgens aus ihren Häusern geholt, zum Bahnhof Dresden-Neustadt gebracht und nach Riga transportiert. Ausgenommen von der Deportation sind zunächst noch in Mischehe lebende Juden sowie deren Kinder. Auch sogenannte „Altersjuden“ über fünfundsechzig sowie Juden, die im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet worden sind, stehen noch nicht auf den Transportlisten – sie sind für spätere Transporte nach Theresienstadt vorgesehen. Das Zeiss Ikon-Werk erreicht, dass die zwangsbeschäftigten jüdischen Mitarbeiter der Firma wegen vordringlicher Rüstungsproduktion zunächst von der Deportation zurückgestellt werden.
Im Juli beginnen die Deportationen der älteren Juden nach Theresienstadt, bis September gehen sieben Lkw-Transporte mit jeweils 50 Dresdner Bürgern in das „Altersghetto“ im Protektorat ab. Etliche Juden verüben Selbstmord, nachdem sie die Evakuierungs-Nachricht bekommen.
„Meine Großtante Sophie, die Schwester meines Großvaters, hat sich auch umgebracht. Sie lebte in Hamburg und war die Lieblingstante meiner Tante Lotti. Tante Lotti und Onkel Walter fuhren mit dem Tanzorchester oft nach Hamburg und wohnten dann bei ihr. Irgendwann erhielt jedenfalls auch Tante Sophie den Deportationsbescheid. Da war sie schon über achtzig – und schluckte Gift.“
Im Rahmen der sogenannten „Fabrikaktion“, in der alle noch im Deutschen Reich verbliebenen „Rüstungsjuden“ deportiert werden sollen, werden am 27. Februar 1943 knapp 300 jüdische Zwangsarbeiter der Zeiss Ikon-Werke verhaftet. Während dieser Verhaftungswelle wird auch Irmgard festgenommen.
„Morgens um sieben hat es an der Tür geklopft. Meine Tante machte einem Mann in Zivil auf. Der war von der Gestapo und sagte meiner Tante, sie solle einen Koffer für mich packen, er müsse mich mitnehmen. Mein Onkel war wahrscheinlich schon zur Arbeit, ich kann mich nicht erinnern, aber meine Tante versuchte, mit dem Gestapo-Mann zu reden. Es half nichts: Der Mann blieb dabei, dass ich mitkommen müsse. Meine Tante war in einer schrecklichen Verfassung und wusste überhaupt nicht, was sie packen sollte. Dann bin ich mit dem Mann aus dem Haus gegangen – und vor der Haustür stand ein zweiter, uniformierter Mann mit einem Schäferhund. Man stelle sich das mal vor – die brauchten zwei Männer und einen Schäferhund, um ein zwölfjähriges Mädchen zu verhaften!“
Irmgard wird in das Judenlager Hellerberg gebracht – ein Lager, in das schon im November 1942 die meisten der für Zeiss Ikon arbeitenden Juden gebracht worden waren.
„Ich erinnere mich an Baracken und Hunderte von Juden, die da waren, nicht nur aus Dresden, sondern auch aus der Umgebung. Tante Lotti hat dann rausgefunden, wo ich war und wollte in das Lager kommen. Man hat sie natürlich nicht reingelassen. Aber irgendwie hat sie eine Nachricht an eine Familie im Lager geschmuggelt, die sie kannte, mit der Bitte, sich um mich zu kümmern. Und eine Wurst für mich hat sie reingeschmuggelt, das weiß ich noch heute. Diese Familie hat mich dann tatsächlich gefunden – inmitten dieser vielen Menschen dort.“
Am 2. März wird das Lager geräumt, die meisten Lagerinsassen aus der Umgebung und alle 293 Dresdner Juden werden nach Auschwitz transportiert – bis auf Irmgard. Sie wird – dank des couragierten Verhaltens ihres Onkels Walter Hempel, der sich erneut bei der Gestapo für das Mädchen einsetzt – von der Transportliste gestrichen und kurze Zeit später nach Theresienstadt deportiert.
„Die haben uns mit Lkws transportiert, das ist nicht so weit von Dresden nach Theresienstadt, aber ich weiß nicht mehr genau, wie lange wir unterwegs waren. Woran ich mich – leider – sehr gut erinnere, ist, dass da ein Mädchen war, das bei unserer Ankunft mit mir zur Toilette gerannt ist. Also die Toilette – das war eine Latrine mit einem Holzbalken über einem Graben. Und dann ist dieses Mädchen, das neben mir saß, von dem Balken gerutscht und in den Graben gefallen. Es war schrecklich, einfach schrecklich, das Mädchen ist da nicht wieder rausgekommen und in diesem Graben voller Exkremente gestorben, und dieses Bild hat sich einfach in mein Hirn eingegraben. Ich werde das nicht los, ich trage dieses Bild immer in mir.“
Die Ankömmlinge im Lager werden voneinander getrennt: Frauen von ihren Männern, Eltern von ihren Kindern. Die Kinder kommen in separate Baracken.
„Ich war mit zwanzig anderen Mädchen in einer Baracke mit Stockbetten, jeweils drei Betten hoch, mit Strohmatratzen. Die Mädchen waren aus ganz Europa – aus Holland, der Tschechoslowakei, Österreich und Deutschland. Wir mussten arbeiten. Zuerst habe ich in einem Garten gearbeitet, in dem Gemüse für die SS – natürlich nicht für uns – angebaut wurde. Das war gut, weil manchmal konnte ich eine Mohrrübe oder ein Kohlblatt oder so klauen. Unsere Essensrationen waren sehr schmal. Manchmal mussten wir auch Kastanien ernten. Dann fuhren sie uns aus dem Lager raus, und wir mussten auf die Bäume klettern und die Kastanien pflücken. Das war schön – das war so eine wunderschöne Allee von Kastanienbäumen.“
Der jüdische Ältestenrat organisiert schulischen Unterricht für die Kinder, aber Irmgard versäumt die schulischen Aktivitäten: Mit 12 Jahren ist sie zu alt, sie muss arbeiten. Sie arbeitet in einer Glimmerfabrik, in der ein spezielles Silikatmineral für die Elektroindustrie in dünne Schichten gespaltet wird. Die Arbeit ist gesundheitsschädigend – beim Spalten des Minerals entsteht feiner Staub, der in die Lunge eindringt.
„Die Zustände im Lager waren entsetzlich. Die hygienischen Bedingungen waren wirklich unbeschreiblich, ich möchte das gar nicht erzählen. Es gab kein warmes Wasser, um uns zu waschen, und manchmal gab es auch kein kaltes Wasser – im Winter nämlich, dann froren die Wasserrohre zu. Krankheiten grassierten, und wir waren voller Läuse – Läuse, Läuse und Läuse, schrecklich. Oh, und dann diese Wanzen – die kommen nachts. Einmal wachte ich auf und hatte so einen schrecklichen Geschmack im Mund – das war eine Wanze. Die meisten Leute im Lager hatten Typhus.“
Irmgard macht eine Pause und holt tief Luft.
„Und dann gab es natürlich Hinrichtungen. Einmal waren elf junge Männer geflüchtet. Da führte man eine Gruppe von uns Mädchen in den Wald und sagte uns, wir müssten hier bleiben, bis man die Jungs gefunden hätte. Nach eineinhalb Tagen hatte man sie alle und hängte sie vor unseren Augen auf.“
Irmgard wird krank: Sie bekommt eine lebensgefährliche Hirnhautentzündung. Krank werden an sich ist bereits gefährlich, da die Alten und die Kranken zuerst deportiert werden. Aber Irmgard hat gleich zweimal Glück – sie entgeht einer Deportation und überlebt die Meningitis. Dennoch: Ihre Gesundheit ist angegriffen. Kurz nach ihrer Genesung erkrankt sie an Gelbsucht, gleich darauf bekommt sie eine Mandelentzündung. Es sieht nicht gut aus – der Hals ist völlig vereitert, und Irmgard hat hohes Fieber.
„Irgendwer hat dann schließlich einen tschechischen Häftlingsarzt geholt, der mich operiert hat. Der hatte kein Anästhetikum oder irgendwelche Instrumente, der hat meine Zunge rausgezogen, mit einer Klammer befestigt, und dann mit was weiß ich was meine Mandeln rausgeschnitten. Ich erinnere mich nicht wirklich, ich muss wohl bewusstlos geworden sein. Viel später dann in Australien, als ich aufgrund einer Mandelentzündung mal zum Arzt musste, hat der mich gefragt, was für ein Fleischer denn meine Mandeln rausgenommen hätte. Ich hab ihm dann meine Geschichte erzählt. Der war erstaunt, dass ich diese Operation überlebt habe.“
Nachdem die SS Ende 1943 beschlossen hat, einer Kommission des Internationalen Roten Kreuzes einen Besuch im Ghetto zu gestatten, werden sorgfältige Maßnahmen getroffen, um das Lager in exzellentem Zustand zu präsentieren. Zu den ersten Maßnahmen gehört, die Anzahl der Häftlinge in dem völlig überfüllten Lager zu reduzieren – 7.500 Menschen werden nach Auschwitz deportiert. Anschließend werden Potemkinsche Dörfer gebaut, um ein völlig normales Leben in einer jüdischen Siedlung zu simulieren.
„Die haben Läden aufgebaut und ein Café und sogar ein Karussell aufgestellt. Dann haben sie Geld gedruckt – und ob Sie es glauben oder nicht: Da haben sie hinten Moses und die Zehn Gebote draufgedruckt.“
Das Rote Kreuz stattet seinen Besuch am 23. Juni 1944 ab, drei Delegierte dürfen in das Lager.
„Als das Rote Kreuz dann kam, gab es alle möglichen kulturellen Veranstaltungen: Da wurde zum Beispiel ein Fußballspiel gespielt und eine Theateraufführung gegeben. Die Karren, die immer zum Abtransport der Leichen benutzt wurden, waren weiß gestrichen und mit Broten beladen worden, und die Leichenträger hatten schöne weiße Kittel an. Trotzdem: Es ist mir ein absolutes Rätsel, wieso die nicht gemerkt haben, dass alles um sie herum eine einzige Fälschung war.“
Um auch der beunruhigten Weltöffentlichkeit zu zeigen, was für ein wunderbares Leben die Juden im Deutschen Reich bzw. in den von den Deutschen besetzten Gebieten führen, drehen die Nazis einen Propagandafilm.
„Ich musste auch mitspielen und hoffte, dass meine Tante mich vielleicht sehen würde. Mein Part war, zusammen mit anderen Kindern einfach an einem großen Tisch zu sitzen – an einem großen Tisch voller geschmierter Brote. Nachdem die Szene gedreht war, verschwanden aber auch die Brote. Wir Kinder kriegten nicht ein einziges Brot, das war eine schreckliche Enttäuschung für uns.“
Während ihrer Lagerzeit wird Irmgard Zeugin von elf Transporten, die in den Osten abgehen. Im April 1945 sieht sie Häftlinge ankommen, die, weil die Rote Armee auf dem Vormarsch ist, hastig aus anderen Konzentrationslagern evakuiert worden sind.
„Die Hälfte der in die Viehwaggons gepferchten Menschen war schon tot, als sie ankamen. Und die andere Hälfte, die Lebenden – das waren Halbtote, reine Skelette, junge Menschen, die aussahen wie achtzig. Es war wirklich schrecklich.“
Am 5. Mai 1945 verlässt die SS das Lager, drei Tage später ist die Rote Armee da. Noch ist das Leid der Mädchen jedoch nicht vorbei.
„In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai hörten wir, dass in der Nachbarbaracke Mädchen vergewaltigt wurden. Zum Glück kamen am nächsten Tag russische Offiziere und machten dem Spiel ein Ende. Dann wurde das Lagerhaus aufgemacht, und wir bekamen Kleider und Schuhe – wir hatten ja nur Holzpantoffeln.“
Lotte Hempel wird vom Roten Kreuz informiert, dass ihre Nichte am Leben sei. Lotte selbst hat im Versteck überlebt. Wie die anderen knapp 200 noch verbliebenen Juden in Dresden – entweder Mischlinge ersten Grades oder Juden, die mit einem „Arier“ verheiratet sind – erhält sie am 13. Februar 1945 eine schriftliche Aufforderung, sich am 16. Februar, also drei Tage später, mit Handgepäck und Proviant für zwei bis drei Arbeitstage zu einem „auswärtigen Arbeitseinsatz“ in der Zeughausstraße einzufinden. Der „Arbeitseinsatz“ ist eine Tarnung – tatsächlich planen die Nazis, nunmehr auch die bislang verschont gebliebenen Juden zu deportieren. Lotte beschließt zu Bekannten zu flüchten, die bereit sind, sie zu verstecken, und schreibt zur Tarnung einen Suizid-Abschiedsbrief an ihren Mann, der bereits vor Monaten in ein Arbeitslager verbracht worden war.
Irma (r.) mit einer Freundin kurz nach der Befreiung
Am Abend des gleichen Tages, an dem Lotte die Aufforderung zum „Arbeitseinsatz“ erhält, beginnt der erste von mehreren schweren Luftangriffen auf Dresden. In den nächsten beiden Tagen fallen Tausende von Bomben. Der resultierende Feuersturm zerstört weite Teile der Innenstadt, über zwanzigtausend Menschen verbrennen, ersticken oder sterben durch Hitzeschock und Luftdruckwellen. Lotte hat Glück. Sie überlebt das Bombardement, reißt sich geistesgegenwärtig den Stern von der Kleidung und taucht unter. Die Bekannten sind selbst ausgebombt, aber es gelingt Lotte, sich bei einem Bauern auf dem Land zu verstecken. Auch Walter überlebt.
Lotte holt ihre Nichte Irmgard nach Hause.
„Sie hat sich wie verrückt gefreut, mich zu sehen. Ich kann mich seltsamerweise an keinerlei Gefühle erinnern. Ich war wie betäubt und völlig versteinert. Noch eine ziemlich lange Zeit nach Kriegsende war ich nicht in der Lage zu weinen.“
Irmgard ist 15 Jahre alt und möchte gern Kindergärtnerin werden. Aber mit ihren vier Schuljahren bekommt sie dafür keinen Ausbildungsplatz. Stattdessen macht sie eine Ausbildung zur Schneiderin. Es ist ein großer Augenblick für Irmgard, als sie von einer jüdischen Organisation zu einem Urlaub eingeladen wird. Zusammen mit anderen Jugendlichen erlebt sie wunderschöne Ferien am Wannsee im Südwesten der Stadt Berlin.
„Es war traumhaft, wir hatten eine tolle Zeit. Ich konnte zwar nicht schwimmen, aber ich habe das Wasser geliebt, und ich habe mir dort sogar ein Bikinioberteil gehäkelt. Ich habe noch ein Foto von mir und von anderen im See.“ Ein Lächeln huscht über Irmgards Gesicht, aber sie wird gleich wieder ernst. „Ich konnte es kaum glauben, als ich später erfuhr, dass der Wannsee der Ort war, an dem die Nazis die ‚Endlösung‘ beschlossen hatten, die völlige Auslöschung der Juden.“
Die Freunde, die sie dort kennen lernt, überreden Irmgard, mit ihnen in einem Kibbuz in Berlin zu leben.
„Das war die glücklichste Zeit in meinem Leben. Ich habe dort viele Freundschaften geschlossen, und ich war fest entschlossen, nach Palästina zu gehen. Aber meine Tante wollte mich nicht gehen lassen, ich war noch nicht 18 und brauchte ihre Zustimmung. Sie hatte Angst, dass es Krieg geben würde in Palästina und kam also nach Berlin, um mich abzuholen.“ Irmgard lacht: „Ich wollte nicht mit ihr mitgehen und habe mich in einem Schrank versteckt, aber es hat nichts geholfen.“
Lotte bemüht sich um Einreisevisa für Australien, wo ihr Bruder Max lebt. Das erste Visum wird für Irmgard ausgestellt – sie verlässt das heutige Deutschland während der Berlin-Blockade im September 1948. Die Sowjets hatten die Land- und Wasserstraßen West-Berlins blockiert und die Amerikaner zur Versorgung der Berliner eine Luftbrücke eingerichtet. Mit einem amerikanischen Flugzeug dieser Luftbrücke – im Volksmund wegen des Kaugummis und der Süßigkeiten für die Kinder auch „Rosinenbomber genannt“ – fliegt Irmgard aus Berlin aus. Der Flug geht nach Marseille, dort kümmert sich das Joint (American Jewish Joint Distribution Committee), eine amerikanisch-jüdische Hilfsorganisation, um die Flüchtlinge, bevor sie nach Paris weiterreisen.
„Wir blieben zehn Wochen in Paris. Die UNRRA1, eine Organisation der Vereinten Nationen, brachte uns in einem billigen Quartier in Pigalle unter, das war das Rotlichtviertel. Wir bekamen jeden Tag eine warme Mahlzeit und ein bisschen Taschengeld. Aber die Prostituierten gingen da in den benachbarten Räumen ihrem Gewerbe nach, und die Wände waren hauchdünn. Das war schrecklich, ich habe mich da ziemlich alleine gefühlt und habe jede Nacht in mein Kissen geweint.“
Im Spätherbst ist es soweit: Irmgard besteigt den Ozeandampfer „Volendam“ in Rotterdam und erreicht einige Wochen später, am 19. Januar 1949, den Hafen von Melbourne.
„Mein Onkel Max und seine australische Frau Mary haben mich am Hafen abgeholt – ich habe mich so gefreut, ihn zu sehen, und er hat sich genauso gefreut. Ich habe dann erst mal bei meinem Onkel und meiner Tante in Richmond, einem Stadtteil von Melbourne, gelebt. Tante Mary war unheimlich nett – ich mochte sie sofort und sie mich auch.“
Eine Woche nach Ankunft in Australien beginnt Irmgard, als Näherin in einer Bekleidungsfabrik zu arbeiten. Sie verdient 30 Schilling die Woche – 10 davon gibt sie zu Hause ab, 10 spart sie, und den Rest gibt sie aus für die Straßenbahn, für Schuhe und Kleidung – sie ist ja nur mit einem Koffer in Melbourne angekommen und besitzt nicht viel. Max und Mary sprechen Englisch zu Hause, und auch in der Fabrik muss Irmgard Englisch reden, um sich zu verständigen. So lernt sie die Sprache schnell.
Im Oktober, neun Monate nach Irmgards Ankunft treffen Lotte und Walter Hempel in Melbourne ein, und Irmgard zieht zu den beiden.
„Ich werde nie vergessen, dass meine Tante Lotti, als ich 19 wurde, eine Party für mich veranstaltet hat – das war die erste Geburtstagsparty meines Lebens.“
Lotte und Walter fassen schlecht Fuß. Walter möchte gern wieder in einem Orchester spielen, muss aber erst fünf Jahre im Land gelebt haben, bevor er in einem Orchester aufgenommen werden kann. Beide finden Arbeit in einer Eisengießerei, in der Eisenrohre zum Häuserbau hergestellt werden. Walter ist unglücklich, er sorgt sich um seine alte Mutter in Dresden – Walters Bruder, SS-Mitglied, hatte sich am Ende des Krieges in Polen umgebracht –, und es gibt Spannungen in der Ehe. Als Walter in der Fabrik eine Eisenstange auf den Kopf fällt, ist das Maß für ihn voll: Er will zurück nach Deutschland – mit Lotte. Lotte aber lehnt ein Leben in Deutschland, einem Land, in dem ihre ganze Familie verfolgt worden war und sie selbst nur mit viel Glück überlebt hatte, ab. Walter kehrt alleine zurück nach Deutschland – eine Tragödie für alle Beteiligten, auch für Irmgard.
„Ich habe noch Briefe von Onkel Walter, die sind herzzerreißend. Er fühlte wohl eine tiefe Schuld, dass er seine Frau Lotte verlassen hatte. Tante Lotti hat dann bald versucht, die australische Staatsangehörigkeit zu bekommen – das erste Mal wurde es abgelehnt, weil man vermutete, dass Walter Hempel ein Spion sei; das hat man meiner Tante jedenfalls später erzählt. Der zweite Antrag war dann erfolgreich. Tante Lotte ging noch auf die Abendschule und wurde Kauffrau in einem Büro. Sie starb 2001 im Alter von 88 Jahren. Wie alt Onkel Walter wurde, weiß ich nicht, der Kontakt brach dann irgendwann ab.“
1951 lernt Irmgard Oskar kennen – einen polnischen Juden, der außer seinem Cousin, der in der Sowjetunion überlebte, seine ganze Familie im Holocaust verloren hat. Irmgard – die sich jetzt Irma nennt, weil offenbar kein Australier ihren Namen aussprechen kann oder ihn sowieso abkürzt – und Oskar heiraten zwei Jahre später. Kurz darauf erbt Irma etwas Geld von einem Bruder ihres Großvaters, der in Australien lebt. Das junge Paar kann sich von dem Geld ein Haus in Melbourne kaufen, und an dem Tag, an dem sie die Schlüssel für das Haus in der Hand halten, wird Sohn Bernhard geboren. 1956, zwei Jahre später, kommt Sohn Robert auf die Welt.
Irma mit ihrem Mann Oskar und den beiden Söhnen anlässlich Bernhards Bar-Mizwa, Melbourne 1967
„Wir haben mit den Kindern nie über den Holocaust gesprochen, bis sie uns gefragt haben, warum sie eigentlich keine Großeltern haben. Da waren die beiden ungefähr sieben und neun. Da mussten wir dann anfangen, den Kindern alles zu erklären.“
Oskar ist Klempner und macht sich selbständig, Irma erledigt alle Büroarbeiten. Beide arbeiten viel und schwer, um den Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen und um peu à peu Anschaffungen machen zu können. Bernhard lernt zunächst wie sein Vater den Beruf des Klempners, entscheidet sich dann jedoch, Lehrer zu werden. Robert studiert Medizin und wird Arzt für Allgemeinmedizin.
Oskar stirbt tragischerweise bei einem Unfall, er wird nur 63 Jahre alt.
„Ein Freund hatte meinen Mann gebeten, etwas auf seinem Dach zu reparieren. Oskar fiel vom Dach – und verletzte sich dabei tödlich. Ach, das war die allergrößte Tragödie in meinem Leben. Er erlebte noch die Hochzeit unseres ältesten Jungen,und die Approbation unseres jüngeren Sohnes als Arzt. Aber er hat keines unserer fünf Enkelkinder kennengelernt.“
Irma ist erst 55 Jahre alt, als Oskar stirbt. Aber sie geht keine neue Bindung ein – Oskar bleibt die Liebe ihres Lebens.
„Nachdem mein Mann gestorben war und die Kinder geheiratet hatten, hatte ich das Bedürfnis, noch einmal etwas zu tun, etwas Wichtiges. Da haben mich dann Freunde eingeladen, doch im Holocaust-Museum zu arbeiten. Ich habe zuerst in der Abteilung angefangen, in der Zeugenaussagen gesammelt und aufgezeichnet werden. Erst später habe ich dann begonnen, Besucher durchs Museum zu führen und vor ihnen zu reden. Manchmal finde ich das nicht einfach. Je älter ich werde, desto emotionaler werde ich. Aber wenn ich dann das positive Feedback insbesondere von den jüngeren Menschen höre, dann denke ich: Meine Arbeit lohnt sich und ist nicht umsonst.“
Irma an ihrem 84. Geburtstag mit den Enkelkindern Ilana, Dovi, Oscar, Lena und Avi, Melbourne, 9. Juni 2014
Kurz nach dem Krieg wird Lotte Hempel von einer Frau kontaktiert, die als Zeugin Jehovas im Konzentrationslager Ravensbrückinhaftiert war. Im KZ hatte sie Rosa Conradi kennengelernt – Irmgards Mutter und Lottes Schwester. Für den Fall, dass sie nicht überleben sollte, hatte Rosa dieser Frau den Wunsch abgenommen, Lotte zu kontaktieren. „Und sagen Sie doch bitte meiner Schwester, dass sie auf meine kleine Tochter Acht geben soll“, gab sie ihrer Leidensgenossin in Ravensbrück mit auf den Weg. Rosa überlebte nicht. Die Frau berichtet, dass Rosa Conradi aufgrund von medizinischen Experimenten, die an ihr vorgenommen worden waren, Wundbrand bekam und daran starb.
Stolperstein von Rosa Conradi in der Bautzner Straße 20 in Dresden, 2009
Im November 2008 bekommt Irmas Sohn Robert Antwort auf seine Anfrage beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen. Er wird darüber informiert, dass seine Großmutter am 2. November 1939 in das Konzentrationslager Ravensbrück eingeliefert wurde. Der Vorwurf lautet: „Rassenschande“ – sexueller Verkehr mit einem Arier.
Von Ravensbrück wird sie ins Untersuchungsgefängnis Dresden überführt, von dort am 13. April 1940 wieder ins KZ Ravensbrück geschickt. Dort stirbt sie am 29. Mai 1942. Rosa Conradi ist erst 30 Jahre alt.
Im Jahr 2009 wird in Dresden der „Verein Stolpersteine für Dresden“ gegründet, der es sich zur Aufgabe macht, an die Bürger Dresdens zu erinnern, die während der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Religion, ihrer politischen Überzeugung oder ihrer Sexualität ermordet worden sind. Im November 2009 wird in der Bautzner Straße 20 ein Stolperstein für Rosa Conradi gelegt.