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Maria Lewit

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„Die Blätter vibrieren über mir als wäre ein Zittern durch den ganzen Baum gegangen. Himmelsflecken spielen Versteck, zwischen dem Grün der Blätter zeigt sich das blaueste Himmelsblau. Und wie ein Scheinwerfer im Theater, der die ganze Szene zum Leben erweckt, brechen die Sonnenstrahlen hindurch … Ich war nicht glücklich, ich war nicht unglücklich. Ich war einfach da, und das war alles. Ich philosophierte nicht über das Leben, aber mein Verstand war wie eine Kamera, die einen Abdruck hinterlässt von der Idylle des europäischen Sommers im Jahr 1939.“


Maria mit ihren Söhnen Joe und Michael bei der Preisverleihung des OAM, Melbourne 2011

So beginnt Maria Lewits autobiografischer Roman „Come Spring“ (Wenn der Frühling kommt).

Das Buch ist ein literarisches Juwel – geschrieben in einer wundervollen, poetischen Sprache, die ganz bewusst kontrastiert mit dem Inhalt, der von der Verfolgung der jungen Autorin und ihrer Familie handelt, von Angst, Hunger und Tod im besetzten Warschau. Ich erinnere mich, dass mein erster Gedanke beim Lesen war: „Dieses Buch sollte ins Deutsche übersetzt werden, damit es dem deutschen Leser zugänglich ist.“

Ich wollte die Autorin kennenlernen. Als Maria Lewit schließlich an einem Montag – montags ist „ihr“ Tag im Museum – zur Tür hereinkam, stürzte ich auf sie zu, stellte mich vor und teilte ihr auf der Stelle mit, dass ich ihr Buch gelesen hätte und wie großartig ich es fände.

Maria Lewit ist eine nüchterne Frau. Sie muss einigermaßen irritiert gewesen sein von dem Gebaren dieser fremden Person, aber wenn es so war, zeigte sie es nicht. Sie wechselte einige freundliche Worte mit mir, bevor sie sich dem zuwandte, weshalb sie gekommen war: Sie begrüßte eine Schulklasse mit ihrem Lehrer und ging mit der Gruppe hinüber in den Vortragssaal. Dort würde sie den Schülern nun über ihre persönlichen Erfahrungen während des Holocaust berichten.

Maria Lewit hat mir später eine Menge über sich erzählt – über ihre Kindheit und Jugend im zunächst freien und später besetzten Polen, über ihre Freunde und ihre Familie, über ihr Überleben. Sie besitzt noch einige Briefe von Schulfreundinnen aus dem Warschauer Ghetto. Maria und ich haben diese Briefe aus dem Polnischen ins Englische übersetzt – eine emotional nicht einfache Aufgabe: keine der Freundinnen hat überlebt. Mit etlichen Wörterbüchern umgeben verbrachten wir auf diese Weise viele Stunden miteinander. Ich profitierte dabei von Marias profundem Wissen über den Holocaust ebenso wie von ihrer Erfahrung und Klugheit. Manchmal gingen wir in ihre gut bestückte Bibliothek hinüber und schauten etwas nach, oft empfahl sie, eine leidenschaftliche Leserin, das eine oder andere Buch oder borgte es mir – nicht immer, aber doch vorwiegend über den Holocaust. Häufig allerdings spornte sie mich an, die ganze Holocaust-Lektüre doch einfach beiseitezulegen und mich mit freundlicheren Themen zu beschäftigen.

Maria Lewit wusste, warum sie das sagte. Je tiefer man in die Geschichte des NS-Terrors eindringt, desto verstörender wird es. Und als ob sie mich manchmal aufmuntern oder auch mit meiner Elterngeneration versöhnen wollte, erzählte sie mir zuweilen die Geschichte über einen „guten Deutschen“: „Schau, Hannah – es gab auch gute Menschen!“

Marias langjähriger Ehemann Julian verstarb im November 2005. („Mein Mann starb im Bett, in frischen Laken, von einem Arzt betreut, und im Beisein aller seiner Lieben.“) Marias Söhne Joe und Michael, vier Enkel und fünf Urenkel leben in Melbourne, die Familie ist oft beisammen und sie ist Marias große Freude.

Für ihr Buch „Come Spring“ und den nachfolgenden Emigrantenroman „No Snow in December“ (Kein Schnee im Dezember) wurde Maria Lewit mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet. Im Jahr 2011 erhielt sie zu ihrer großen Überraschung für ihren Beitrag zur australischen Literatur und für ihre ehrenamtliche Arbeit im Holocaust-Museum die „Medal of the Order of Australia“ (Orden zur Würdigung außerordentlicher Leistungen australischer Bürger). So ganz versteht sie die Ehrung und den Rummel um ihre Person nicht: Sie habe doch nichts Besonderes getan, um diesen Orden wirklich zu verdienen. Außer, vielleicht, allen (australischen) Museumsbesuchern und insbesondere den jüngeren unter ihnen immer wieder zu sagen, wie glücklich sie doch seien, in Australien zu leben.

Marias Geschichte

Maria wächst in einer gut situierten Familie in Łódź auf. Łódź, bekannt als das Manchester Polens, ist in den zwanziger Jahren – nach Warschau – die zweitgrößte Stadt Polens. Seit dem frühen 19. Jahrhundert hat sich die Stadt zu einem großen Textilzentrum entwickelt, das Polen, Deutsche und Juden gleichermaßen anzieht. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges hat Łódź 665.000 Einwohner, von denen 34 Prozent Juden und 10 Prozent Deutsche sind. Mit den mehr als 220.000 Juden ist die jüdische Gemeinde der Stadt die zweitgrößte Polens: Es gibt jüdische Schulen, Bibliotheken, Theater und Sportklubs; jüdische Intellektuelle, Poeten und Schriftsteller wohnen in der Stadt. Durch die industrielle Entwicklung entsteht auch so etwas wie ein jüdisches Proletariat.


Lidia und Borys Markus, aufgenommen in einem „Photomat“ in Łódź, Anfang der 30er Jahre

Marias Vater Borys Markus, ein polnischer Jude, ist Geschäftsmann in der prosperierenden Textilindustrie. Zusammen mit Jozef Lewit (der später Marias Schwiegervater werden soll) besitzt er eine Firma, die Taschentücher produziert. Die Firma hat eine Zweigstelle in Moskau, und auf einer seiner Geschäftsreisen trifft Markus die junge und sehr hübsche Russin Lidia Wagin. Die beiden verlieben sich, heiraten, und – der Ehe zuliebe – konvertiert die russisch-orthodoxe, also christliche Lidia zum jüdischen Glauben. 1919 kommt Tochter Genia zur Welt, 1925 wird die zweite Tochter Maria geboren.


Maria and Genia, Łódź 1931

Die Familie lebt sehr komfortabel in einem Sechs-Zimmer-Apartment im Zentrum von Łódź.

„Das Apartment war im 4. Stock und hatte einen Fahrstuhl. Es gab zwei Balkone mit einem hübschen Blick auf den protestantischen Kirchturm und die Stadt – mein Vater hatte die Wohnung wegen der Aussicht ausgesucht. Er und ich standen im ständigen Wettbewerb um die besten Fotos vom Balkon. Er hatte eine Zeiss Ikon und ich eine Kodak Box – ich für meinen Geschmack machte natürlich immer die besseren Fotos“, lacht Maria.

Wie alle wohlhabenden jüdischen Familien haben die Markus’ eine polnische Hausangestellte, die bei der Familie wohnt.

„Sie hieß Kazia, und ich habe sie geliebt. Sie war zwar Analphabetin, aber eine geborene Geschichtenerzählerin, und ich habe oft mit ihr in der Küche gesessen. Sie hat meine Eltern mit ‚Gnädige Frau‘ und ‚Gnädiger Herr‘ angesprochen und Genia und mich mit ‚Fräulein‘, während wir sie immer einfach mit ihrem Vornamen ansprachen. Irgendwie kam uns das gar nicht in den Sinn, dass das nicht in Ordnung war. Allerdings muss ich sagen: Als Dienstmädchen durfte Kazia nie den Lift nehmen, und das gefiel mir schon als Kind nicht.“

Jeden zweiten Tag kommt ein weiteres polnisches Mädchen und hilft beim Saubermachen und Teppichklopfen. Maria schmunzelt:

„Das Interessante dabei war, dass dieses Mädchen auch in der Nachbarschaft arbeitete, und ich konnte nie genug von dem ganzen Klatsch kriegen.“

Maria, die von jedem Marka genannt wird, geht in das jüdische Mädchengymnasium „Eliza Orzeszkowa“, so benannt nach einer polnischen Schriftstellerin.

„Das war eine exzellente Schule, die von einer Gruppe jüdischer Eltern gegründet worden war, da die polnische Regierung nur zehn Prozent Juden auf weiterführenden Schulen zuließ. Und die progressiven Juden wollten natürlich, dass nicht nur ihre Söhne, sondern auch ihre Töchter eine hervorragende schulische Bildung erhalten. Die Schule wurde von wohlhabenden jüdischen Familien finanziert, die damit gleichzeitig intelligente Kinder aus ärmeren Familien förderten, und zwar jüdische und nicht jüdische. Das heißt, in unseren Klassen waren durchaus auch nicht jüdische polnische Mädchen. Es gab eine Kantine, und für die ärmeren Kinder war das Essen frei. Ich war an der Schule zuständig für das Thema ‚soziale Gerechtigkeit‘ und kümmerte mich deshalb immer ein bisschen um die ärmeren Kinder.“

Maria hat viel Spaß in ihrer Schulzeit. Sie ist gescheit, aufgeweckt und bekannt für den Unfug, den sie gerne schon mal ausheckt.

„Mein Mathelehrer hat mich nur ‚marna istoto‘ genannt, das heißt so viel wie ‚unnützes Ding‘. Aber auch mit anderen Lehrern hatte ich so meine Probleme. Einmal habe ich zum Beispiel den Namen meines Musiklehrers veralbert. Der hieß ‚Pedzimaz‘, das heißt ‚rennender Ehemann‘, und über den Namen habe ich ein Lied gemacht, das ich in der Klasse gesungen habe. Natürlich hat mich mein Musiklehrer daraufhin rausgeschmissen. Was der aber nicht wusste, war, dass ich den Rausschmiss vorausgesehen habe. Bevor die Musikstunde also anfing, habe ich zehn Mädchen mit einer Kordel an mich dran geknotet, eine nach der anderen.“ Maria lacht noch heute über ihren Streich. „Als ich dann aus dem Klassenzimmer rausging, mussten mir also zehn Mädchen folgen. Die ganze Schule hat davon erfahren, ich hatte mir mit dieser Geschichte einen Namen gemacht.“


Maria mit ihren Freundinnen Iwetta und Zosia, 1939

Im Sommer 1939 werden Maria und ihre Schwester Genia in den Sommerurlaub aufs Land geschickt, weil die Eltern wegen der politisch angespannten Situation beunruhigt sind.

„Aber als Deutschland und Russland im August den Nichtangriffspakt unterzeichneten, brach unser Vater unseren Urlaub kurzerhand ab. Er befürchtete, dass Hitler Russlands Neutralität nutzen würde, um in Polen einzumarschieren. Und für diesen Fall wollte er, dass wir alle zusammen in der Stadt sind.“

Als Maria und Genia im August 1939 zurück nach Łódź kommen, finden sie die Stadt in völliger Aufregung.

„Es war fast wie ein patriotischer Rausch, die Radioprogramme waren voll vaterländischer Reden und Militärmusik, alle sprachen vom heraufziehenden Krieg und wie schnell wir Polen gegen Hitlers Panzer aus Pappe gewinnen würden, Soldaten marschierten und sangen Anti-Hitler-Lieder, Fahnen wurden geschwenkt. Ich machte nur allzu gerne mit: Unter dem fröhlichen Singen von Militärliedern, die den Krieg beschönigen, hob ich zusammen mit meinen Freunden Panzergräben aus. Und dann fing es an – mit dem Lärm von Flugzeugen und einer Ansage im Radio: Wir befinden uns im Krieg.“

Am 8. September marschiert die deutsche Wehrmacht in Łódź ein.

„Mein Vater war zwar zu alt, um noch gezogen zu werden, aber nachdem im Radio durchgegeben wurde, dass jeder Mann gebraucht wird, schloss er sich vielen anderen Männern an, die alle Warschau verteidigen wollten. Ich erinnere mich, dass wir vorm Haus standen und viele Jugendliche und Männer sahen, die alle ihre Häuser verließen und auf der Straße eine Kolonne bildeten, die sich vorwärtsbewegte. Ich sah auf meinen Vater, aber der war im nächsten Augenblick schon verschwunden. Ich war untröstlich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, ohne meinen Vater zu sein.“

Sofort nach ihrem Einmarsch erlassen die Deutschen zahlreiche antijüdische Verordnungen und Gesetze, die Erlasse werden in der ganzen Stadt plakatiert. Juden dürfen keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen, sie dürfen die Stadt nicht ohne Erlaubnis verlassen, Bankkonten werden gesperrt, Männer werden von der Straße weg oder aus ihren Häusern zur Zwangsarbeit geholt.

„In der Schule mussten wir den vierten Stock räumen, der von der deutschen Armee requiriert worden war. Am nächsten Tag wurde uns der vierte Stock wiedergegeben, und wir haben alle Möbel wieder hochgetragen. Am dritten Tag forderten uniformierte Deutsche dann den ersten Stock von uns – also es war völlig klar, dass die Spielchen mit uns trieben.“

Innerhalb kürzester Zeit kehrt Marias Vater wieder nach Hause. Die polnische Armee, nun auch mit einem Angriff von der Sowjetunion aus dem Osten konfrontiert und ohne Unterstützung durch die beiden Alliierten Frankreich und Großbritannien, ist Anfang Oktober geschlagen.

„Mein Vater kam nachts nach Hause, ich sehe ihn noch heute vor mir: Er war dreckig und abgemagert, erschöpft und sichtlich betrübt – und er wurde krank. Nicht lange danach wurde ich aus der Mathestunde heraus zur Direktorin gerufen. Ich konnte mir keinen Grund denken, aber plötzlich sah ich dort meine Mutter sitzen, die Mühe hatte, ihre Tränen zurückzuhalten, und mich aufforderte, sofort nach Hause zu kommen. Auf dem Nachhauseweg erzählte sie mir, dass ein SS-Mann in die Wohnung gekommen war, um meinen Vater für irgendwelche Arbeiten zu holen. Sie hatte dem Deutschen erklärt, dass mein Vater krank im Bett liege. Der hatte daraufhin höhnisch gelacht und erklärt, er wisse schon, wie man die jüdische Krankheit heilen könne, hatte meinen Vater aus dem Bett gezerrt und so lange geschlagen, bis er bewusstlos war.“

Borys Markus stirbt am nächsten Morgen, am 4. Oktober 1939. Er ist 51 Jahre alt.

Am 9. November wird Łódź ins Deutsche Reich eingegliedert, anschließend verschärft sich der antijüdische Terror. Tausende von Juden und Polen werden verhaftet, ins Gefängnis gesteckt, dort umgebracht oder in deutsche Konzentrationslager deportiert. Mitte November werden alle Synagogen der Stadt zerstört, statt gelber Armbinden (seit dem 4. November) müssen die Juden ab dem 17. November einen gelben Judenstern vorne und hinten auf der Kleidung tragen. Ohne Vorwarnung werden jüdische Wohnungen konfisziert und deren Bewohner deportiert.

„Der Häuserblock, in dem wir wohnten, gehörte einem Deutschen. Nachdem mein Vater gestorben war, sagte der zu meiner Mutter: ‚Ihr Mann wusste einfach, wann es Zeit war zu sterben. Es muss so viel einfacher sein für Sie ohne einen jüdischen Ehemann.‘ Und dann schmiss er alle Juden, die in dem Haus wohnten, auf der Stelle raus – ohne dass sie ihre Möbel und ihre Habe hätten mitnehmen können – und uns ließ er wohnen. Kazia, unser gutherziges Mädchen, öffnete die Tür für all die rausgeworfenen Leute, und für kurze Zeit beherbergten wir sieben Familien.“

Bis zum März 1940 haben etwa 70.000 Juden die Stadt verlassen – die meisten sind deportiert worden, etliche sind geflohen. Sie fliehen entweder in die von den Sowjets kontrollierten Gebiete im Osten Polens oder ins Generalgouvernement, hoffend, dass die Zustände dort erträglicher sind als in dem Teil Polens, der nun zum Deutschen Reich gehört. Lidia Markus beschließt, nach Warschau zu fliehen.

„Ein Exodus hatte begonnen, und unsere Freunde hatten die Stadt auch schon verlassen. Der deutsche Freund meines Vaters drängte, dass wir Łódź für einige Wochen verlassen sollten, und organisierte eine Erlaubnis für uns, dass wir die Stadt aus ‚Geschäftsgründen‘ verlassen dürften. Also packten wir unsere Koffer, brachten all die Bücher meines Vaters auf den Boden, und – das war das Schlimmste – verbrannten all unsere persönlichen Papiere, Briefe und Fotos. Meine Mutter, Genia, Kazia und ich saßen um den Holzofen in der Küche herum und sahen zu, wie all unsere Habseligkeiten – für mich waren das meine ganzen Kindheitserinnerungen – in den Flammen verschwanden. Kazia hatte rote Augen und eine rote Nase, gab aber vor, eine Erkältung zu haben. Das war schon eine ziemlich emotionale Angelegenheit.“

Mit der Hilfe ihrer Schwester Olga, die in Kobyłka lebt, einer Stadt 16 Kilometer nordöstlich von Warschau, findet Lidia mit ihren Töchtern eine Unterkunft in Wołomin, der nächsten Kreisstadt. Es ist nur ein Zimmer mit Küche und einem kleinen Garten, aber die Familie geht davon aus, dass sie bald nach Łódź zurückkehren kann.


Lidia Markus (l.) mit ihrer Schwester Alexandra (Olga) Zmigrodzka, Wołomin 1940

„Als die Deutschen im Juni 1940 Frankreich angriffen, war meine Mutter felsenfest davon überzeugt, dass es jeden Moment eine erfolgreiche Gegenoffensive der Franzosen geben würde.“

Wenige Wochen nach Beginn des Westfeldzugs sind die Franzosen geschlagen und unterzeichnen ein Waffenstillstandsabkommen mit den Deutschen.

Irma, eine von Marias Freundinnen, zieht mit ihrer Familie ebenfalls nach Wołomin.

„Ich habe meine ganze Zeit mit Irma verbracht. Irma war ein Jahr älter als ich, aber schon zwei Klassen über mir. Sie war äußerst intelligent, und körperlich war sie schon viel weiter als ich. Sie brachte mir eine Menge Sachen bei über Jungs und all so was, aber auch über Literatur und Poesie. Wir haben sehr viele Bücher gelesen und sie anschließend diskutiert. Sie hat mich auch ermuntert zu schreiben, und das war toll, weil Poesie und Schreiben war wirklich meine Leidenschaft.“

Maria macht eine kleine Pause und lacht. „Ich besaß diese Biografie über Marie Curie. Curie wurde darin als leidenschaftliche Leserin beschrieben, die durchaus schon mal das Essen über ihrer Lektüre vergaß. Das habe ich dann kopiert: Wann immer ich zum Essen gerufen wurde, tat ich so, als ob ich völlig in meinem Buch versunken bin und nichts um mich herum höre.“


Die beste Freundin: Irma, 1940

Im Oktober 1940 ordnet Hans Frank, Leiter des Generalgouvernements, die Errichtung des Warschauer Ghettos an und befiehlt allen Juden in der Stadt und in der Umgebung, in den „Jüdischen Wohnbezirk“ zu ziehen. Irmas Familie will nicht erst auf die Polizei warten und zieht „freiwillig“ ins Ghetto. Lidia Markus entschließt sich – sehr zum Entsetzen ihrer Schwester Olga –, ihren Freunden ins Ghetto zu folgen.

„Meine Tante und mein Onkel haben verständlicherweise versucht, meine Mutter davon abzuhalten – ich meine, meine Mutter war ja schließlich Christin. Sie war nicht jüdisch, also brauchte sie auch nicht ins Ghetto zu ziehen. Mein Onkel Jerzy, ein polnischer Aristokrat, warf meiner Mutter ohnehin vor, dass sie ihr Leben durch die Heirat mit einem Juden ruiniert hätte. Und nun würde sie es ein zweites Mal ruinieren, indem sie sich selbst nach dem Tode ihres Mannes nicht von den Juden lossagen würde. Aber meine Mutter hat das alles nicht gerührt – wir sind in ein kleines Zimmer im Warschauer Ghetto gezogen.“

Kurz nach dem Umzug, am 16. November 1940, wird das Ghetto geschlossen. Ohne Erlaubnis kann nun niemand mehr hinein oder hinaus. Lidia Markus und ihre beiden Mädchen leben in der Sienna-Straße im sogenannten „kleinen Ghetto“, einem Gebiet, in dem die wohlhabenderen Juden leben. Es ist durch eine Holzbrücke über eine außerhalb des Ghettos liegende Straße mit dem „großen Ghetto“ verbunden, in dem die Lebensbedingungen sehr viel schwieriger sind.

„Von unserem Fenster aus konnte ich die ‚arische‘ polnische Seite sehen – theoretisch jedenfalls. Wegen der Mauer konnte ich nämlich nur den oberen Teil der Häuser auf der Marszałkowska-Straße sehen. Aber wir hatten einen Baum vorm Fenster, da hatten wir wirklich Glück. Bäume waren eine Rarität im Ghetto.“

Statistiken der Nazis zufolge leben 470.000 bis 590.000 Menschen im Ghetto, für die es nur 27.000 Wohnungen gibt. Sechs bis sieben Personen müssen sich ein Zimmer teilen, es gibt keine Parks, keine Wiesen, keine Plätze für die vielen Menschen.

„Die Straßen waren völlig überfüllt. Überall saßen hungrige Kinder, die bettelten oder, wenn man etwas in der Hand hielt, versuchten, einem das zu entreißen. Ich erinnere mich genau an das erste Mal, als ich ein sterbendes oder schon totes Kind auf der Straße sah und ich mich zu dem Kind beugte, um zu helfen. Da schritt meine Mutter ein und hielt mich davon ab. Ich konnte es nicht glauben, dass meine Mutter mir tatsächlich verbot zu helfen. Sie hatte uns dazu erzogen, altruistisch zu handeln, und nun befahl sie mir, dem Kind fernzubleiben, weil es voller Läuse war und wahrscheinlich auch Typhus hatte. Das war genau der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich von nun an Scheuklappen anlegen musste, um zu überleben. Das zu akzeptieren war nicht leicht für mich.“

Trotz ihrer entsetzlichen Situation versuchen die Juden, so normal wie möglich im Ghetto zu leben. Ein Krankenhaus und ein Waisenhaus beginnen ihre Arbeit. Wohlfahrtsorganisationen (neben dem Judenrat die einzigen jüdischen Institutionen, die erlaubt waren) richten Suppenküchen ein, heimlicher Schulunterricht wird organisiert und kulturelle Veranstaltungen finden statt.

„Das Interessante war, dass die Leute wirklich versucht haben, ihren Optimismus zu behalten. Da wurde in privaten Wohnungen heimlich Schulunterricht gegeben, Literaturabende fanden statt, die Synagoge hatte eine unglaubliche Bibliothek und gab Bücher in Umlauf, es gab Theatergruppen und sogar ein Orchester. Ein Cousin von meinem Vater hat eine Suppenküche organisiert. Und meine Freundinnen und ich haben für die Kinder Kasperletheater gespielt. Natürlich hatten wir keine Puppen, aber wir haben einfach unsere Finger benutzt und uns kleine Geschichten ausgedacht. Ich erinnere mich, dass in einer unserer Geschichten ein Baum vorkam, und dass wir zu unserem Entsetzen von einem vierjährigen Jungen gefragt wurden: Was ist denn ein Baum?“

Die fünfzehnjährige Maria trifft im Ghetto ihre Schulfreundinnen Irma, Iwetta, Irka und Luisa wieder. Einige der früheren Lehrer organisieren heimlichen Schulunterricht und unterrichten polnische Literatur und Naturwissenschaften. „Wir haben uns jeden Tag in einer anderen Wohnung getroffen, kamen alle einzeln und haben unsere Bücher unter der Kleidung versteckt, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.“

Die Mädchen verbringen oft die Nachmittage zusammen – bis 19 Uhr, dann beginnt die nächtliche Ausgehsperre. Eines Tages sind die Mädchen bei Irma verabredet, Maria verspätet sich etwas und trifft weder Irma noch Iwetta oder Irka an. Irgendetwas ist komisch, denn Irmas Mutter möchte nicht sagen, wo die Mädchen sind.

„Erst einige Zeit später hat mir Irmas Vater dann erzählt, was passiert ist. Deutsche waren in das Haus gestürmt und haben fünf Mädchen mitgenommen – darunter Irma, Iwetta und Irka. Dann haben sie die Mädchen in einen Hinterhof gebracht, in dem ein Berg Kohle lag. Die Mädchen mussten sich splitternackt ausziehen und zu den Klängen von Militärmusik die Kohle von einer Ecke des Hofs in die andere Ecke tragen. Nach drei Stunden wurden sie zu ihrem Haus zurückgebracht.“

Maria schüttelt den Kopf und sagt langsam: „Meine Freundinnen haben nie ein einziges Wort über diesen Vorfall verloren.“ Lidia wird von ihrer Schwester Olga mit Briefen bombardiert und der Bitte, doch das Ghetto zu verlassen. Es laufen Gerüchte über Umsiedlungen und Arbeitslager. Olga organisiert Papiere für die Mädchen, damit sie sich als russisch-orthodox eintragen lassen können, und sie organisiert eine Wohnung in Warschau. Irgendwann gibt Lidia nach, und es gelingt ihr und den beiden Mädchen, aus dem Ghetto auf die arische Seite zu gelangen.

„Vermutlich ist das überraschend, was ich jetzt sage, aber so sehr wie ich das Ghetto gehasst habe – denn die Situation im Ghetto verschlimmerte sich nahezu täglich –, ich wollte es wirklich nicht verlassen. Ich habe das Gefühl gehabt, dass ich meine Freundinnen im Stich lasse und verrate. Ich habe endlos meiner Mutter gegenüber gejammert, wie allein ich mich ohne meine Freundinnen fühle. Die andere Sache war natürlich, dass wir dauernd davon hörten, dass auf der arischen Seite Juden denunziert werden – davor wenigstens brauchte man im Ghetto keine Angst zu haben.“

Lidia und die Kinder benutzen einen Mittelsmann, um mit ihren Freunden im Ghetto in Verbindung zu bleiben. Die siebzehnjährige Irma schreibt im Frühjahr 1940:

„ … Der Grund, warum ich nicht geschrieben habe, ist, weil ich so schwer arbeiten muss. Abgesehen davon bin ich sehr deprimiert. Ich habe keine Motivation, auch nur irgendetwas zu tun … Es gibt keine großen Veränderungen hier. Ich versuche, nicht daran zu denken, was in zwei oder drei Monaten sein wird. Wir müssen von einem Tag auf den anderen leben, auch wenn das keine erfreuliche Philosophie ist. Entschuldige, dass ich es überhaupt erwähne. Ich frage mich, was der Frühling bringt. Ich bin sicher, dass es einige schwierige Momente geben wird (die Lager!). Aber gleichzeitig hoffe ich, dass die Situation besser wird … Ich wünschte nur, dass diese schwierige Periode in unserem Leben bald vorüber sein wird, denn meine Nerven halten das nicht mehr lange aus. Manchmal, wenn nichts mehr geht, kriege ich einen hysterischen Anfall, und dann bin ich die nächsten Tage etwas ruhiger. Aber dann kommen wieder schlechte Nachrichten zum Beispiel aus Łódź2, und dann kehrt die Traurigkeit zurück … “

Als die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfällt, schöpfen viele Juden Hoffnung. So auch Irma in ihrem Brief vom 24. Juni:

„ … dies ist der letzte Funken Hoffnung für uns … und er kam gerade im richtigen Moment. Wir sind entsetzlich heruntergekommen und fühlen uns elend. Die kleinste Bagatelle lässt uns in Tränen ausbrechen. Wenn man aber glauben und antizipieren kann, dass etwas passiert, dann kann man den Gürtel noch enger schnallen und ausharren. Dies ist unsere letzte Hoffnung, dass das Schicksal uns das erhoffte Wunder bringt … Hoffentlich passiert es, bevor wir uns in Skelette verwandelt haben, bevor wir komplett entmenschlicht sind, beraubt aller Träume und aller Bestrebungen außer der Suche nach Essen … “

Im Juni 1942 wird der Mittelsmann verhaftet, und die Korrespondenz zwischen den Mädchen hört abrupt auf. Maria traut sich, von einer öffentlichen Telefonzelle aus im Ghetto anzurufen.

„Es gab da ein Telefon in der Werkstatt, in der Irma gearbeitet hat, und so konnte ich mit ihr sprechen. Irma erzählte mir, dass ihre Großmutter an einen unbekannten Ort deportiert worden war und viele Freunde auch und dass sich jeder im Ghetto Sorgen mache um die Deportierten. Und dann sagte sie, dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis die Nazis auch sie und ihre restliche Familie deportieren würden. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber versuchte, sie zu beruhigen. Also sagte ich, dass der Krieg nun bestimmt bald vorbei wäre. Ich meine, als die Deutschen Russland überfielen, haben wir das ja alle gedacht. Aber Irma sagte nur: Es ist eine Lüge, Marka, und du weißt es. Und dann legte sie auf.“

Marias Stimme wird dünn. „Das war das letzte Mal, dass ich mit Irma gesprochen habe.“

Während Lidia Markus mit ihren Töchtern nach Warschau floh, flüchtete ihr Schwager Vitek, der Bruder ihres Mannes, von seinem Wohnort Krakau aus in das russisch besetzte Polen. Mit seiner Frau Inka, seinem elfjährigen Sohn Marek und Julek, dem Bruder seiner Frau, floh er nach Lvov. Ungefähr 100.000 Juden haben hier Zuflucht vor den Deutschen gesucht. Vitek findet eine Wohnung und Arbeit, Marek kann wieder zur Schule gehen. Aber das Glück ist nicht von langer Dauer. Am 30. Juni 1941 besetzen die Deutschen die Stadt und errichten im November ein Ghetto im ärmsten Viertel von Lvov. Mit unglaublicher Brutalität – allein auf dem Weg ins Ghetto werden 5.000 ältere und kranke Juden umgebracht – werden die Juden in das Ghetto getrieben. Vitek und seine Familie befinden sich unter diesen Juden. Im März 1942 erfolgt die erste sogenannte „Aktion“: 15.000 Juden werden in das kürzlich errichtete Vernichtungslager Bełżec bei Lublin gebracht. Im Juli schickt Vitek einen Hilferuf an seine Schwägerin Lidia. Deren Schwester Olga, die noch nicht einmal mit Vitek verwandt ist, bietet sich sofort an, nach Lvov zu reisen, um Vitek und dessen Familie zu retten. Die Reise ist erfolgreich.

„Es war ein gefährliches Unterfangen, aber meine Tante Olga kam tatsächlich mit der ganzen Familie zurück. Sie sahen alle sehr jüdisch aus, insbesondere der kleine Marek. Dem hat meine Tante, Zahnschmerzen vortäuschend, ein Tuch um den Kopf gebunden, so dass man dessen jüdische Gesichtszüge nicht so sah.“

Lidia und die Mädchen rücken zusammen und teilen ihre Warschauer Wohnung mit Vitek, Inka, Marek und Julek.

Mit Verordnung vom 26. Oktober 1939 wird im Generalgouvernement die Kennkartenpflicht eingeführt – graue Karten für die Polen, gelbe Karten für die Juden und blaue für Russen, Ukrainer, Weißrussen und andere Minderheiten.

„Jeder musste sich registrieren lassen, eine Geburtsurkunde vorzeigen und eine eidesstattliche Erklärung abgeben, dass man weder Jude noch Halbjude sei. Ein polnischer Freund sagte uns, wir bräuchten uns keine Sorgen zu machen, weil die polnische Untergrundbewegung die Einwohnermeldeämter unterwandert hätte. Und tatsächlich: Als meine Schwester zögerte, diese Erklärung zu unterschreiben, wurde sie von der Dame hinter dem Schalter energisch dazu aufgefordert. Ich selbst hatte noch nicht mal eine Geburtsurkunde und bekam trotzdem meine arische Kennkarte.“

Der Besitz einer Kennkarte war notwendig, aber nicht hinreichend für Juden oder Halbjuden, um auf der arischen Seite Warschaus zu überleben.

„Inzwischen hatte sich ein sehr profitabler Berufszweig entwickelt in Polen: die Juden-Jäger. Das waren Leute, die darauf aus waren, Juden zu entdecken, zu erpressen und zu denunzieren, skrupellos und wahre Experten auf ihrem Gebiet. Viele machten es für Geld – entweder von den Juden oder von den Deutschen, manchmal beides. Am schlimmsten aber waren die, die aus ideologischen Gründen denunziert haben. Die wollten Polen von den Juden befreien und haben sie oft auch misshandelt. Also – es war sehr wichtig, das ‚gute Aussehen‘ zu haben, das heißt polnisch und nicht jüdisch auszusehen. Viele Frauen blondierten sich das Haar und trugen Ketten mit einem Kreuz um den Hals.“

Die Tradition der Beschneidung im jüdischen Glauben macht es besonders schwierig für die männlichen Juden: Werden sie denunziert oder fällt sonst ein Verdacht darauf, dass sie jüdisch sind, ist das durch eine simple Körperkontrolle sehr schnell verifizierbar.

Eines Tages wird Julek von einem Polizisten bedrängt, der ihn für einen Juden hält. Der Polizist folgt Julek bis nach Hause, um ein Bestechungsgeld zu erhalten. Marias Mutter hat jedoch die Courage, den Mann übel zu beschimpfen anstatt ihm Geld in die Hand zu drücken.

„Meine Mutter war eine Löwin. Sie hat dem Polizisten gesagt, dass Julek ein Pole sei, aber keine Arbeitserlaubnis habe. Und dann startete sie ihre Gegenattacke: Sie bezichtigte den Mann, antipolnisch zu handeln, indem er einen Polen an die Deutschen auslieferte, die ihn dann sicher in ein Arbeitslager nach Deutschland schicken würden. Der Polizist zog unverrichteter Dinge ab, aber es war klar, dass Julek nun aus dem Verkehr gezogen werden musste.“

Olga und ihr Ehemann Jerzy Zmigrodzki bieten an, zwei Familienmitglieder aus der Markus-Familie in ihrem Haus in Kobyłka zu verstecken: Julek und Marek.

„Onkel Jerzy hatte Krebs im fortgeschrittenen Stadium, er hat sich nicht wirklich Sorgen um sich gemacht. Er wusste ja: Wenn Juden in seinem Haus entdeckt würden, würde das nicht nur für die Versteckten, sondern auch für sie selbst den sicheren Tod bedeuten. Aber er sagte, dass es einfacher sei, zwei Leute zu verstecken als vier. Und dass in dem Haus nicht genug Platz sei für alle – das Haus hatte einen kombinierten Wohn- und Esszimmerbereich, zwei Schlafzimmer und eine Küche. Und unter diesen Umständen würde er lieber die Jungen als die Alten retten.“

Olga hatte eine andere Meinung.

„Sie dachte, dass es keinen Unterschied mache, ob sie für zwei oder für vier versteckte Juden mit dem Leben bezahlen müsse. Sie war fest entschlossen, auch Inka und Vitek zu verstecken. Sie sagte, wir müssten nur die Lebensmittel aus Warschau holen, damit die kleinen Geschäfte in Kobyłka nicht misstrauisch würden, wir müssten leise sein, die Toilette auf kluge Weise benutzen (die Spülung!) und ein Versteck bauen.“

Mit der Erlaubnis von Onkel Jerzy ziehen Maria, Julek und Marek in das Haus. Die 16 Kilometer lange Fahrt nach Kobyłka ist nicht leicht zu bewerkstelligen.


Versteck im Haus von Jerzy und Olga Zmigrodzki, Zeichnung von Joe Lewit


Postkarte von der Freundin Iwetta aus dem Warschauer Ghetto, 1940

„Wir haben Marek als Mädchen verkleidet und ihm eins meiner Kleider angezogen. Und dann kriegte er wieder ein Kopftuch ums Gesicht, als ob er von einem Zahnarztbesuch in Warschau zurückkäme. Er sah wirklich sehr jüdisch aus.“

Ein paar Tage später schmuggelt Olga Inka und Vitek ins Haus.

„Die beiden haben von nun an gelebt wie in einem mönchischen Schweigekloster. Sie haben sich kaum bewegt und haben nur geflüstert, damit mein Onkel ja nichts herausfindet.“

Lidia und Genia bleiben in Warschau. Maria und ihre Tante Olga fahren jeden zweiten Tag nach Warschau, um einzukaufen, aber auch Marias Mutter kommt oft, um Essensvorräte und Bücher aus der Bibliothek zu bringen. Bei der Gelegenheit bringt sie oft auch Gerüchte mit.

„Inzwischen war es bekannt, dass Menschen aus dem Ghetto deportiert werden, aber niemand wusste wohin. Arbeitslager? Konzentrationslager? Gerüchte über Vernichtungslager hielten sich hartnäckig. Eines Tages brachte meine Tante Olga eine Zeitung von der polnischen Untergrundbewegung nach Hause. In der Zeitung wurde Treblinka als Speziallager für die Vernichtung der Warschauer Juden genannt. Von da an war ich sehr besorgt um meine Freundinnen im Ghetto.“

Die Familie beschließt, für den Fall einer Hausdurchsuchung ein Versteck im Keller zu bauen. Vitek, von Haus aus Ingenieur, zeichnet einen Plan, Maria und Julek beginnen mit der Arbeit.

„Das Ziel war, eine Mauer zu durchbrechen und einen Bunker unter der rückwärtigen Terrasse zu machen mit einem Fluchtweg in den Garten. Um den Lärm möglichst gering zu halten, haben wir den Mörtel um die Ziegelsteine herum mit scharfen Nägeln abgekratzt – das war harte Arbeit. Juleks Hände waren völlig aufgeschnitten und bluteten, aber es machte uns nichts, wir waren nämlich ineinander verliebt.“ Maria lacht und fährt fort: „Ehrlich gesagt waren wir sogar froh, dass wir im Keller arbeiten konnten, weil wir da nämlich unter uns waren.“

Die beiden Verliebten wollen mehr als heimliche Küsse, also fragt die rebellische Maria ihre Mutter, ob sie und Julek zusammen schlafen können. Lidia ist nicht erfreut und meint, dass ihre achtzehnjährige Tochter bis zum Ende des Krieges warten sollte, um sich ihrer Gefühle auch wirklich sicher zu sein. Aber als Julek schließlich offiziell bei Lidia um die Hand ihrer Tochter anhält, gibt sie nach.

„Meine Mutter zauberte eine Flasche Wodka auf den Tisch, und die Familie erklärte, dass wir verheiratet seien und von nun an auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen dürften.“

Währenddessen wird Genia, die noch in Warschau lebt, von Juden-Jägern in ihrer Wohnung aufgespürt und, nachdem sie kein Geld bezahlt, übel zugerichtet. Nach diesem Vorfall ziehen auch Marias Mutter und Schwester nach Kobyłka.

„Jetzt waren wir neun im Haus. Ich werde nie erfahren, ob Onkel Jerzy wusste, dass die ganze Familie im Haus lebt. Wenn er es wusste, hat er jedenfalls nie ein Wort gesagt.“

Maria und Julek bauen nun mit doppelter Kraft an dem Versteck im Keller.

„Wir haben oft Geschichten gehört von Leuten, die im Versteck lebten und denunziert worden waren. Und wenn man sie fand, gab es immer nur ein Ergebnis: den sicheren Tod.“

Es gelingt den beiden, einen schmalen Gang im Keller zu graben.

„Wir haben dabei eine Menge Sand herausgeholt, den haben wir im Garten herumgestreut, so, dass die Nachbarn nichts merkten. Julek hat dann Onkel Jerzys Weinregale benutzt, um einen Kaninchenstall zu bauen. Den wollten wir vor den Eingang des Verstecks stellen, um für den Fall des Falles die deutschen Schäferhunde zu täuschen.“

Nachdem Marias Onkel Jerzy Zmigrodzki stirbt, ist das Haus – für Außenstehende – ein Vier-Frauen-Haushalt. Vitek, Inka, Julek und Marek leben nach wie vor versteckt und können das Haus nicht verlassen.

Olga wird von einem Nachbarn angesprochen, der sie gut kennt. Er eröffnet ihr, dass er für die Armia Krajowa (AK) arbeite, die größte polnische Untergrundbewegung, und bittet Olga um Unterstützung. Die etwa 400.000 Untergrundkämpfer der Armia Krajowa sabotieren deutsche Züge, die in den Osten fahren, sprengen Brücken, befreien Gefangene und Geiseln, liefern sich Kämpfe mit Einheiten der Polizei und Wehrmacht und liefern wichtige militärische Informationen an die Alliierten. Jeder Untergrundkämpfer, der in die Hände der Deutschen gerät, wird unweigerlich exekutiert.

„Ich erinnere mich, dass wir mit dem Nachbarn bei einer Flasche Wodka zusammengesessen haben und dass der Nachbar meine Mutter und meine Tante fragte, ob er unser Haus als Radiostation benutzen könne, um täglich Nachrichten an die polnische Exilregierung in London zu senden. Diese Idee wurde zwar schnell von den beiden Frauen verworfen, aber die Begeisterung, anderweitig zu helfen, war groß. Und so fingen meine Mutter und meine Tante an, Dokumente und Waffen im Keller zu verstecken. Ich habe mich mit dieser Idee überhaupt nicht wohl gefühlt, aber Mutter und Tante waren nicht zu bremsen.“

Eines Tages fahren Maria und ihre Mutter nach Warschau, um Lebensmittel zu besorgen und neue Bücher aus der Bibliothek zu holen. Die Bücher sind besonders wichtig für die Familienmitglieder, die das Haus nicht verlassen dürfen. Es ist eine von vielen Zugfahrten zwischen Kobyłka und Warschau. Diesmal jedoch ist es anders.

„Der Zug war brechend voll und voller Soldaten. Meiner Mutter und mir wurde ein Sitzplatz angeboten im ‚Nur für Deutsche‘-Abteil. Soldaten erzählten und lachten und alles war gut – bis ich plötzlich eine Stimme sagen hörte: ‚Ich weiß, du bist eine Jüdin.‘ Erst langsam, dann schneller und lauter, und fast einfallend mit dem Rhythmus des Zuges, wiederholte die Stimme. ‚Ich weiß, ich weiß, du bist Jüdin.‘“

Maria ist gemeint. Es ist eine gezielte Denunziation.

„Ich habe ganz still gesessen und wusste nicht, was ich machen sollte, bis meine Mutter eingriff.“

Lidia Markus protestiert, erklärt, dass Maria ihre Tochter sei und nicht irgendeine Jüdin, die vom Zug abgesprungen sei, wie der Denunziant behauptet, und zeigt ihre Kennkarten. Es hilft nichts. Als der Zug in Warschau hält, ruft der Denunziant die Polizei und bittet sie, Maria und ihre Mutter zur Gestapo-Zentrale zu bringen.

„Und so haben uns sechs Gendarmen zur Gestapo gebracht: Zwei liefen vor uns, zwei hinter uns und zwei an der Seite. Ich nahm mir fest vor, nicht zu weinen, aber ich hatte eine entsetzliche Angst. Würden die mich fragen, wo ich die letzte Nacht geschlafen habe? Würde ich dann stark genug sein, Tante Olgas Adresse nicht zu verraten? Würden die mich foltern? Ich hatte so meine Zweifel, ob ich dann meinen Mund halten könnte. Würden sie vielleicht meine Mutter bedrohen? Das waren so meine Gedanken. Aber vor allem dachte ich: Ich will nicht sterben.“

Die Gestapo-Zentrale ist eines der am meisten gefürchteten Gebäude Warschaus. Es ist bekannt, dass hier brutale Verhöre stattfinden, dass hier geschlagen, gefoltert und gemordet wird.

„Wir mussten eine Treppe nach oben gehen, und mir ging durch den Kopf: Komisch, und ich dachte immer, die Gestapo sei im Keller. Die Treppenstufen glänzten, der lange Flur glänzte, jemand öffnete eine Tür, und vor uns standen drei Gestapo-Leute in schwarzen Uniformen. Und an der Wand war ein riesiges Porträt von Hitler. Während meine Mutter unsere Kennkarten vorzeigte, dachte ich immerzu: Bitte, bitte, lass mich stark sein und mich nicht die Menschen verraten, die ich so sehr liebe.“

Einer der Gestapo-Männer inspiziert die Kennkarten, legt sie auf eine Glasplatte und beleuchtet sie.

„Und dann, plötzlich, brach dieser Mann, der offenbar der Vorgesetzte war, in offenes Gelächter aus und sagte: ‚Blonde Haare, blaue Augen, helle Haut und ordentliche Papiere – was für ein netter Scherz so früh am Morgen. Sie sind frei, Sie dürfen gehen. Heil Hitler.‘ Und dann liefen wir also zurück durch diesen Flur, und ich wollte nichts anderes als den nächsten Zug nach Hause nehmen. Ich war in totaler Panik, dass mich nun jedermann als Jüdin erkennen würde. Aber meine Mutter beruhigte mich, meinte, dass alles in Ordnung sei, und sie bestand darauf, dass wir uns nun genauso wie immer verhalten – also einkaufen und Bücher aus der Bibliothek holen. Natürlich konnte sie mich nicht zum Narren halten. Ich wusste, dass das nur Vorsichtsmaßnahmen waren, um sicherzugehen, dass uns niemand folgte.“

Maria kann das Gelächter des Gestapo-Mannes für lange Zeit nicht vergessen. Von nun an ist sie von den Zugfahrten nach Warschau befreit, Tante Olga springt ein. Lidia und Olga verbinden ihre Zugfahrten nach Warschau mit ihren patriotischen Pflichten für die AK. Die achtzehnjährige Maria zieht sich zurück und denkt viel darüber nach, was passiert ist.

„Wieso haben die mich laufen lassen? Nicht, weil ich irgendetwas Tolles oder Heroisches vollbracht hätte. Nein – nur weil ein Gestapo-Mann das Ganze als Witz betrachtete. Und weil ich mit meiner Mutter zusammen war. Meine Mutter war bildschön und hatte diese typischen slawischen Gesichtszüge. Niemand, nicht mal die Gestapo, konnte ernsthaft annehmen, dass sie Jüdin sei. Ja, dachte ich, meine Mutter war mutig, aber es war ja auch leicht für sie, mutig zu sein mit ihrem blonden Haar und ihren blauen Augen. Jüdische Mütter konnten ihre Töchter jedenfalls nicht retten, obwohl sie genauso mutig waren. Ich fand das unfair.“

Maria hält einen Moment inne. „Ich weiß nicht, ob das irgendjemand verstehen kann, was ich jetzt sage, aber ich habe meiner Mutter das arische Aussehen fast übel genommen.“

Olga und Lidia bringen das „Biuletyn Informacyjny“ nach Hause, das offizielle Presseorgan der Armia Krajowa. Es informiert über die politische Situation, über den Krieg und berichtet detailliert über die Untergrundaktivitäten. Der Leser wird aber auch über die „Endlösung“ informiert – die deutsche Antwort auf die „Judenfrage“. Maria liest, dass die Deutschen im Sommer und Herbst 1942 etwa 300.000 Juden aus dem Warschauer Ghetto deportiert haben, darunter alle 200 Kinder des Waisenhauses. Janusz Korczak, damals bereits berühmter Kinderbuchautor und Pädagoge, ist der Direktor des Waisenhauses. Er und alle seine Mitarbeiter weigern sich, die Kinder allein zu lassen, und begleiten die Kinder im Deportationszug, der in den Tod führt.

„Ich musste so oft an Dr. Korczak denken. Ich hatte seine ganzen Kinderbücher gelesen und einige seiner psychologischen Arbeiten. Als Kind und Teenager war ich wirklich total in seinem Bann. Das alles war einfach unfassbar.“

Ein weiteres Manuskript wird ins Haus geschmuggelt: Der Augenzeugenbericht eines polnischen Juden, der den Aufstand im Vernichtungslager Treblinka im August 1943 überlebt. Sofort nach seiner Flucht aus dem Lager – unter dem unmittelbaren Eindruck der Erlebnisse – schreibt Jankiel Wiernik auf, was er gesehen und erlebt hat. Wiernik ist Zeuge an dem Mord an etwa 700.000 Menschen geworden, und in der Monografie „Ein Jahr in Treblinka“ beschreibt er, nüchtern und ungeschönt, die Hölle des Lagers. Der Bericht ist grauenvoll, Maria ist entsetzt.

„Ich las unter anderem von einem namenlosen Mädchen, das sich auf einen SS-Wachmann geworfen hat, und das auf der Stelle erschossen wurde. Ich habe mir gewünscht und mich schließlich selbst davon überzeugt, dass das Irma war.“

An einem Frühlingstag im Jahr 1943 wird die Gegend um Kobyłka von den Deutschen durchkämmt. Sie stürmen in jedes Haus. Vitek, Inka, Julek und Marek haben nur Sekunden, um in ihr Versteck im Keller zu verschwinden.

„Die Deutschen kamen mehrmals ins Haus, sie schauten in jede Ecke, unter die Betten, in die Schränke. Wir waren paralysiert vor Angst. Noch in der gleichen Nacht sind meine Tante Olga und ich losgegangen, um von irgendeinem Dorfbewohner ein Kaninchen zu bekommen. Nachdem wir an Hunderte von Türen geklopft hatten, verkaufte uns tatsächlich jemand zwei Kaninchen. Die haben wir dann sofort in den Käfig gesteckt, der im Keller vor dem Versteck stand.“

Im April 1943 können Maria und ihre Familie Rauchwolken aus der Ferne über Warschau sehen – es ist der Beginn des Aufstands im Warschauer Ghetto. Maria ist unruhig und ängstlich.

„Das Ghetto brannte. Meine Familie wollte mich zurückhalten, aber ich bin trotzdem nach Warschau gefahren. Ich musste selbst sehen, was dort passiert. Es war Ostern, und gleich neben der Ghettomauer war ein Volksfest mit Karussells und Schießbuden. Die Leute hatten ihren Spaß, sie lachten, und es spielte laute Musik. Und zur gleichen Zeit konnte man Häuser im Ghetto brennen sehen und Menschen, die aus den Häusern sprangen.“

Jeden Tag sehen Maria und ihre Familie von ihrem Haus in Kobyłka aus den dicken, schwarzen Rauch über dem Warschauer Ghetto.

„Aber das Thema wurde nicht erwähnt. Es war wie ein stillschweigendes Übereinkommen: Man spricht nicht über den Tod in Anwesenheit eines sterbenden Patienten. Ich habe natürlich die ganze Zeit an meine Freundinnen gedacht – die Freundinnen, die ich im Stich gelassen hatte.“

Mitte Mai ist das Ghetto bis auf den Grund niedergebrannt. „Und ich dachte, das Ghetto hat sich gegenüber den Deutschen länger verteidigt als Polen, Frankreich und der ganze Kontinent.“

Sechs Wochen nach ihrem ersten Besuch kehrt Maria zum Ghetto zurück und sieht nur noch Ruinen. „Das Haus, in dem Irma und ihre Familie gelebt hatten, stand eigentümlicher Weise noch – vermutlich weil es so dicht an der Mauer war. Ich ging rein und suchte nach irgendeinem Zeichen von Irma, aber natürlich fand ich nichts.“

Marias Familie lebt nun seit eineinhalb Jahren im Versteck. „Wir stritten uns oft, meist über dumme und wirklich kleine Sachen. Tatsache war, dass wir nun schon viel zu lange auf viel zu kleinem Raum zusammen waren.“ Lethargie, Angst und Depression setzen ein. Als sich die sowjetischen Truppen Warschau nähern, kommen Gerüchte auf, dass die Deutschen die gesamte polnische Bevölkerung evakuieren will.

„Ich bekam jetzt wirklich Angst, dass ich das Ende des Krieges nicht mehr erleben würde. Vitek, sonst der große Geschichtenerzähler, wurde still, und seine Augen merkwürdig dunkel. Er hatte irgendwelche Kapseln zum Schlucken organisiert, falls die Deutschen kommen. Ich habe eine Menge über den Tod nachgedacht – und dabei wollte ich doch so gerne leben. Ich wollte mehr lernen, mehr über die Welt erfahren, ich wollte mit meinem Liebsten spazieren gehen, und ich wollte frei sein.“

Es ist Sommer 1944, als die Rote Armee Warschau erreicht.

„Wir haben angefangen, Hoffnung zu schöpfen, wir fühlten, dass das Kriegsende nahe war. Aber dann lasen wir in der Untergrundpresse von der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek und von den schrecklichen Verbrechen, die dort verübt worden waren. Nun bekamen wir eine entsetzliche Angst davor, was die Deutschen auf ihrem Rückzug alles mit uns machen würden.“

Am 1. August beginnt die Armia Krajowa ihren Aufstand gegen die deutsche Besatzungsmacht. Die Kämpfe sind erbittert.

„Von unserem Dachboden aus konnten wir Rauch über Warschau sehen und das Licht von dem Artilleriebeschuss erhellte unsere Zimmer. Einmal landete sogar eine Granate in unserem Dachboden, aber zum Glück explodierte sie nicht. Und dann sahen wir in der Ferne auch all die Menschen, die unter deutscher Bewachung aus Warschau getrieben wurden – Erwachsene, Kinder, Hunde, Kühe – alles war in Bewegung.“

Die Deutschen kommen auch nach Kobyłka.

„Da war ein Hämmern an der Tür, und deutsche Soldaten schrien: raus, raus! Sie hielten uns ihre Gewehre vor die Nase und sagten, wir würden vor den nahenden Russen evakuiert werden. Sie gaben uns keine Minute Zeit – wir mussten sofort mitkommen. Sie trieben uns aus dem Haus – und wir mussten Inka, Vitek, Julek und Marek allein im Keller zurücklassen.“

Die SS-Verbände, die eigens vom Reichsführer-SS Heinrich Himmler zur Zerschlagung Warschaus zusammengestellt worden waren, evakuieren das ganze Dorf, plündern und brennen Häuser ab. Nach einem Tagesmarsch gelingt es Maria, ihrer Schwester, Mutter und Tante bei Dunkelheit, sich von dem Strom der Flüchtlinge unerkannt abzusondern und nach Hause zurückzukehren. Das Haus ist schwer demoliert, aber nicht abgebrannt. Die vier versteckten Juden im Keller sind wie durch ein Wunder am Leben. Mitte Januar 1945 rollen sowjetische Panzer in Kobyłka ein.

„Nun waren wir also frei. Ich habe geweint und mich gewundert, dass ich so traurig bin. Meine Mutter sagte, sie wolle den ersten russischen Soldaten küssen, den sie sieht, rannte auf einen jungen Offizier zu, küsste ihn und dankte ihm. Vitek und die anderen trauten sich zunächst nicht aus ihrem Versteck – aus Angst, dass die Deutschen zurückkommen könnten. Schließlich kamen sie aber doch. Vitek ließ sich auf den Boden fallen und weinte, und der dreizehnjährige Marek, der ja die vergangenen drei Jahre keine einzige Möglichkeit gehabt hatte, seine Beine zu bewegen, sprang glücklich auf der Straße herum.“

Die Familie kehrt nach Łódź zurück, Maria und Julek heiraten – diesmal offiziell – und zwei Jahre später wird Sohn Joe geboren. Im Juli 1946 kommt es zu einem Ausbruch von Gewalt gegen Juden in Kielce, einer polnischen Stadt 130 Kilometer südöstlich von Łódź, der mit dem Tod von 42 jüdischen Frauen, Männern und Kindern endet – mit Bajonetten erstochen, erschossen, erschlagen oder gesteinigt. Dies ist der Moment, in dem das junge Paar entscheidet, dass es nicht in Polen bleiben will. Zum Glück hat Julek entfernte Verwandte in Australien. Zwei Cousinen von Juleks Mutter, denen es gelungen war, kurz vor Ausbruch des Krieges nach Australien zu emigrieren, schicken Visa für Julek, Maria und Joe. Trotzdem ist es schwer, den Reisepass von den polnischen Behörden zu bekommen.

„Wir mussten Millionen von Dokumenten und Papieren bei irgendeinem Ministerium in Warschau einreichen. Dann mussten wir von jedem Gegenstand, den wir mitnehmen wollten, eine Fotografie machen, unsere Bücher mit Autor, Titel, Erscheinungsjahr und Verlag auflisten – und wir mussten bestechen.“

Im Dezember 1947, in einem sehr kalten Winter, verlassen sie Polen und müssen in Frankreich ein Jahr auf ihre Weiterreise nach Australien warten.

„Das war eine gut angelegte Zeit. Ich hatte schon immer nach Paris reisen wollen, wo mein Vater studiert hatte. Er nannte Paris immer die ‚aufgeklärte‘ Stadt. Während meiner ganzen Kindheit hatte ich ein mentales Bild geformt von Paris. Für mich war das die Sorbonne, Louis Pasteur und Marie Curie, Emile Zola und Honoré de Balzac, Gauguin und Degas und all die Cafés. Juleks Bruder Simon und seine Frau lebten in Paris, und wir konnten bei ihnen wohnen. Wir haben die Stadt geliebt.“

Ende 1948 fährt die junge Familie nach Triest und besteigt dort das Schiff nach Australien. Fünf Wochen später, in der Mitte des australischen Sommers, erreichen sie Sydney.

„Ich hatte nie zuvor eine so schöne Stadt wie Sydney gesehen – aber es war einfach viel zu heiß für uns, um die Stadt zu genießen. Die Sonne brannte, die Luft war so stickig, dass wir kaum atmen konnten, und unsere Mäntel waren viel zu schwer. Am gleichen Abend bestiegen wir den Zug nach Melbourne – und mussten an der Grenze von New South Wales zu Victoria den Zug wechseln, weil die Spurweite der Gleise unterschiedlich war zwischen den beiden Bundesstaaten. Wir waren verblüfft: Wir waren von Polen über die Tschechoslowakei, Österreich und Deutschland nach Frankreich gereist, ohne dass sich auch nur einmal die Spur geändert hätte – und hier hatten sie unterschiedliche Gleise in einem einzigen Land.“

Die unterschiedlichen Gleisanlagen sind nicht das Einzige, das die Neuankömmlinge erstaunt.

„Alles war so völlig anders als in Europa. Die Sonne, die das Land so versengte, die silbrigen Eukalyptusbäume anstatt der sattgrünen Kiefernwälder, die andere Tierwelt und die Vögel, die die Luft mit Gelächter erfüllten wie in einem Irrenhaus,3 und die Nacht, die so schnell ohne Dämmerung hereinbrach: In einem Moment war es noch hell, und dann auch schon dunkel.“

Die junge Familie hat kein Geld, sie wohnt zunächst bei Juleks Cousinen, die, obwohl sie eine hervorragende Ausbildung haben, als polnische Immigranten keine adäquate Arbeit in Melbourne bekommen konnten und nun eine Hühnerfarm betreiben. Maria spricht kein Englisch, Julek, der in Manchester studiert hat, spricht die Sprache zwar fließend, bekommt aber auch keine Arbeit, die seiner Qualifikation entspricht.

„Der australische Traum fing an, Risse zu bekommen. Julek hatte eine Anzeige in die Zeitung gesetzt: ‚Textilingenieur mit englischem Abschluss sucht Arbeit‘. Er hatte viele Interviews, aber jedes Mal, wenn dem Gesprächspartner klar wurde, dass Julek Pole ist, war das Gespräch zu Ende. Die haben ihm geradeheraus gesagt, dass australische Arbeiter ihn nicht in einer Managerposition akzeptieren würden. Und so fing Julek eben an, als Arbeiter zu arbeiten. Aber er hat sich nicht beschwert. Ehrlich gesagt war ich diejenige, die unglücklich war. Ich habe auch meine Familie vermisst, die so weit weg war.“

Julek arbeitet schwer, und mit der Hilfe einiger Freunde, die ihm Geld leihen, kann er ein kleines Haus für die Familie kaufen. Kurz darauf kommen Bekannte aus Polen mit ihrem fünfjährigen Sohn in Melbourne an, und Maria und Julek sind mehr als froh, die drei bei sich unterzubringen: Franka war Marias Lehrerin gewesen, und zusammen mit ihrem Mann Leon hatte sie heimlichen Unterricht für ihre ehemaligen Schülerinnen im Warschauer Ghetto organisiert. Die beiden Familien teilen das kleine Haus für die nächsten drei Jahre.

Während die Kinder die neue Sprache sehr schnell lernen, tun sich die Erwachsenen schwer – insbesondere Franka und Maria, die nicht arbeiten und daher wenig Kontakt mit den „Aussies“ haben.

„Wir mussten noch nicht mal groß das Haus verlassen, um einzukaufen. Milch und Brot wurden täglich geliefert, und zweimal in der Woche kam ein Obstladen auf Rädern und hielt vor der Tür. Der Verkäufer war ein Italiener, und die Konversation ging normalerweise nicht über ‚Geben Sie mir dies‘ mit Fingerzeigen und ‚Si, si, Signorina‘ hinaus. Also haben wir uns schließlich entschlossen, Englisch-Unterricht zu nehmen. Leider ist unser sehr guter Lehrer nach kurzer Zeit nach England gegangen und ließ uns mit unserem dürftigen Grundwissen zurück. Aber wenigstens konnte ich schon Bücher lesen – ich habe mit Büchern angefangen, die ich schon aus dem Polnischen kannte.“

Maria muss sich ständig selbst daran erinnern, wie gut das Leben doch ist in Australien – jedenfalls im Vergleich zu all dem Horror, den sie und ihre Familie durchgemacht haben während des Krieges. Sie fühlt sich nicht wirklich zu Hause. Sie vermisst Polen, sie vermisst die Kiefernwälder, sie vermisst den Schnee im Winter und die milden, warmen Sommer. Aber in erster Linie vermisst sie ihre Mutter und alle anderen in der Familie, die ihr so lieb und teuer sind.

„Ich habe noch nicht mal Melbourne gemocht, weil ich dachte, es sei eine gesichtslose Stadt ohne Persönlichkeit, fast schon klinisch. Es gab keine kleinen Straßenhändler, keine Straßenkünstler oder -musikanten, keine Bettler und keine Verrückten auf der Straße. ‚Wo waren diese Leute in Australien?‘, fragte ich mich dauernd. Und wann immer ich in die Stadt ging, sah ich natürlich auch keine bekannten Gesichter und traf niemanden – ich kannte ja niemanden.“

Maria und Julek hatten Polen in dem Glauben verlassen, dass ihre Familie – oder was von der Familie übrig geblieben war (Juleks Mutter war im Ghetto von Łódź gestorben und sein Vater 1944 aus dem Ghetto heraus in ein Vernichtungslager deportiert worden) – nachkommen würde, sobald die nötigen Papiere vorliegen würden.

„Ich hätte alles gegeben für meine Söhne – inzwischen war mein zweiter Sohn Michael geboren – damit sie eine Großmutter und eine Tante haben. Sie sind wirklich nur mit uns groß geworden, ihren Eltern, und haben nie ihre weitere Verwandtschaft kennengelernt. Eines Tages erhielten wir einen Brief von meiner Mutter, in dem sie erklärte, dass der Mann meiner Schwester als polnischer Journalist in Polen bleiben wolle, dass meine Schwester ein Baby erwarte – und dass meine Mutter deshalb nun auch in Polen bliebe. Das war hart, und ich habe viel geweint.“

Lidia Markus bleibt in Łódź, ihre Schwester Olga Zmigrodzki zieht nach Warschau. Beide bleiben in enger Verbindung, fahren gemeinsam in Urlaub und besuchen ihre russischen Verwandten in Moskau. In den siebziger Jahren fliegt Maria nach Polen, um nach langer Zeit ihre Familie wiederzusehen. 1975 stirbt ihre Mutter, Joe und Michael haben ihre Großmutter nie kennengelernt.

Marias Schwester Genia zieht später in ihrem Leben nach Schweden, wohin ihr Sohn aus dem kommunistischen Polen geflohen ist. Marek geht nach Paris, um dort im Fach Elektronik zu promovieren, seine Eltern Vitek und Inka folgen ihm und leben in Paris.

Bald nach ihrer Ankunft in Australien fängt Maria an zu nähen, um zum Familieneinkommen beizutragen. Weil sie die Kinder nicht einem Kindermädchen überlassen will, näht sie zu Hause. Julek verkauft seine kostbare Kamera und kauft eine Nähmaschine. Allmählich lernen die beiden auch ein paar Leute kennen, meistens polnischer Herkunft, und Maria beginnt, das ihr zunächst so fremde Land zu mögen. Bald schon können sie ihren „Esky“4 gegen einen Kühlschrank eintauschen, und schließlich werden sie stolze Besitzer eines Austin A40. Um unabhängiger zu werden und ein bisschen mehr zu verdienen, kaufen sie eine „Milchbar“.5 Aber Maria hasst das Geschäft.

„Erstens haben wir nicht großartig verdient, und zweitens hat das Geschäft wirklich unser Familienleben beeinträchtigt. Zum Beispiel konnten wir nicht mehr zusammen essen, weil ja einer immer im Laden sein musste. Ich war sauer auf mich und auf Australien, weil mein Mann und ich unsere produktivsten Jahre damit vergeudeten, Kühlschränke mit Milch und Limonade zu füllen, fehlende Ware in den Regalen nachzufüllen und leere Flaschen zu sortieren. Wir haben den Laden nur ein gutes Jahr lang behalten.“

Julek, der inzwischen längst Julian genannt wird, bekommt eines Tages eine Arbeitsstelle vom Institut für Technologie angeboten, die seiner Qualifikation entspricht. Das Institut befindet sich jedoch in Geelong, einer Hafenstadt etwa 75 Kilometer südwestlich von Melbourne. Als Maria Angst vor einem erneuten Neubeginn bekommt, lehnt er die Stelle ab und kauft stattdessen eine Konditorei. Maria fühlt sich lange Zeit unwohl bei dem Gedanken, Julek die Karriere verbaut zu haben. Die Jungs entwickeln sich derweil bestens und werden zu echten „Aussies“.

„Die haben Aussie Rules gespielt, die australische Version von Fußball, und außerdem Cricket. Das war ein Spiel, das wir nie richtig verstanden haben!“

Den Australiern begegnet Maria mit Vorsicht und Wachsamkeit. Sie fürchtet, dass es Vorurteile gegen sie und ihre Familie geben könnte, weil sie Immigranten sind – und Juden. Zu ihrem Erstaunen trifft sie jedoch auf keine Ressentiments, die Australier sind freundlich und offen. Eines Tages in den frühen sechziger Jahren allerdings kommt Joe nach Hause und berichtet von einem Klassenkameraden, der antisemitische Reden schwingt. Maria und Julek schreiben einen Beschwerdebrief an den Direktor, der freundlich antwortet, dass er nur dann etwas tun könne, wenn er den Namen des Jungen wüsste. Den aber will Joe nicht preisgeben.


Maria und Julian in ihrem Haus in Melbourne, 1980

„Ich war wirklich deprimiert, weil ich plötzlich wieder diese Stimmen aus meiner Kindheit im Kopf hatte: ‚Nieder mit den Juden!‘ Aber ein paar Tage später kam Joe von der Schule nach Hause und erzählte, dass der Direktor eine Serie von Vorlesungen für die oberen Klassen organisiert hatte. Er hatte verschiedene Experten eingeladen, um über den Zweiten Weltkrieg zu berichten. Fantastisch! Da habe ich wirklich gedacht: Was für Glückspilze wir doch sind, dass wir uns in Australien niedergelassen haben, und was für eine gute Entscheidung für unsere Kinder. Ich war sogar bereit, den Australiern für ihr Cricket zu vergeben“, lacht Maria.

Maria ist bereits in ihren Fünfzigern, als sie mit einem Projekt beginnt, von dem sie schon als Schulkind geträumt hat: Sie schreibt ein Buch. Sie schreibt es in Englisch – in der Sprache, die sie nie studiert und nur vom Hören gelernt hat. „Come Spring“ ist, obwohl als Roman geschrieben, Marias Autobiografie. Das mit einem Literaturpreis ausgezeichnete Buch erscheint 1980 in Melbourne. „No Snow in December“ (Kein Schnee im Dezember), ihr zweites Buch über ihre frühen Jahre in Australien, wird ebenfalls ausgezeichnet. Weitere Kinderbücher, Kurzgeschichten und Gedichte erscheinen. Maria macht sich ebenfalls an die Aufgabe, Jankiel Wierniks Bericht über Treblinka vom Polnischen ins Englische zu übersetzen – kein leichtes Unterfangen, denn es bringt die Erinnerungen an ihre Schulfreundinnen im Warschauer Ghetto zurück, von denen keine überlebte.

In den neunziger Jahren stellt Maria einen Antrag in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte Israels, ihre Tante Olga als „Gerechte unter den Völkern“ anzuerkennen – ein Ehrentitel, der an Nichtjuden vergeben wird, die unter Einsatz ihres Lebens während des Holocaust Juden retteten. Der Antrag ist erfolgreich: 1997 wird Aleksandra (Olga) Żmigrodzka, die über mehrere Jahre vier Juden in ihrem Haus versteckt hielt, posthum der Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ zuerkannt. Bis heute wurde dieser Titel an 6.394 Polen verliehen.

1996 beginnt Maria, als ehrenamtlicher Guide im Museum zu arbeiten. Sie findet schnell einen Draht zu Kindern und Jugendlichen, und anstatt mit ihnen über den Horror des Holocaust zu reden, spricht sie über den Mut und die Zivilcourage von Menschen. Es gibt eine kleine Episode, die Maria oft erzählt – eine Episode, die sie persönlich während des Krieges in Warschau beobachtet hat.

„Wir lebten schon außerhalb des Ghettos, und in dem Wunsch, meine Freundin Irma zu sehen, lief ich an der Ghettomauer entlang. Gleich neben dem Ghetto war immer ein Wochenmarkt, und plötzlich sah ich da einen Pulk von Menschen. Als ich näher kam, sah ich, dass ein polnischer Polizist einen kleinen, völlig ausgemergelten Jungen verprügelte. Der Junge lag schon am Boden, neben ihm ein paar Kartoffeln, Karotten und ein halbes Brot. Und der Polizist brüllte: ‚Du dreckiger Jude, dir will ich’s zeigen, was es heißt zu stehlen.‘ In diesem Moment erschien ein deutscher Soldat. Der sah den polnischen Polizisten scharf an, schrie ihm etwas zu und verpasste ihm einen solchen Schlag, dass er zu Boden ging. Dann half der Deutsche dem kleinen Jungen auf, half ihm über die Mauer, hob die Kartoffeln, Karotten und das Brot auf und schmiss es hinterher. Dann schaute der Soldat sich um – die Menge hatte stumm zugesehen – ging auf die Marktstände zu, griff sich noch ein bisschen mehr Gemüse und schmiss auch das noch über die Ghettomauer.“

Maria hat dieses Erlebnis bis zum heutigen Tage nicht vergessen, und sie hält es wie ein Kleinod in ihrer Erinnerung wach.

„Wie glücklich bin ich doch, dass ich diesen Vorfall miterleben durfte. Dieser deutsche Soldat hat sein Leben riskiert – und mir den Glauben an die Menschheit bewahrt.“

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