Читать книгу So weit wie möglich weg von hier - Hannah Miska - Страница 8
Geleitwort
ОглавлениеNoch Anfang 1945 wurde ich, als knapp Achtzehnjähriger, zur Wehrmacht eingezogen. Ich kam zur 12. Armee, die Berlin verteidigen sollte, und ich hatte Glück: Oberbefehlshaber General Wenck kündigte Adolf Hitler den Gehorsam. Anstatt die ihm anvertrauten 80.000 Soldaten – die jüngsten Soldaten der ganzen Wehrmacht – in den Tod zu jagen, führte er uns südlich aus Berlin heraus Richtung Westen. In Tangermünde überquerten wir die Elbe, Wenck kapitulierte gegenüber den Amerikanern, und wir gerieten in amerikanische Kriegsgefangenschaft.
Als ich am 7. Mai 1945 als einer der Letzten die Trümmer der Elbbrücke überschritt, wusste ich: Dieser Tag ist ein tiefer Einschnitt in meinem Leben. Deutschland war zerstört, aber der Krieg war vorbei, ich hatte überlebt und eine neue Zeit lag vor uns.
Schon bald wuchs in mir der Wille, ein neues Deutschland mitzugestalten – ein Deutschland, in dem sich nicht wiederholen sollte, was geschehen war; ein Deutschland, das ein Stabilitätsfaktor für Entspannung und Frieden in ganz Europa wäre.
Theodor Heuss, als erster Bundespräsident führender Repräsentant der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, mahnte schon frühzeitig, die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus wachzuhalten. Er hielt eine kritische Auseinandersetzung mit der Nazi-Diktatur für außerordentlich wichtig, um die Demokratie, die ja von den Deutschen nicht selbst erkämpft war, auch wirklich Wurzeln schlagen zu lassen. Doch der breite Diskurs in der Gesellschaft über die Ursachen des Nationalsozialismus und insbesondere über den Völkermord an den Juden blieb zunächst aus.
Vor allem nach den Auschwitz-Prozessen, die am Anfang der sechziger Jahre begannen und das ganze Ausmaß des Verbrechens offenbarten, wuchs die Bereitschaft, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen. Nun wuchs auch das Interesse an sogenannten Zeitzeugen – an Menschen, die aus eigenem Erleben über die Verbrechen der Nationalsozialisten berichten konnten. Sie hatten bisher geschwiegen – nicht zuletzt deshalb, weil sich niemand für ihr Schicksal interessierte.
Die Stimmen der Zeitzeugen werden bald verstummen. In Zukunft werden sich nur noch Historiker über das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte, den Völkermord an den Juden, äußern. Deshalb ist es so wichtig, den jetzt noch Lebenden zuzuhören.
Die Autorin des Buches hat genau dies getan. Sie hat viele Jahre in Melbourne gelebt und dort im jüdischen Holocaust-Museum gearbeitet – zusammen mit einer Anzahl von überlebenden Juden aus ganz Europa, die dieses Museum aufgebaut haben und dort auch heute noch ehrenamtlich arbeiten. Es war eine Chance, die Erinnerungen dieser Überlebenden aufzuschreiben und für die Nachwelt zu bewahren, Hannah Miska hat sie ergriffen. In langen, intensiven Gesprächen – in der häuslichen Umgebung, in Cafés oder auch im Museum – gaben die Emigranten ihre Lebensgeschichten preis. Durch die intime Kenntnis der Zeitzeugen gelang es der Autorin, auch manch verborgene, schmerzvolle Erinnerung zu Tage zu fördern.
Es handelt sich bei den Emigranten um Menschen wie du und ich, die während der zwölf Jahre der NS-Diktatur Kinder und Jugendliche waren. Aus für sie unbegreiflichen Gründen mussten sie sich plötzlich verstecken oder angstvoll unter einer anderen Identität leben, wurden „abgeholt“ und von ihren Eltern getrennt, landeten in Arbeits-, Konzentrations- oder Vernichtungslagern und verloren oft ihre ganze Familie.
Die Autorin stellt die völlig unterschiedlichen Lebenswege in einen geschichtlichen Kontext. Der Leser erhält so umfassende Informationen über Konzentrationslager und Ghettos, über Zwangsarbeit und Nazi-Medizin, über die Vernichtung der Juden, eben über den SS-Staat und seine unvorstellbare Menschenverachtung. Er wird aber auch informiert über Widerstand und Helfer im Nationalsozialismus. Erst die Einzelschicksale machen die Geschehnisse der damaligen Zeit persönlich emotional erlebbar. Die Autorin erzählt die Biografien unter Verwendung zahlreicher Zitate. Sie erzählt sachlich und ohne Larmoyanz. Dennoch wirken die Schilderungen tief. Vor allem aber regen sie uns zum Nachdenken darüber an, was Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Andersgläubigen und Menschen unterschiedlicher Ethnizität für uns im 21. Jahrhundert bedeutet.
Wir leben heute in einer stabilen Demokratie, in einem Deutschland, das fester Bestandteil eines vereinten, friedliebenden und wohlhabenden Europa ist. Es gibt nur noch wenige Menschen, die die Schreckensjahre zwischen 1933 und 1945 bewusst erlebt haben. In einer solchen Zeit ist die Versuchung groß, die Vergangenheit mit ihren schrecklichen Ereignissen ad acta zu legen. Dazu darf es nicht kommen. Im Gegenteil – die Erinnerung muss immer wieder bewusst machen: Die Demokratie ist ein kostbares Gut, sie muss von allen Bürgerinnen und Bürgern mitgestaltet werden, um sie zu bewahren. Das ist die Botschaft insbesondere für die junge Generation. Die vorliegenden Lebenserinnerungen machen deutlich, wie wichtig Mut und Zivilcourage, Toleranz und Dialog in einer zunehmend diversifizierten Gesellschaft sind. Das galt gestern so wie heute.
Theodor Heuss hatte Recht: Ohne Kenntnis der Vergangenheit verstehen wir schwerlich die Probleme der Gegenwart und können keine Verantwortung für die Zukunft übernehmen.
Hans-Dietrich Genscher Bundesminister a. D.