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Einleitung: Von Europa nach Melbourne

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Mit knapp über vier Millionen Einwohnern ist Melbourne, im Südosten des Landes in der Bucht Port Phillip gelegen, die zweitgrößte Stadt Australiens. Dank einer aktiven Immigrationspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Zahl der „Melburnians“, wie sich die Einwohner der Stadt nennen, seit 1945 knapp vervierfacht. Die Migranten kommen aus allen Teilen Europas und Asiens und prägen das multikulturelle Bild der Stadt: Im italienischen Viertel findet man ein italienisches Restaurant neben dem anderen, im griechischen Viertel sitzen Männer vor den Cafés und trinken ihren Espresso, und im asiatischen Viertel kann man vietnamesische Frühlingsrolle, Thai Curry und Peking-Ente essen. Im Süden der Metropole, ganz in der Nähe des beliebten Stadtstrands, gibt es auch ein jüdisches Viertel mit einer nahezu europäischen „Fressmeile“, in der man koschere Falafel, Guglhupf und dunkles europäisches Brot bekommt. Zum Straßenbild gehören hier die orthodoxen Juden mit ihren Bärten und Schläfenlocken.

Trotz ihrer Größe ist die Stadt liebenswert entspannt und frei von jeder Hektik, Melbourne gewann über Jahre hinweg den Titel „Lebenswerteste Stadt der Welt“. Insgesamt sieben Jahre, von 2003 bis 2010, habe ich in der grünen Stadt am Meer gelebt.

Erst in „meinem dritten Jahr“ entdeckte ich im jüdischen Viertel Melbournes ein kleines Hinweisschild auf ein „Jewish Holocaust Centre. Remembrance Education Museum“. Ein jüdisches Holocaust-Museum in Australien? Ich fand es versteckt in einer unscheinbaren Nebenstraße. Das kleine, fast intime Museum enthielt eine beeindruckende Sammlung an Fotos, Dokumenten und diversen Exponaten über das religiöse, kulturelle und berufliche Leben der Juden im Vorkriegseuropa, über den Aufstieg der Nationalsozialisten, über Demütigung, Erniedrigung und Terror, über mobile Einsatzgruppen und Erschießungen in Polen, über Ghettos und Deportationen, über Konzentrations- und Vernichtungslager, aber auch über Menschen, die ihr eigenes Leben riskierten, um jüdische Freunde, Nachbarn, ja Unbekannte zu retten.

Ich blieb vor einem Foto stehen, das zwei Mädchen im Teenageralter zeigte – Zwillinge, an denen der berüchtigte SS-Arzt Josef Mengele seine Experimente ausgeführt hatte. Noch während ich auf das Foto schaute, näherte sich mir eine ältere Dame. Sie blieb neben mir stehen und sagte in sehr freundlichem Ton: „Wenn Sie mehr über diese Mädchen erfahren wollen – ich bin eines von ihnen.“

Auf diese sehr eindringliche Weise erfuhr ich Näheres über die aus Prag stammenden Zwillinge Stephanie Heller und Annetta Able, die Auschwitz-Birkenau überlebt hatten, nach dem Krieg nach Prag zurückgingen, aber keinen ihrer Angehörigen mehr lebend vorfanden, dann nach Israel beziehungsweise nach Kenia auswanderten, bevor sie schließlich nach Australien emigrierten und nun bereits seit Jahrzehnten in Melbourne leben. Und ich begriff, warum es ein Holocaust-Museum im fernen Australien gibt: Weil Tausende von Juden aus ganz Europa entweder noch vor Beginn, hauptsächlich aber nach Ende des Zweiten Weltkrieges nach Australien emigriert waren. Ihr Credo war: So weit wie möglich weg von Europa. Mit dem Museum haben sie eine Gedenkstätte für ihre ermordeten Familienangehörigen errichtet.

Die Verfolgung der Juden hatte unmittelbar mit der Errichtung des Hitler-Regimes begonnen. Trotz Diskriminierung, Demütigung und Ausgrenzung, trotz der ständigen Flut von antijüdischen Maßnahmen war in den ersten fünf Jahren nur etwa ein Viertel aller deutschen Juden ausgewandert. Es waren diejenigen, die die Gefahr rechtzeitig erkannt hatten, die jung genug waren, um einen beruflichen Neuanfang in einem fremden, anderssprachigen Land, in einer fremden Kultur zu wagen, und die auch den Mut dazu hatten.

Die wenigsten jedoch hatten begriffen, in welcher Gefahr sie sich wirklich befanden – oder sie zögerten, ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde zu verlassen, was zudem mit einem erheblichen finanziellen Verlust verbunden war: Der eigene Besitz konnte nur noch zu lächerlichen Preisen verkauft werden, eine Reichsfluchtsteuer wurde erhoben, und der Einkauf von Devisen war nur gegen extrem hohe Umtauschkurse möglich. Man hoffte also darauf, dass die Nationalsozialisten eine vorübergehende Erscheinung sein würden, und harrte aus.

Spätestens mit den gewalttätigen Pogromen im November 1938 wurden jedoch alle Hoffnungen auf eine friedliche Existenz der Juden im Deutschen Reich zunichtegemacht. Zehntausende versuchten nun verzweifelt, das Land zu verlassen – in einer Situation, in der die Möglichkeiten zur Emigration bereits äußerst schwierig geworden waren. Abgesehen davon, dass das Erlangen der nötigen Ausweispapiere eine langwierige und oft schikanöse Angelegenheit war, Wertpapiere weit unter Wert verkauft werden mussten und jüdische Konten nun völlig gesperrt wurden, brauchte es vor allem viel Glück, um ein Visum eines Einwanderungslands zu erhalten. Aufgrund der massenhaften Immigrationsgesuche waren die Quoten der Einwanderungsländer bald ausgeschöpft, und vor den Konsulaten bildeten sich lange Schlangen von Menschen, die nun auch bereit waren, in die abgelegensten Länder zu emigrieren. Die Jagd nach einem Visum war oft vergebens.

Bereits im März 1938 hatte sich mit dem „Anschluss“ Österreichs das Flüchtlingsproblem massiv verschärft. In dem Versuch, eine Lösung zu finden, berief der amerikanische Präsident F.D. Roosevelt eine internationale Konferenz mit 32 Teilnehmerstaaten ein.

Das Ergebnis der Konferenz, die im Juli 1938 in Évian stattfand, war niederschmetternd: Keiner der anwesenden Staaten war bereit, die Einwanderungsquote für Juden zu erhöhen. Einige Länder rechtfertigten sich damit, dass sie kein Einwanderungsland seien, andere verwiesen auf die schwierige wirtschaftliche Lage, die es nicht erlaube, einen Zustrom verarmter Flüchtlinge zu verkraften. Auch die USA hielten an ihrer bisherigen jährlichen Quote von 27.370 Einwanderern aus dem Deutschen Reich und Österreich fest, versprachen allerdings, diese Quote ausschließlich für jüdische Flüchtlinge zu verwenden. Australien argumentierte – wie auch einige andere Teilnehmerstaaten –, dass die Aufnahme einer großen Anzahl von jüdischen Flüchtlingen zu Antisemitismus und Rassenunruhen im Lande führen könne. „Wir haben keine Rassenprobleme im Land und hegen daher auch nicht den Wunsch, solche zu importieren“, führte der australische Delegierte freimütig aus.

Australien hatte bereits seit Beginn des Jahrhunderts eine sogenannte Politik des „Weißen Australien“ betrieben, eine Einwanderungspolitik, die sich zunächst gegen chinesische Einwanderer während des Goldrauschs gerichtet hatte, später aber generell gegen alle Nicht-Weißen. Australien wollte schlichtweg britisch bleiben und favorisierte daher britische (und weiße) Immigranten. Die Weltwirtschaftskrise und die andauernde Arbeitslosigkeit in den dreißiger Jahren erschwerten zusätzlich eine Einwanderung von Nicht-Briten nach Australien. Nur Immigranten mit 500 englischen Pfund „Landegeld“ wurden aufgenommen bzw. Ehefrauen, unmündige Kinder oder unverheiratete Schwestern als „abhängige Familienangehörige“ von australischen Bürgern. Eine Lockerung der Einwanderungsbedingungen für jüdische und nicht jüdische „Fremde“, wie alle Nicht-Briten genannt wurden, erfolgte erst 1936 mit der Erholung der Wirtschaft sowie auf Druck von angesehenen jüdischen Bürgern Australiens. Zwischen 1933 und 1935 wurden weniger als 100 jüdische Emigranten in Australien aufgenommen, 1936 waren es 150, 1937 etwa 500.

Als sich nach den Novemberpogromen 1938 die Situation der Juden im Deutschen Reich und Österreich weiter zuspitzte, wuchs der internationale Druck auf Länder mit geringer Bevölkerungsdichte. Auch Australien wurde erneut gebeten, Flüchtlinge aufzunehmen. Die australische Regierung gab nach und verpflichtete sich, über die nächsten drei Jahre 15.000 Flüchtlinge im Land aufzunehmen.

Das Flüchtlingsprogramm wurde mit einem enormen bürokratischen Aufwand abgewickelt. Von der Antragstellung bis zur Genehmigung vergingen mindestens fünf Monate, die Antragsteller hatten nachzuweisen, dass sie im Besitz von Devisen sind, mussten eine (deutsche) polizeiliche Genehmigung vorlegen und konnten keine Schiffspassage buchen, bevor sie nicht ihre Einreisebewilligung in Händen hielten. Trotz all dieser Schwierigkeiten gelang im Jahr 1939 etwa 5.000 jüdischen Emigranten die Einwanderung nach Australien (vgl. Rutland). Willkommen waren sie weder bei der jüdischen noch bei der nicht jüdischen Bevölkerung. Die Australier begegneten den Neuankömmlingen mit Abwehr, Angst und Misstrauen – nicht, weil sie Juden, sondern weil sie nicht britisch waren: Menschen mit einer anderen Kultur, mit anderen Wertvorstellungen und sozialen Normen – „Fremde“ eben, die womöglich billige Arbeit anboten oder sonst Konkurrenz darstellten, den eigenen Arbeitsplatz oder die eigene soziale Stellung bedrohten.

Unmittelbar nach ihrer Ankunft wurden die Flüchtlinge, die ja aus kulturell hoch entwickelten Ländern kamen und meist gebildete Menschen waren, von jüdischen Gemeindevertretern darüber belehrt, wie sie sich im neuen Land zu verhalten hätten. Sie wurden aufgefordert, aufs Land zu ziehen, leise und möglichst nicht deutsch auf der Straße zu sprechen, unauffällige Kleidung (keine langen Mäntel und lederne Aktentaschen!) zu tragen, keine Tauschgeschäfte auf der Straße abzuwickeln, die australischen Sitten und Gebräuche anzunehmen, kurz: so schnell wie möglich hundertprozentige Australier zu werden.

Mit dem Ausbruch des Krieges am 1. September 1939 unterband die australische Regierung jede weitere Einwanderung von Flüchtlingen und hielt an dieser Politik während der Dauer des gesamten Krieges fest.

Nach dem Krieg wurde eine neue Einwanderungspolitik in Australien eingeläutet. Die Bevölkerung sollte wachsen, die Briten konnten den Bedarf nicht decken, die Nachfrage nach nicht britischen Europäern wuchs. Entscheidende Kriterien für die Akzeptanz von Immigrationswilligen waren nun der potenzielle Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, die Fähigkeit zur Assimilation und ein guter Gesundheitszustand.

Auf Intervention der Vertretung der australischen Juden verpflichtete sich das neu geschaffene Immigrationsministerium im August 1945 in einem ersten Schritt dazu, auf humanitärer Basis eine Einwanderungsbewilligung für 2.000 enge Verwandte von jüdischen Bürgern Australiens zu erteilen. Voraussetzung war, dass die Juden in einem Konzentrations- oder Arbeitslager inhaftiert gewesen sein mussten oder im Versteck überlebt hatten und dass sie einen Sponsor besaßen, der fünf Jahre Unterstützung für sie garantierte. Auch die Juden, die sich nach Shanghai gerettet hatten, waren berechtigt, einen Einwanderungsantrag zu stellen. Im April 1946 erreichten die ersten Flüchtlinge aus Shanghai Australien, im November legte das erste Schiff mit Flüchtlingen aus Europa an.

Die humanitäre Geste stieß nicht überall auf Zustimmung. Noch bevor die Flüchtlinge überhaupt australischen Boden betreten hatten, wurde die Politik der Regierung von Parlamentariern attackiert, und in den australischen Medien erschienen kritische Kommentare. Der Tenor war stets gleich: Die Flüchtlinge seien mehrheitlich keine Arbeiter, sondern im Gegenteil wohlhabend und dazu arrogant, sie würden sich nicht einfügen und nähmen den Australiern, insbesondere den aus dem Krieg heimkehrenden australischen Soldaten die Arbeit und die Häuser weg. Die Angst vor Konkurrenz war groß, und tatsächlich gab es eine Wohnungsknappheit. Die Ausländerfeindlichkeit war jedoch vor allem eine Folge der jahrzehntelangen Politik des „Weißen Australien“ und eine Folge der Isoliertheit des Landes. Darüber hinaus schlug sich Australien im Palästina-Konflikt auf die britische Seite, verurteilte die jüdischen Terroranschläge und wollte keine „jüdischen Terroristen“ nach Australien importieren. Laut einer Meinungsumfrage im Jahr 1948 wurde die Einwanderung von Juden zu diesem Zeitpunkt nur von siebzehn Prozent der Bevölkerung gebilligt (vgl. Rutland).

Australien zeigte jedoch durchaus auch sein ausländerfreundliches Gesicht: Viele führende Politiker, Intellektuelle, Vertreter der in Australien traditionell starken Gewerkschaften und Vertreter der Kirchen setzten sich öffentlich für die jüdischen Flüchtlinge ein.

Im Juli 1947 sagte die australische Regierung zu, in den folgenden zwei Jahren 16.000 Menschen aufzunehmen, die aufgrund des Krieges und des Holocaust entwurzelt und heimatlos geworden und nun vorübergehend in sogenannten DP-Lagern (s. Anm. S. 249) in den Reparationszonen der Alliierten, Österreich und Italien untergebracht waren. Das Programm zielte darauf ab, den Bedarf Australiens an Arbeitskräften zu decken, die körperliche Arbeit leisten konnten und wollten – sei es im Straßen- oder Häuserbau oder beim Bau von Wasserkraftwerken – und die zum Aufbau und zur Entwicklung des Landes auch in entlegenen Gebieten eingesetzt werden konnten. Die Migranten mussten – das war Voraussetzung für die Einwanderung – zweijährige Arbeitsverträge unterschreiben.

Zwischen 1947 und 1951 kamen auf diese Weise knapp 200.000 Flüchtlinge nach Australien, darunter allerdings nur 500 Juden. Juden entsprachen den geforderten Kriterien der Immigrationsbehörde (Fähigkeit zur Assimilierung, Gesundheit, zwei Jahre vertragsgebundene körperliche Arbeit) offensichtlich weniger als Nichtjuden. Erst auf erneute Intervention der australischen Vertretung der Juden stimmte die Behörde zu, bis zu 3.000 privat gesponserte jüdische Flüchtlinge pro Jahr einwandern zu lassen. Zwischen 1946 und 1954 emigrierten auf diese Weise 16.300, bis Ende 1959 weitere 7.200 europäische Juden nach Australien.

In den fünfziger Jahren hatte inzwischen ein Umdenken begonnen – in Politik, Medien und Gesellschaft wehte ein frischer Wind. Die Regierung schaltete Kampagnen im Rundfunk und in den Printmedien, die für nicht britische Immigranten und gegenseitige Nachbarschaftshilfe warben. Gleichzeitig begann die Presse, positiv über Israel zu berichten. Ferner wurde die Migrationspolitik gegenüber Juden gelockert, und im Ergebnis öffnete sich auch die Gesellschaft gegenüber den nicht britischen Migranten: 1964 befanden bereits 68 Prozent der Bevölkerung, dass jüdische Immigranten wünschenswert seien (vgl. Rutland). Die Anzahl der nach Australien immigrierten Juden erscheint klein, Rutland argumentiert jedoch, dass Australien nach Israel den zweithöchsten Anteil an Holocaust-Überlebenden pro Kopf der Bevölkerung aufnahm. Zwischen 1933 und 1945 verdoppelte sich die jüdische Gemeinde Australiens von 23.553 auf 48.436 und wuchs auf knapp 60.000 Menschen im Jahr 1961 an.

60 Prozent der Juden, die nach dem Krieg nach Australien kamen, ließen sich in Melbourne nieder, die anderen überwiegend in Sydney. Während die deutschen, österreichischen und ungarischen Juden Sydney offenbar attraktiver fanden, zog Melbourne vorwiegend die osteuropäischen und insbesondere polnischen Juden an. Bereits 1954 war Victoria das Bundesland mit der größten jüdischen Bevölkerungsdichte Australiens, und Melbourne erhielt schnell den Ruf, die Gemeinde mit der höchsten Prozentzahl an Holocaust-Überlebenden in der Diaspora zu sein. Eine große Anzahl der zweiten und dritten Generation der Melbourner Juden sind Kinder und Enkelkinder von Überlebenden, die Erinnerung an den Holocaust ist damit auch 70 Jahre nach Kriegsende noch sehr präsent in jeder jüdischen Familie dieser Stadt.

Der Gedanke unter den jüdischen Immigranten Melbournes, eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die von den Nazis ermordeten Juden zu errichten, war schnell geboren. Fast ohne staatliche Zuschüsse, allein durch Spenden von Überlebenden und deren Familien sowie mit Hilfe von großzügigen Gönnern wurde 1984 unter der Schirmherrschaft der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem das Jewish Holocaust Museum and Research Centre von den jüdischen Einwanderern eröffnet. Die Frauen und Männer der ersten Stunde, die Kuratorin, die Bildungsverantwortliche, die Mitarbeiter im Archiv und in der Bibliothek arbeiteten alle ehrenamtlich. Es gab einen Ausstellungsraum, eine Bibliothek, später eine Ton- und Videoabteilung, mehrere kleine Büros und ein Auditorium, denn von Anfang an wurde beabsichtigt, das Museum zu einer Bildungsstätte insbesondere für junge Menschen zu machen. Viele der Überlebenden, alle inzwischen weit über achtzig, arbeiten auch heute noch ehrenamtlich im Museum, meistens als Guides. Sie führen die Besucher durch das Museum und berichten vor Schülergruppen über ihre persönlichen Erlebnisse während des Holocaust.

Kurz nach meiner Begegnung mit Stephanie Heller begann ich, im Museum zu arbeiten – in der Abteilung der Kuratorin. Meine Arbeit dort gab mir Gelegenheit, zahlreiche Holocaust-Überlebende kennenzulernen. In ungezählten, stundenlangen Gesprächen und Diskussionen wurden sie mir sehr vertraut. Wir unterhielten uns im Museum, trafen uns im Café, häufig wurde ich auch von ihnen nach Hause eingeladen. Statt zu reden, hörte ich oft einfach nur zu. Was ich zu hören bekam, waren unvorstellbare Lebensgeschichten von Menschen, die den Holocaust überlebt hatten und die sich nach dem Krieg wieder in ihr Leben finden mussten. In einem fernen und völlig fremden Land mussten sie komplett von vorn beginnen: oftmals allein und ohne jede familiäre Unterstützung, ohne der Sprache mächtig zu sein, ohne finanzielle Mittel. Alles war anders in diesem Land: die Gebräuche, das Essen, das Klima, die Landschaft, sogar der Sport. Das Heimweh war oft überwältigend. Viele der Emigranten hatten keine oder keine abgeschlossene Ausbildung, weil ihnen die Nazis keine Chance dazu gelassen hatten, und sie verfügten nicht über die notwendigen finanziellen Mittel, um das Versäumte – oft wäre es eine akademische Laufbahn gewesen – nachzuholen. Andere besaßen eine Qualifikation, die sich jedoch als nutzlos erwies, weil sie in Australien nicht anerkannt wurde. Ausnahmslos arbeiteten sie alle in angelernten Berufen, um sich – mühsam – den Lebensunterhalt zu verdienen.

Davon reden die alten Damen und Herren aber nicht. Sie reden auch nicht davon, dass sie am Anfang nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen worden sind. Haben sie es vergessen oder verdrängt? Hat die Tatsache, dass Australien die Grenzen für sie geöffnet hat, alles andere überstrahlt? Oder haben sie mit ihren australischen Nachbarn und Arbeitskollegen – Australier sind von Hause aus ausgesprochen freundliche Menschen – doch viel Positives erlebt? Jedenfalls werden sie nicht müde, Australien zu preisen, das das demokratischste und beste Land der ganzen Welt sei. Die Loyalität zu diesem Land, das sie aufgenommen und ihnen einen sicheren, friedlichen Hafen geboten hat, ist enorm. Sie sind australische Bürger geworden, und sie fühlen sich als Australier.

Auch Australien hat profitiert, indem die jüdischen Emigranten das Flair der europäischen Metropolen ins Land brachten. Sie belebten die provinzielle kulturelle Szene – Theater, Literatur, Oper, Ballett und die Welt der Musik – und bereicherten den von vielen Europäern als langweilig empfundenen Speisetisch der Australier: Jüdische Feinkostläden, Cafés und Restaurants öffneten und verkauften die herrlichsten europäischen Delikatessen.

Das Wissen und die Erfahrungen von Holocaust-Überlebenden sind aufgrund der Authentizität überaus kostbar und lassen sich durch kein Geschichtsbuch der Welt ersetzen. Kein Historiker ist in der Lage, das Leiden der Millionen Opfer so zu beschreiben, dass es für uns Nachgeborene emotional erfahrbar wird. Erst wenn wir einzelne Stimmen vernehmen, wenn sich Namen und Gesichter aus der anonymen Masse der Opfer herausschälen, bekommen wir eine Ahnung vom Ausmaß des nationalsozialistischen Terrors.

Ich habe beschlossen, die Biografien dieser Menschen aufzuschreiben, solange sie sie noch erzählen können. Sechzehn Zeitzeugen kommen zu Wort – sechzehn ganz normale Menschen, die vor dem Krieg in verschiedenen Ländern Europas gelebt haben: in der Tschechoslowakei, in Ungarn, in Polen, in Litauen, in Belgien und in Deutschland. Alle haben sie gemein, dass sie als Juden den Holocaust überlebt haben und nach dem Krieg nach Australien emigriert sind. Was sie unterscheidet, sind die verschiedenen Umstände, unter denen sie den Holocaust als Kinder, junge Frauen und junge Männer überlebt haben.

Die unterschiedliche Herkunft und die unterschiedliche Vita der Zeitzeugen waren die Auswahlkriterien für das vorliegende Buch: Jedes Porträt belichtet schwerpunktmäßig einen anderen Teilaspekt des Holocaust. Um dem Leser einen schnellen Einstieg in das jeweilige Thema zu ermöglichen, stelle ich jeder Biografie einige Daten, Fakten und Hintergrundinformationen voran.

Überraschend war für mich die Tatsache, dass niemand von den Überlebenden es ablehnte, mit mir, der Deutschen, zu reden. Das lag, wie ich schnell herausfand, auch an meinem Alter. Auf die Frage, ob sie denn keine Berührungsängste mit Deutschen hätten, sagten mir einige von ihnen unverblümt, dass sie ein Gespräch mit Menschen ihrer Generation durchaus schwierig fänden. Da schliche sich dann dauernd die Frage in den Hinterkopf, was der Gesprächspartner denn während des Krieges gemacht hätte. Mit den Nachgeborenen jedoch hätten sie kein Problem – im Gegenteil, sie freuten sich ja, wenn sie in das Museum kämen und Interesse für das Thema hätten.

Die zweite Überraschung war, dass die meisten der Überlebenden keinen Hass auf die Deutschen zu haben scheinen. Oft wird ihnen von Schülern, die das Museum besuchen, genau diese Frage gestellt: Hassen Sie die Deutschen? Und immer beantworten sie die Frage – mit dem Hinweis, dass Hass nur einen Nährboden für weiteren Hass bildet – mit „nein“.

Zuweilen hatte ich das Gefühl, dass es mir meine Gesprächspartner leicht machen wollten – dass sie mir nicht immer alles erzählten, dass sie die schrecklichsten Details ausließen und dass sie bewusst eine Episode über „den guten Deutschen“ einstreuten. Der allerdings hilft auch ihnen, den Glauben an die Menschheit nicht komplett zu verlieren.

Wie verarbeiten diese Menschen das, was sie gesehen und erlebt haben? Wie verarbeiten sie die Demütigungen, die ihren Familien, ihren Freunden und Bekannten angetan wurden, die Ausgrenzung und die Verfolgung? Wie verarbeiten sie die jahrelange Angst – im Versteck oder unter dem Deckmantel einer falschen Identität? Wie verarbeiten sie die Trennung von ihren Liebsten und Freunden, den Verlust von Eltern, Geschwistern, Großeltern, Tanten, Onkels, Cousins und Cousinen?

Die Antwort ist: gar nicht. In den Jahren nach dem Krieg hatten die Emigranten die Geister der Vergangenheit möglicherweise im Griff, denn sie waren damit beschäftigt, Geld zu verdienen, eine Familie zu gründen, ein Zuhause zu schaffen, Kinder großzuziehen. Nun, im Alter – die Kinder sind aus dem Haus, der Ehepartner ist womöglich gestorben – kehren die Geister zurück. Einige der Überlebenden haben angefangen, ihre Erlebnisse aufzuschreiben, andere modellieren, zeichnen oder bildhauern, andere wiederum reden als Zeitzeugen vor Schülern. Das beherrschende Thema bei allem ist immer der Holocaust. Die selbst verordnete Therapie hilft mal mehr, mal weniger. Sarah hatte „nur“ dreißig Jahre lang jede Nacht Albträume, Sabina (deren Geschichte keinen Eingang in das Buch gefunden hat, weil sie nicht reden möchte) hat die Albträume bis heute. Zsuzsi denkt jeden Tag an ihre ermordete Mutter und wird den Gedanken nicht los, dass sie im eisigen Wasser der Donau nach ihr hätte suchen müssen. Phillip quält sich mit der Frage nach dem „Warum?“, „Warum ausgerechnet die zivilisierten Deutschen?“, Sala hat bis heute Verfolgungsängste und kann nur bruchstückhaft über das Erlebte sprechen. Die meisten nehmen Antidepressiva.

Auch die Familie wirkt wie ein Antidepressivum. Die Kinder haben häufig die Träume der Eltern wahrgemacht: Viele von ihnen haben studiert, sind Lehrer, Ärzte, Architekten geworden. Inzwischen sind es die Enkel und Urenkel, auf die man stolz ist. „Unsere Kinder und Enkel sind unser Sieg über Hitler“, sagt Stephanie Heller.

Warum arbeiten viele der Überlebenden auch noch im hohen Alter im Museum? Nur für wenige ist es eine Art Therapie, denn den meisten fällt es nach wie vor schwer, über die Vergangenheit zu reden. Sie machen es vielmehr, weil sie es als Verpflichtung empfinden: als Verpflichtung gegenüber ihren ermordeten Familienangehörigen und Freunden, als Verpflichtung gegenüber allen ermordeten Juden. Ganz nebenbei ist das Museum dabei für viele zu einer zweiten Heimat geworden, zu einer Art Ersatzfamilie. Oft hörte ich Polnisch, wenn die alten Damen und Herren beim Lunch oder beim Kaffee saßen.

Ich habe Freunde, die mir sagen, dass sie nichts über den Holocaust lesen können, weil sie dann den Glauben an die Menschheit verlören. Dem Argument kann ich mich nicht völlig verschließen – auch ich hatte Phasen völliger Verstörtheit während meiner Interviews und Recherchen. Wenn wir jedoch versuchen, den Fokus beim Lesen nicht auf die Täter und deren Grausamkeiten, sondern vielmehr auf die Menschen zu richten, die zu Hilfe kamen, und – auch zwischen den Zeilen – erkennen, dass es Handlungsmöglichkeiten, Alternativen und zivilen Ungehorsam gab, dann ändert das die Perspektive. Wie sagte Kitia Altman, die Auschwitz überlebt hat, am Ende unseres Interviews doch sehr überraschend: „Eigentlich ist meine Lebensgeschichte doch eine Geschichte von tiefer Menschlichkeit.“

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