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Paris, 12. Juni 1870

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Gepeinigt von einer unaussprechlichen Angst, verbrachte Auguste grauenhafte Nächte, seit er bei der Losziehung gescheitert war. Von diesem verfluchten Tag an stand sein Wecker auf sieben Uhr, aber wenn der nach nur einer oder zwei Stunden Schlaf klingelte, stellte er ihn aus, legte sich wieder hin und schaffte es erst am späten Nachmittag, sich aus dem Bett zu schälen. Unter ständiger Migräne leidend, hatte er schon zwei Monate keinen Fuß mehr in die Universität gesetzt, und die Beziehung zu seiner Tante Clothilde hatte sich darob erheblich verschlechtert.

Eigentlich bester Stimmung, nachdem sie im Kaufhaus Printemps die neue Kollektion gesichtet hatte, war ihre Freude an diesem Morgen und für den Rest des Tages unwiderruflich dahin, als sie ihren Salon betrat und dort wie an den Tagen zuvor ihren Neffen gleich einem Haufen Schmutzwäsche auf ihrem Sofa liegen sah, wo er, den Kopf in ein feuchtes Handtuch gewickelt, vor sich hin lamentierte. Mit einem klangvollen Seufzer teilte sie ihm ihre Verärgerung mit.

»Haben Sie Mitleid, werte Tante, und schreien Sie nicht! Mein Schädel schmerzt in einem Maße, dass ich mich frage, ob nicht ein Tier in meinem Kopfkissen lauert und sich über Nacht an meinem Gehirn weidet.«

Sie fegte das mit einer gereizten Handbewegung beiseite. »Sie haben einen Brief Ihres Vaters erhalten.«

»Oh! Lesen Sie vor …«, sagte Auguste mit ersterbender Stimme. »Ich kann kaum die Augen öffnen.«

»Ich habe es mehr als satt, dass Sie meine Wohnung mit einem Kurhotel verwechseln, wo man den ganzen Tag verschläft und sich die Wäsche waschen lässt. Lesen Sie diesen Brief doch selbst!« Damit klaubte sie den Umschlag vom Tisch und warf ihn ihm ins Gesicht.

Auguste wartete, bis sie das Zimmer verlassen hatte, um den Brief aufzureißen.

Er enthielt keine guten Nachrichten.

Die israelitische Stellvertreteragentur an der Place Sainte-Opportune, die angeblich Männer in Hülle und Fülle zu verkaufen hatte, hatte sich als Sackgasse erwiesen: Sie war vollständig geplündert und hatte keinen einzigen mehr im Angebot, dabei hatte man einen Vorschuss von 1000 Franc gezahlt. Den hatte Monsieur Levy letztlich zurückerstattet, aber das Problem blieb bestehen, denn in ganz Paris befanden sich alle Agenturen in der gleichen Mangelsituation. Man musste sich folglich ohne sie behelfen. Sein Vater hatte daraufhin die Idee gehabt, seinen sämtlichen Lieferanten ein Schreiben zu schicken mit der Aufforderung, sich bei Gastwirten, Kutschern, Schuhmachern und Pfarrern zu erkundigen – bei allen Berufen, die Kontakt zur Welt hatten –, ob sie Arbeiter ohne Arbeit kannten, die einverstanden wären, sich an einen Familienvater zu verkaufen. Bedauerlicherweise hatte auch dies zu nichts geführt.

Er hatte auch einem entfernten Vetter im Baskenland geschrieben, aber das Anerbenrecht hatte sich dort so verheerend ausgewirkt, dass alle verfügbaren jungen Männer nach Amerika ausgewandert waren. Die Agrargebiete wie die Normandie oder Nordfrankreich erbrachten ebenfalls nichts, denn die einzigen freien Einstandsmänner wurden von den örtlichen Hofbesitzern für ihre Söhne zu horrenden Preisen aufgekauft.

Man riet ihm, eher im Umkreis der großen Städte zu suchen. In Bordeaux hatte einer seiner Steinlieferanten um Haaresbreite einen Einsteher für ihn gefunden. Der Sohn eines Wasserverkäufers, der bei der Auslosung selbst eine schlechte Nummer gezogen hatte, aber da ein Bruder bereits Dienst tat, von der Wehrpflicht befreit war und folglich in der Position, sich freiwillig zu verpflichten. Doch als das Geschäft kurz vor dem Abschluss stand, hatte ein Notar ihm den Mann für die astronomische Summe von 10.000 Franc abspenstig gemacht.

Man empfahl ihm auch ehemalige Soldaten, die bei den Musterungskommissionen hoch im Kurs standen. Im Département Orne hatten seine Kundschafter nach der seltenen Perle gesucht und schließlich einen Rekruten gefunden, der Augustes Platz hätte einnehmen können; ein gewisser Roussel, der wegen eines Beinleidens als dienstunfähig entlassen worden war, sich über die letzten zwei Jahre jedoch erholt hatte. Er maß fünf Fuß und drei Zoll, hatte intakte, wiewohl recht hässliche Schneide- und Eckzähne, neigte zu Hämorrhoiden, aber seine Beine, hieß es, seien wieder tadellos. Sein Preis war mit dem Onkel, der ihn beherbergte, zu verhandeln, aber dieser wollte von unter 9000 Franc nichts hören, die Hälfte als Handgeld, was Casimir angesichts der zweifelhaften Konstitution des Kandidaten für überteuert hielt. Dennoch fand der Mann sehr schnell einen Abnehmer und wurde vom Anwerber einer Pariser Versicherungsanstalt gekauft, dessen Beutezug ihn bis in diese Gegend führte.

Jedes Mal, wenn man kurz vor dem Abschluss stand, lag es an der Entfernung, dass das Geschäft geplatzt ist. Ich habe persönlich drei Mal einen Handel gemacht, in Laon, Orléans und Beauvais, keiner davon hatte Bestand, was an der Sorte Leute lag, mit denen ich verhandeln musste, und ich habe mit den drei Reisen, den Kosten für Unterkunft, Handgelder, Anwerber und die Mahlzeiten, die ich ihnen ausgeben musste, nicht weniger als 800 Franc berappt.

Eins steht derzeit fest: Im Umkreis von tausend Meilen ist nicht der geringste 5 Fuß 1 Zoll für unter 8000 Franc zu finden. Aber mach dir deshalb keine Sorgen, wir werden dich dieser vermaledeiten Konskription entwinden, und ich bin gewiss, du kannst schon bald dem Mann deiner Schwester danken, der die Sache in die Hand genommen hat. Als ehemaliger Militär kennt er die Lokale, wo diese Leute trinken, und weiß besser als jeder andere mit ihnen zu reden. Er hat sich erboten, nach Toulon zu reisen, dem Ort, wo die Wehrpflichtigen aus Afrika ausschiffen, aber deine Schwester hat dagegen opponiert. Die Stadt soll zu einer Kloake geworden sein, in der sich sämtliche Menschenhändler aus der Hauptstadt versorgen. Sobald ein Schiff anlegt, kreuzen die Agenten der Versicherungsanstalten und die Anwerber mit Taschen voller Gold auf, um den von tropischen Fiebern und der langen Seereise geschwächten Soldaten ihre Unterschrift zu entreißen. Danach locken sie sie in Kaschemmen, wo man sie unter Drogen setzt und dazu bringt, das Geld für die Stellvertretung, das man ihnen noch nicht ausgezahlt hat, für Prostituierte und Orgien zu verprassen. Der Makler, der sie zum Trinken verleitet, verspricht ihnen 6000 Franc und zahlt ihnen nicht einmal die Hälfte aus, mit dem Rest werden die Ausschweifungen abgegolten, die man ihnen zu Wucherpreisen in Rechnung stellt. Im Anschluss verkauft er sie für 10.000 Franc an bedauernswerte Familienväter weiter, die zu jedem Opfer bereit sind, um ihren Jungen zu retten. Jedenfalls habe ich in der von meinem Freund Tripier herausgegebenen Zeitung gelesen, dass die Musterungskommissionen strikte Weisung erhalten haben, diese aus Afrika ausgestoßenen verrückten Haudegen abzulehnen.

Dein Schwager hat sich deshalb für die Bretagne entschieden, wo alte Freunde ihm noch Gefallen schuldig sein sollen. Er hat ihnen geschrieben. Wir warten.

Mit einem elegischen Seufzer faltete Auguste den Brief seines Vaters wieder zusammen, dann stand er auf.

»Tante, ich gehe aus!«

Keine Antwort.

Er traf sie draußen vor dem Portal im Pulk mit sämtlichen Anwohnern der Rue du 10-Décembre, verzückt angesichts einer Kohorte Kürassiere, die aufrecht und stolz auf ihren Pferden vorüberritten. Der Schimmer der Frühlingssonne auf den Harnischen, das Beben der Erde unter den Hufen füllten die Luft mit dem Kitzel einer Schlacht, was die Gaffer so sehr elektrisierte, dass sie Auf nach Berlin! Auf nach Berlin! brüllten, bis ihre Stimme versagte.

Clothilde, die ihn üblicherweise mit Fragen überhäufte, sobald er einen Fuß vor die Tür setzte, würdigte ihn keines Blickes, zu sehr damit beschäftigt, die gebräunten Gesichter unter den Helmen, die starken Muskeln, die gewölbte Brust der Soldaten zu bewundern. Er beobachtete sie verstohlen und stellte mit Grausen fest, dass sie trotz ihrer sechsundfünfzig Jahre vor Verlangen bebte und mit geblähten Nüstern den kräftigen Geruch dieser Kampftiere einsog.

»Tante, ich gehe aus!«, rief er mit Nachdruck und absichtlich erhobener Stimme.

»Ich habe das Ehepaar Gonthier-Joncourt samt Tochter noch einmal zu meiner Dienstags-Soirée eingeladen. Darüber wollte ich eigentlich mit Ihnen sprechen. Ich wünsche, dass Sie sich von Ihrer besten Seite zeigen.«

»Die Liebe ist eine zu ernste Sache, um zwecks Umgehung des Wehrdiensts irgendein hässliches Entlein zu heiraten. Außerdem muss ›Familienernährer‹ als Freistellungsgrund vor der Auslosung geltend gemacht werden, nicht danach! Es ist also zu spät.«

»Hätten Sie auf mich gehört …«

»Helfen Sie mir auf die Sprünge, diese Leute stellen Ziegel her, nicht wahr? Oder machen sie in Steinkohle? Oder in Patenten? Mit Verlaub, werte Tante, es steht Ihnen nicht zu, mir die Ehe zu predigen, wo Sie sich selbst stets dagegen gewehrt haben!«

»Das ist etwas vollkommen anderes, wie Sie sehr wohl wissen. Wenn die Frauen immer noch heiraten, dann deshalb, weil sie die Gesetze nicht kennen. Sie aber sind keine Frau. Und ja, diese Leute machen in Steinkohle, wohingegen Sie, wenn ich erinnern darf, in gar nichts machen. Und die Gans, die davon träumt, dass eines Tages ein Dummkopf ihr ihre Erbschaft entreißt, ist Eulalie, ihrer Eltern einzige Tochter, und der Dummkopf in der Geschichte – wenn es nach mir geht, sind das Sie!«

»Mademoiselle Eulalie hat mit neunzehn Jahren bereits die Statur eines kräftigen Landnotars, stellen Sie sich vor, wie sie erst mit dreißig aussehen wird. Obendrein ist sie ein nettes Mädchen und hat gewiss Besseres verdient als einen Mann, der sie niemals lieben wird.«

Seine Tante zuckte schnaubend die Achseln. »Die Gonthier-Joncourt nehmen Sie niemandem weg, und sie weiß das nur zu gut. Genau wie ihre Eltern. Die Verbindung mit einer anständigen jungen Frau, sei sie auch wenig anziehend, dürfte Ihnen, da sie Ihnen Ihre Leidenschaft für … für philosophische Betrachtungen finanziert, weit nützlicher sein als Ihre Gelage mit den Habenichtsen, die sich in Ihren sozialistischen Cafés herumtreiben. Sie wollen Ihr Leben dem Denken weihen? Meinetwegen. Ein de Rigny kann mit seinem Leben anfangen, was er will, aber es ist ihm nicht gestattet, arm zu sein!« Clothilde äußerte diese Familienmaxime, ohne ihren Neffen auch nur anzusehen, während ein Kürassier ihr das Lächeln eines lüsternen Tiers zuwarf, das ihr Gesicht zum Glühen brachte. Auguste war es schlichtweg peinlich.

»Aha, ich sehe schon … Dann überlasse ich Sie Ihren viehischen Gedanken … Guten Abend, werte Tante.« Damit wandte er sich in Richtung seines Hauptquartiers, will sagen, dem Café de Madrid auf dem Boulevard Montmartre.

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