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Folglich schlafe ich bei Omi Soize, wenn ich auf der Insel aufschlage, und auf keinen Fall bei meinem Vater.

Als kleine Nachzüglerin aus zweiter Ehe mag sie seine Tante sein, trotzdem ist sie nur acht Jahre älter als er. Sie hatte nie eigene Kinder, aber dafür hatte sie mich.

Wenn man sie in ihrem beigefarbenen Regenmantel und ihren mit Haarspray festbetonierten grauen Ringellöckchen durchs Städtchen trippeln sieht, würde man sie auf fünfundsiebzig bis fünfundachtzig schätzen. Als diese Geschichte hier begann, war sie dreiundneunzig. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass wir auf unserer Insel, wo die Einwohner sowohl gesunde Lebensweise als auch sozialen Zusammenhalt pflegen – man isst, was man im eigenen Gemüsegarten anbaut, und alle stecken ihre Nase in die Angelegenheiten der Nachbarn –, eine landesweite Rekordzahl an Hundertjährigen haben. Kerzengerade und wie aus dem Ei gepellt, und sei es nur für den Gang zum Bäcker, hat sie sich stets in jeder Lebenslage um ein Maximum an Würde bemüht. Man trifft sie um 9:30 Uhr in der Bäckerei, um 9:45 Uhr im kleinen Supermarkt, um 9:50 Uhr im Zeitschriftenladen, um ihren Ouest-France zu kaufen, und um 10 Uhr auf dem Friedhof, um der Familie guten Tag zu sagen.

Es heißt, sie hatte eine große Liebe, eine Liebe, wie es sie nur einmal im Leben gibt, dass der Auserwählte jedoch aufs Meer hinausfuhr und nie wiederkehrte.

Langer Tag

Seine Augen sind müde

Vom Betrachten des Ozeans …

Na ja, das ist das, was man sich erzählt, oder eher das, was sie einem immer weismachen wollte, aber ich habe den Verdacht, sie teilt mit allen Frauen hier eine zugleich realistische und resignative Auffassung vom männlichen Geschlecht: alles Drohnen, nur dazu nutze, Kinder zu zeugen.

Ansonsten gehört sie charaktermäßig zu denen, die dir hemmungslos die Meinung geigen, denn sie findet, dass die meisten Leute Angeber sind und es ihnen total an Bescheidenheit mangelt. Mit dem Alter und der damit einhergehenden mathematischen Abwesenheit von Zukunft machen ihre fehlenden Filter sie schlicht unberechenbar.

Es heißt, in diesem Punkt komme ich nach ihr. Bestimmt habe ich deshalb keinen Kerl und nicht nur, weil ich behindert bin und allein ein Kind großziehe. Ich bin vielleicht nicht, was man eine Granate nennt, aber deshalb noch lange nicht hässlich: Mittelgroß mit krückenbedingt starker Muskulatur, habe ich schönes Haar, das ich zum Chignon-Knoten hochgesteckt trage, eine sympathische Ausstrahlung und die blauen Augen meiner Mutter. Und wenn ich laufe, hat ein Matrose mir mal gesagt, erinnere ich ihn an das träge Stampfen eines Segelschiffs auf einem in der Sonne funkelnden Meer, was, wie Sie zugeben werden, eine ziemlich coole Beschreibung meiner Person ist.

Körperlich gleiche ich offenbar meiner echten Großmutter Rose, Halbschwester von Omi Soize, Mutter meines Vaters, die lange vor meiner Geburt starb. In den Dreißigerjahren erlangte diese Dame an einem Tag mit zum Schneiden dichtem Nebel mit einer verrückten Aktion Berühmtheit, als sie etwa zwanzig Seeleute von einem auf Grund gelaufenen Handelsschiff rettete. Sie sprang in voller Montur ins Wasser und schleppte das Wrack einer riesigen Schaluppe, in dem sie alle Zuflucht fanden, mit der Kraft ihrer Arme an Land. Postkarten aus der Zeit, die das Ereignis feiern, sind im Zeitschriftenladen erhältlich. Darauf ist Rose zu sehen, mit Spitzhaube und in traditioneller Tracht, die Brust mit Orden behängt. Als ich klein war, haben die Erwachsenen in meinem Umfeld mir prophezeit, dass ich ihr eines Tages sehr ähnlich sehen würde, was mir insoweit schmeichelte, als ich sie wirklich ungemein hübsch fand. Nur dass das auf den Fotos gar nicht meine Großmutter war. Der Fotograf fand wohl, eine Frau mit Charakter zu sein sei mit der dem Anlass geziemenden Anmut unvereinbar, denn er wählte eine Inselschönheit mit dümmlicher Ausstrahlung, um ihm an Roses Stelle und mit ihren Medaillen Modell zu stehen …

Tatsächlich existiert nur ein einziges Foto dieser kühnen Bretonin. Es zeigt sie, wie sie strahlend neben ihrem Ehemann steht, denn im Gegensatz zu Omi Soize und mir hatte meine Großmutter Rose wahnsinnig Glück in der Liebe. Zwar sieht sie auf dieser Aufnahme nicht sehr umgänglich aus und es gibt eine gewisse Familienähnlichkeit, aber es ist vor allem mein Großvater, der den Blick auf sich zieht: ein Klumpen Mensch, wie man ihn nur auf Bildtafeln in kriegsmedizinischen Fachbüchern sieht. Ein alter Krüppel von 14/18, den man auf ein Fass gesetzt hatte, weil ihm die Beine und auch ein Stück vom Gesicht fehlten. Renan de Rigny, die perfekte Illustration für unser Inselsprichwort zum Thema Männerknappheit: Greif zu, wenn du kannst, es gibt nicht für jede einen! Diesem Frontsoldaten aus dem Ersten Weltkrieg verdankten wir unseren eigentümlichen Familiennamen, während die Leute hier, da sie bei der Partnerwahl hart am Wind segeln, alle Cozan, Botquelen, Tual, Miniou, Malgorn oder Jezequel heißen. Das hätte mich stutzig machen müssen, aber da unsere Zugehörigkeit zur Inselgemeinschaft nie infrage stand, weil wir bei den Dorffesten beim Kartoffelschälen halfen, zu allen Beerdigungen gingen und sämtliche Zerwürfnisse von tausend Generationen kannten, waren wir von hier, basta.

»Also, wie geht es Juliette?«

Mit Omi Soize ist es bei meiner Ankunft immer der gleiche Einstieg, dabei beherrscht sie WhatsApp wie eine Göttin und spricht ständig mit meiner Tochter. Es liegt wohl daran, dass sie fernmündlich nur jedes fünfte Wort von ihr versteht, denn sie ist stocktaub, aber zu eitel, das zuzugeben.

»Und dir?«

»Bestens. Ich bin Chefin der Reproabteilung geworden, aber das habe ich dir schon x-mal erzählt, oder?«

»Du hast dich nicht verändert, was? Triffst du denn wenigstens Leute?«

»Wenn du mit Leute meinst: Hast du einen Kerl gefunden, der sich um Juliette kümmert?, lautet die Antwort nein. Ich brauche keinen. Meine Freundin Hildegarde und ihre Familie sind vollkommen ausreichend. Und meine Nachbarn. Der sechste Stock in meinem Haus ist wie hier, er ist wie ein kleines Dorf.«

Zeit, über meine Behinderung zu reden. Nach drei superschmerzhaften Operationen mit sechzehn, achtzehn und einundzwanzig und durch eine Reihe Metallplatten ist mein Rückenmark schwer beschädigt. Daran liegt es, dass ich nur so schleppend vorankomme und mich mit bis über die Oberschenkel reichenden Beinorthesen und zwei Stöcken aufrecht halte, die mir das Gehen ermöglichen. Ich habe ständig Schmerzen, aber dank der Härte von Omi Soize und weil man mich so oft Heulsuse geschimpft hat, habe ich gelernt, mich nicht zu beklagen, so nachhaltig, dass ich gar nicht mehr weiß, ob mir überhaupt was wehtut.

Solange ich im Rehazentrum oder auf der Insel war, lief alles gut, aber als ich mich dem wahren Leben auf dem Kontinent stellen musste, der geballten jugendlichen Dummheit gepaart mit dem binären Denken am Gymnasium, war das ein anderes Paar Stiefel. Da ich mit meinen Krücken und meinen eingerüsteten Beinen für eine »1« nicht infrage kam, war ich eine »0«, eine bizarre Karotte, die immer aussortiert wird, weil sie nicht ins Kalibriernormal passt. Ein mieses Gemüse, das auf den Müll gehört.

Heutzutage mag ich einen Dr. phil. haben, wirklich geändert hat sich dadurch nichts; die Erwachsenen sind bloß höflicher. Leute, die mich nicht kennen, ignorieren mich instinktiv, als wäre ich unfähig, einen Weg zu beschreiben, eine Frage zu beantworten, eine Meinung zu haben, nur weil ich auf Krücken durch die Gegend watschle. Als wäre ich im Grunde beschränkt. Wenn sie mich ausnahmsweise doch mal ansprechen, dann fixieren sie einen Bereich auf Kinnhöhe, um nicht meinem Blick zu begegnen, denn sie haben Angst. Wovor? Weiß der Henker. Immerhin könnte ich vielleicht ansteckend sein. Oder ihnen Unglück bringen.

Ich halte mich nicht lange mit dem Geburtstagsessen meines Vaters auf, das am Abend meiner Ankunft stattfand und an sich nicht weiter spannend war. Dafür wurde das, was im Anschluss folgte, zum Ausgangspunkt für dieses ganze Abenteuer.

Das Abendessen wurde hinuntergeschlungen. Omi Soize hatte uns Bratkartoffeln und Makrele mit Senf und zum Nachtisch einen fluffigen Gâteau de Savoie gemacht. Ohne ein freundliches Wort und ohne seinen Arsch zu heben, um ihr zu helfen, stopfte mein Vater das alles in sich hinein, während er uns mit seinen Verschwörungsmythen von der Sorte wir werden belogen – alle korrupt – ich kenne einen, der … nervte. Und ich nickte dazu mit der üblichen Toleranz derer, die weiß, dass sie gleich abhaut, was ich auch schleunigst tat, sobald der Tisch abgeräumt war.

Ich ging also raus, um unter Menschen zu kommen.

Zwei schlafende Schafe schwankten im Halbdunkel auf ihren Hufen und ein paar Katzen auf Abfallsuche machten ein bisschen Radau, aber bis auf das Le Kastel mit seinem erleuchteten Schaufenster, das ein helles Rechteck auf die Fahrbahn warf, war die Dorfmitte absolut ausgestorben. Man muss wissen, dass außerhalb der Saison auf der Insel eine so trostlose Atmosphäre herrscht, dass es einen wirklich guten Grund braucht, um nicht auf den Kontinent zu flüchten. So eine Stimmung müsste Touristen eigentlich abschrecken; aber im Gegenteil, sie zieht sie an. Es ist sogar die Lieblingszeit der depressiven Deppen auf der Suche nach Authentizität, die herkommen, um im Kontakt mit den Felsen, dem tosenden Meer und kübelweise Regen aufzutanken.

Le Kastel ist eine über zweihundert Jahre alte Kneipe, von der man sagt, anhand der dort geschluckten Menge Alkohol lasse sich die Traurigkeit und Fröhlichkeit der Inselbewohner messen. Wie dem auch sei, sie ist einen Umweg wert, und sei es nur wegen der Deko. Der Wirt – den alle sinnig Sohn vom Boche nennen, mit Bezug auf seinen Vater den Boche, der während der Besatzung gezeugt wurde – hat seine Wände mit grauenhaften Plakaten vom Tro Bro Léon plakatiert, der bretonischen Variante des Radklassikers Paris–Roubaix, auf denen jeweils in unterschiedlichen Positionen ein schlammverschmierter Radsportler – mit einem Schwein zu sehen ist. Hier und dort lassen sich auch kleine Schweinefigürchen entdecken, die aus einer mutmaßlich gigantischen Sammlung stammen.

Ich grüßte in die Runde und hockte mich in eine Ecke vor ein Glas Cidre, während ich mich beim Enkel vom Boche, fünfzehn Jahre und schon einen Ellbogen auf der Theke, nach dem Grund für die allgemeine Niedergeschlagenheit erkundigte: Die Kicker von Stade Brestois hatten mal wieder eine demütigende Schlappe erlitten.

Es waren immer die Gleichen, die sich hier volllaufen ließen. Brieg mit seinem um den Hals gewickelten Baumwolltuch, der in seiner eigenen Vorstellung ein großer Skipper war. Demnächst holen wir sie ab. Wen oder was? Um wohin zu fahren? Wir sind nie dahintergekommen! Roger Orion, Gesichtsfarbe rohes Steak, immer am Motzen … an diesem Abend motzte er über die Robben, die seinen Fisch gefressen hatten, weshalb er davon träumte, sie mit dem Jagdgewehr abzuknallen (was er im Übrigen tut), verfickter Meeresnaturpark! Lebivic, Lokalkorrespondent von Ouest-France, dessen letzte Heldentat darin bestand, die Verliererliste bei den Kommunalwahlen als Wahlsieger anzugeben. Le Héron, Ex-DJ der ehemaligen Inseldisco, die in den Neunzigern nach wiederholten Alkoholkomas unter ihrem Asbesthimmel dichtgemacht wurde.

Natürlich waren auch die drei aus Paris mit von der Partie, sie erlebten ihren großen Moment der Verbrüderung mit dem Autochthonen, insbesondere der depressive Brillenträger, der gerade seine Katharsis durchmachte. Stockbesoffen schilderte er den Kanaillen mit vielen widerlichen Details, wie seine Freundin Alice beim Einsturz eines Steinstupas zu Tode kam.

Um ihn abzulenken, versprach ihm Brieg nachdrücklich, er werde, wenn wir sie abholen, Kathmandu anlaufen – stand eh auf dem Plan – und diesen armen Menschen helfen, einen Brunnen zu bohren. Er hatte schon einen in seinem Garten gebaut, so dass er vergangenen Sommer seine Kartoffeln gießen konnte, als die Stadtverwaltung Wasserrationierungen verhängt hatte. Roger Orion machte die sachdienliche Anmerkung, dass Kathmandu siebenhundert Kilometer vom Meer entfernt lag und man dort, am Fuße des Himalaya, zudem nicht eben an Wassermangel leide. »Dein Brunnen geht den Nepalesen am Arsch vorbei«, fügte er wenig nett hinzu. Der Witwer erklärte ihnen mit schwerer Zunge, seine Freundin habe die ganzen Arschlöcher in ihrer Familie kategorisch abgelehnt, was sie ihr heimzahlten, indem sie sie zur linken Socke erklärten, die ihres Standes unwürdig sei und die Ihren verrate. »Die sind schuld, dass sie tot ist«, plärrte er, denn sie sei ans Ende der Welt gereist, um ihnen zu entkommen.

Die Säufer nahmen Anteil, indem sie gravitätisch den Kopf wiegten, ein wahrer Unglückstag, an dem Brest erneut den Aufstieg in die erste Liga verpasste.

Die schmucklose große junge Frau fügte hinzu, dass Lili, ihre tote Freundin, so ein tolles, süßes, intelligentes, großzügiges Wesen – lass gut sein, dachte ich bei mir –, sich inniglich gewünscht habe, dass man ihre Asche von den Felsen der Insel übers Meer verstreut. Obwohl sie keine Asche zum Verstreuen hatten, da man Lili, Zitat, »zwangsbeerdigt« hatte, waren sie hergekommen, um ihre Lieblingsstofftiere ins Wasser zu werfen!

»Mit etwas Glück erstickt eine Robbe an einem Teddy«, fühlte sich Roger Orion zu schließen bemüßigt.

Da ich für einen Abend genug Schwachsinn gehört hatte, trank ich aus und ging nach Hause ins Bett. Aber als ich erst mal lag, fand ich keinen Schlaf, als würde ein Ding durch meinen Kopf kriechen und mir die Ruhe rauben; ein Gefühl von Unheimlichkeit. Und als ich es endlich schaffte einzuschlafen, hatte ich einen scheußlichen Albtraum, der mich sofort wieder aufweckte.

Superverängstigt tastete ich nach meinem Smartphone, um auf die Uhr zu schauen, und da ich nicht wieder einschlafen konnte, tippte ich, um die Zeit totzuschlagen, bei Google die Wörter Erdbeben, Nepal, gestorben, Abgeordneter ein und erhielt Dutzende Treffer: Alice de Rigny, Tochter des ehemaligen Abgeordneten und Geschäftsmanns Philippe de Rigny, war vierzig Kilometer von Kathmandu entfernt auf grässliche Weise ums Leben gekommen.

Alice de Rigny … Philippe de Rigny … Blanche de Rigny … Jetzt war ich vollends hellwach.

Ich setzte meine Nachforschungen fort. Philippe de Rigny war der Boss der Öltradingfirma Oilofina. Seinen Sohn Pierre-Alexandre hatte man kürzlich am Flughafen von Abidjan verhaftet, als er gerade seinen Privatjet besteigen wollte. 2014 war gegen ihn ein Verfahren wegen Bestechung eingeleitet worden, es ging dabei um Kontaminierung mehrerer Mülldeponien der Stadt mit Giftabfällen. Den Beinamen Riesenarschloch hatte man ihm also nicht leichtfertig gegeben.

Jetzt stand ich auf und begann die Sachen von Omi Soize hektisch nach Spuren meiner Familie väterlicherseits zu durchsuchen. Ich fand nur das Foto von meiner Großmutter und ihrem Stumpf von Gatten, das ich schon kannte, aber diesmal beäugte ich es mit einem ganz neuen Blick. Zum Beispiel hatte ich nie wahrgenommen, wie sehr das Bild dieser stolzen großen Frau in traditioneller Tracht und ihres auf einem Fass thronenden alten Mannes, beider Brust mit Orden behängt, wie sehr dieses Bild eines in einer Samtschachtel aufgespießten unwahrscheinlichen Schmetterlingspaars gleichzeitig berührend und trashig war.

Omi Soize schreckte mich auf. »Bist du in Paris auch zu so unchristlicher Zeit auf den Beinen?«

»Sag, kanntest du den Großvater?«

»Ist das eine Frage, die du mir morgens um sechs stellen musst? Ja, ich kannte ihn, aber da war ich noch klein. Wenn meine Schwester mit ihm auf dem Rücken ins Waschhaus kam, keilte sie ihn zwischen zwei Wäschestapeln ein, damit er nicht umfiel. Ich war ein Dreikäsehoch und hörte nicht auf, das Loch in seinem Gesicht anzustarren, das mit meinem auf gleicher Höhe war, darum wurde ich immer ausgeschimpft, und ihn brachte das zum Lachen, so was von zum Lachen … und glaub mir, das war furchterregend!«

»Das hast du mir schon erzählt, was ich wissen will, ist, wo er herkam.«

»Was soll das heißen, wo er herkam? Na, von hier, woher sonst!«

»Omi, de Rigny, das ist doch kein Name von hier!«

»Dein Großvater, der war ein Bastard. Ein Kind, das sich eine ledige Frau, eine Malgorn, in Paris hat machen lassen, wo sie hin war, um Arbeit zu suchen. Er wurde 1916 in der Schlacht an der Somme verwundet. Danach hat sich seine Mutter Corentine jahrelang um ihn gekümmert, aber als das zu schwer wurde, kam sie hierher zurück, um eine Frau für ihn zu finden und ihr den Staffelstab zu übergeben. Da war er schon ein alter Mann, und es war meine Schwester, die er geheiratet hat. Aber sie hat ihn wirklich geliebt, deine Großmutter, scheint’s war er sehr lustig.«

»Das Grab von Corentine kenne ich gar nicht, zeigst du es mir?«

… Und da waren wir, nach einer Runde zur Bäckerei, zum kleinen Supermarkt und zum Zeitschriftenladen standen wir auf dem Friedhof. Die Grabstelle oder eher die Grabkapelle meiner Urgroßmutter, eine Art Häuschen zum Schutz vor dem Regen, befand sich gleich am Eingang.

»Das ist es?«

»Ja, natürlich.«

»Das ist unglaublich!« Ich verkniff mir: In diesem Mausoleum habe ich mit meinen Kumpels heimlich meine ersten Kippen geraucht und Ether geschnüffelt. Danke, Corentine Malgorn, geboren 1850, dass du die Jugend seit 1924 vor Regen und den Blicken ihrer Eltern beschützt!

Ich betrat das Gebäude, das ich in- und auswendig kannte. Das Porzellanmedaillon mit ihrem Foto mochte Zeuge meiner sämtlichen Dummheiten gewesen sein, trotzdem hatte ich nie einen Zusammenhang mit jemandem aus meiner Familie hergestellt. Anders als bei den anderen alten Gräbern war Corentine nicht mit weißer Haube und in schwarzer Tracht abgebildet, sondern als schicke, wirtschaftlich erfolgreiche Bürgerin.

»Sag mal, sie hatte die Mittel, um sich so ein Teil bauen zu lassen. Warum ist sie ganz alleine begraben und nicht in der Malgorn-Sektion des Friedhofs?«

»Weil sie sich mit denen überworfen hat, glaube ich. Frag deinen Vater, es ist schließlich seine Großmutter.«

Letzteren traf ich an, wie ich ihn seit jeher kannte, in seinem Anbau, wo er still an seinen Körben herumbastelte. Obwohl er mit seinen buschigen weißen Brauen wie ein Satyr und seinem gegerbten Gesicht immer noch ein gutaussehender Mann war, tat er mir unendlich leid. Wie unsere Insel, deren Felder mit Brombeergestrüpp überwuchert waren, nachdem sie über Jahrhunderte eine Beinahe-Zivilisation ernährt hatten, war er verwahrlost. Seine arthrosesteifen Hände mit den zu langen Nägeln waren ungeschickt geworden und seine Kleider total fadenscheinig, denn es gab keine Läden mehr, um neue zu kaufen, und Internet kannte er nicht. In einem Moment der Schwäche sagte ich mir, dass es vielleicht an der Zeit war, Frieden zu schließen.

»Was willst du zu Mittag essen, Papa?«

»Nichts. Wann fährst du?«

»Ich nehme nachher das Boot.«

Schweigen. »Gut.«

Also ging ich zum Angriff über. »Was ich dich fragen wollte: Warum ist deine Großmutter Corentine allein begraben und nicht bei den anderen Malgorns?«

»Weil sie sie auf ein Jahrhundert verflucht hat.«

»Warum?«

»Keine Ahnung, das sind alte Geschichten!«

»Warum hat sie die Malgorns auf ein Jahrhundert verflucht?«

»Seit wann interessiert dich das?«

»Seit heute!«

»Die Malgorns sind immer Großkotze gewesen, wahrscheinlich deshalb.«

»Und dein Vater, warum hast du mir nie von ihm erzählt …«

»Der war ein alter Krüppel.«

»Ja, das weiß ich, aber wo wurde er geboren?«

»In Paris.«

»Omi Soize hat mir das auch erklärt: Corentine Malgorn ging zum Arbeiten nach Paris und hat sich von einem de Rigny schwängern lassen.«

Er lachte hämisch. »Die hat vor den Malgorns vielleicht geprotzt, als sie wiederkam. Hast du dich nie gefragt, warum wir als Einzige auf der Insel Zentralheizung hatten?«

»Nein, sie hat nie funktioniert.«

»Die Corentine hat ein Auto übers Meer schaffen lassen, um ihren Sohn rumzukutschieren. Ein Auto, in den Zwanzigern. Kannst du dir das vorstellen?! Es gab nur eine einzige Straße und sie hatte ein Auto! In dem Film Finis Terrae von Epstein ist es im Hintergrund zu sehen.«

»Aber de Rigny, wer war das?«

»Woher soll ich das wissen. Der Kerl, der ihr ein Kind angedreht hat.«

»Hast du ihn denn nie danach gefragt?«

»Wen?«

»Deinen Vater.«

»Meinen Vater … Mit welchem Mund hätte der mir wohl geantwortet, hä?!«

»Stimmt!«

»Dein Problem ist, dass du nie nachdenkst, wenn du redest! Im Haus in der Schublade mit den wichtigen Dokumenten ist seine Geburtsurkunde, nimm sie dir, wenn du willst. So … So …«

So … So … Meine Anwesenheit vollkommen ausblendend, bastelte er weiter an seinen Körben, sein Blick verloren in der Betrachtung eines Ölteppichs auf dem Meer. Die Regenbögen, die sich auf der Oberfläche bildeten, mussten Erinnerungen an ähnliche irgendwo bei Valparaíso, Pointe-Noire oder Pondicherry in ihm wecken. Ich schaute schweigend zu, wie er sich geistig ins Labyrinth der Laufgänge von einem der Schiffe verdrückte, auf denen er Dienst getan hat, dann ging ich rüber in sein … in unser … Zuhause. Ich weiß nicht, wie ich diesen Ort nennen soll, der seit dem Tag meines Weggangs eingefroren ist.

Dem unüberschaubaren Durcheinander auf seinem Schreibtisch entnahm ich, dass er schon lange keinen einzigen Brief mehr geöffnet hatte; Kontoauszüge, Rechnungen, Schreiben der Rentenversicherung für Seeleute vermischt mit Werbung für Angelzubehör türmten sich zu riesigen Stapeln. Ansonsten nichts als die Überbleibsel eines Seemannslebens: Gruppenfotos von ehemaligen Crews, Postkarten von fernen Häfen und Geschäftskarten von Bars und Bordellen am Ende der Welt. Er hatte es endgültig aufgegeben, ein soziales Wesen zu sein, und ich muss zugeben, dass ich ihn beneidete.

Ich hatte keinerlei Mühe, das besagte Dokument zu finden, das paradoxerweise ordentlich wegsortiert neben seinen Papieren und meinem Stammbuch in einer Schublade lag, dann verließ ich diesen Ort, der mir immer Angst eingejagt hatte.

Die Zeit bis zu meiner Abfahrt verbrachte ich mit Omi Soize. Wir redeten noch ein bisschen über Corentine Malgorn. Sie wusste nicht viel über sie, außer dass sie 1871 in Montparnasse die Crêperie À la mouette gourmande eröffnet hatte, wo die Bretonen zum Essen hingingen – siehe die in unendlichen Auflagen gedruckte Postkarte La petite Bretagne au XIXe siècle, auf der meine Urgroßmutter als stolze junge Frau mit einem kleinen Jungen vor der Tür ihres Lokals posiert. Als sie auf die Insel zurückkehrte, ließ sie von dem Geld, das sie gehortet hatte, das schönste Haus des Marktfleckens bauen; das, in dem ich aufgewachsen bin und das mein Vater verfallen ließ. Das Mobiliar hat meine Großmutter in den Fünfzigerjahren ausgewechselt, zu einer Zeit, als man die schönen Dinge gegen Resopal austauschte, weil es magisch und mit einem Schwammwisch zu reinigen war. Von Corentine war nichts geblieben außer einem Medaillon ganz hinten in einem flechtenbewachsenen Mausoleum und einer alten Wanduhr mit aufgemalten Paradiesvögeln, die schon lange nicht mehr ging.

Reichtum verpflichtet

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