Читать книгу Reichtum verpflichtet - Hannelore Cayre - Страница 9

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Ich hatte den TGV kaum bestiegen, da kotzte mich schon alles an.

Da ich Tuchfühlung nicht mag, setze ich mich nie an den mir zugewiesenen Platz, wo meine Beine die meines Sitznachbarn berühren, ganz zu schweigen vom Kampf um die Armlehne. Ich ertrage es nicht. Da ziehe ich die Klappsitze im Bereich zwischen den Wagons vor, auch wenn man da selten seine Ruhe hat, weil er oft von Idioten überrannt wird, die ihn nutzen, um die Sau rauszulassen, oder von Alten, die sofort nach der Abfahrt anrufen, um zu sagen, dass sie gleich da sind … Jetzt hör ich dich nicht mehr, hörst du mich noch?

An diesem Tag waren es vier Mädels, die einem Rap-Clip entsprungen waren und sich aus allen Blickwinkeln fotografierten. Aus Neugier checkte ich auf Instagram #TGVParis-Brest, wie sie sich idealisierten, was sie auf dem Großmarkt der Verführung im 21. Jahrhundert an Attributen auffuhren. Aber inmitten dieser Bilder von Mädchen im Modus rausgestreckter Hintern, heißer Schmollmund, zu allen denkbaren Stimulationen bereit, hatte jemand eine heimliche Aufnahme von mir gepostet, wie ich sie beobachtete. Ich in meinem schwarzen Minikleid mit Taschen, meiner Bomberjacke, meinen eingerüsteten Beinen und meinen hochhackigen Halbstiefeln, verloren in einem Gewölk farbenfroher Gänse. Krasse Fehlbesetzung. Emily the Strange zu Gast auf einer Nuttengeburtstagsparty.

Und obendrein zog ich so eine Fresse …

Man muss dazusagen, ich war nicht in Topform. Man hatte mich krankgeschrieben, weil ich mich um ein Haar von einem Métrozug hatte zweiteilen lassen, und zu allem Überfluss war ich unterwegs zum lästigsten aller Frondienste, dem fünfundachtzigsten Geburtstag meines Vaters.

Und die Reise war weit von ihrem Ende entfernt: In Brest angekommen, standen mir noch eine Stunde Bus- und anderthalb Stunden Bootsfahrt bei aufgewühlter See bevor. Und da ich im Voraus wusste, dass ich trotz der ultimativen Schinderei, die diese Langstreckenfahrt bedeutete, nur stören würde, kann man sich vorstellen, wie motiviert ich war.

Ich kannte das Drehbuch auswendig: Bei meiner Ankunft würde mein Vater so tun, als freute er sich, mich zu sehen, nur um mir nach den landläufigen Banalitäten vom Typ Hast du unterwegs was gegessen? War viel los auf dem Boot? Wann fährst du wieder? nichts mehr zu sagen zu haben. Ich würde antworten: Und du, geht’s dir gut?, wohl wissend, dass ich damit die Beschwerdeschleusen öffnete. Omi Soize und ich nennen das die kaleidoskopische Klage: Sätze, die für sich genommen und in neutralem Ton gesprochen rein informativ wirken – Weißt du, ich war beim Arzt … Morgens, wenn ich esse, wird mir schwindelig … Man wird Dédé die Füße und Hände abnehmen wegen der Diabetes – und die in Kombination das grausige Motiv des Schicksals ergeben, das ihm bevorsteht. Er klopft eine Weile auf den Tisch, und zack, fügt sich alles neu zusammen und es geht von vorne los … Und das Ätzendste ist, es findet kein Ende.

In Brest regnete es zur Abwechslung mal. Eine biblische Sintflut, horizontal wegen des Winds vom Meer, der Ihnen ins Gesicht peitscht, sobald Sie den Fuß aus dem Zug setzen. Dort auf dem Bahnsteig sah ich sie das erste Mal, die drei aus Paris. Wobei man sie auch nicht übersehen konnte, wie sie in ihren hübschen wasserabweisenden Regenmäntelchen dem Sturzregen zu trotzen versuchten. Zwei haarige Hipster, einer davon mit Brille, und eine große schmucklose junge Frau mit seidigem langem Haar.

Ich humpelte, so schnell es mir möglich ist, zum Busbahnhof und stieg in den nach nassem Hund stinkenden Bus. Sofort überfielen mich die Alten: Wie lang ist das her! Du bist ja bleich wie ein Arsch! Und wo ist überhaupt deine Tochter? Und blablabla … Zum Glück verpasst man sich in dieser Gegend nicht vier Küsschen, sondern nur eins, denn ich musste mich durch den ganzen Mittelgang arbeiten … Da schlossen sich vor der Nase der drei tropfnassen Pariser die Türen, was niemanden groß tangierte, denn der Bus ist vorrangig für Inselbewohner auf dem Heimweg reserviert.

Am Hafen stiegen alle in einer einzigen Bewegung aus und strömten in den Hafenbahnhof, um im Trockenen aufs Einschiffen zu warten.

Meine alte Freundin Tiphaine war da, sie saß auf einer Bank und stauchte gerade ihre Kinder zusammen, sie sollten aufhören, den Kaffeeautomaten zu misshandeln. Beim Anblick ihrer Jüngsten wurde mir klar, dass ich eine Ewigkeit nicht mehr hier war, um meinen Vater zu besuchen. In meiner Erinnerung war sie ein Baby, dabei war sie ein kleines Mädchen mit Wuscheldutt, das breitbeinig dastand und mich anstarrte, während ich mich zwischen sie und ihre Mutter schob.

Ich küsste meine Freundin, und beim Umarmen ihres üppigen runden Körpers dachte ich in einem Erkenntnisblitz, dass meine Insel mir gefehlt hatte.

Normalerweise, wenn man alte Bekannte nach langer Trennung wiedersieht, fühlt man sich etwas unbehaglich, wie gefangen in einer Verbindung, die nicht immer leicht zu erneuern ist, aber bei den Leuten hier ist das nie der Fall. Ich denke, es liegt daran, dass das Inselleben unsere Familien seit Jahrhunderten zweigeteilt hat, die Männer bei der Marine oder auf einem Handelsschiff auf dem Meer und die Frauen an Land, wo sie sich um die Kinder kümmern, und das hat uns so geformt, dass wir eine besondere Begabung für die Kommunikation mit selten Anwesenden entwickelt haben.

So fragte sie mich schlicht, an welcher Stelle im berühmten Fortsetzungsroman der Insel ich ausgestiegen war … vor der Restaurierung der Friedhofsmauer oder nach der Pleite des Spar-Supermarkts?

»Also echt, du warst ja ewig nicht mehr hier!«

Das Gewicht der Zeit, die seit meinem letzten Besuch vergangen war, zwang Tiphaine, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Wer ist gestorben, wer betrügt wen mit wem, wer ist ertrunken, wer wurde mit dem Hubschrauber abtransportiert … So viele Tragödien auf so kleiner Fläche … Man könnte ihr einen Hang zum Drama unterstellen, aber nein, es ist dort tatsächlich so, ständig passieren entsetzliche Dinge!

Im trommelnden Regen gingen wir alle an Bord, inklusive der drei Touristen, die im Taxi herbeirasten. Ich begab mich direkt zum Bug und streckte mich auf vier Sitzen aus, Augen geschlossen, den Kopf auf einen Pullover gebettet … Ja, ich leide an Seekrankheit. Ich habe alles versucht: Chemie, Hypnose, Gewöhnungstraining, selbst das Ding, wo man unter einem Apfelbaum Mittagsschlaf macht; nur um zu zeigen, wie sehr ich gekämpft habe. Aber nicht genug, dass mein Körper ein störrischer Gaul ist, er will mich auch noch zwangsweise an Land festsetzen.

Die Pariser saßen ein paar Meter von da, wo ich lag, und weil ich während der Überfahrt nichts anderes zu tun hatte, ließ ich mich von ihrer Unterhaltung einwiegen.

Ich bekam mit, dass es sich um ein Pärchen handelte, das seinen Freund, den Brillenhipster, mitgenommen hatte, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Die schmucklose große junge Frau hatte ein Programm ausgeheckt, das sie Punkt für Punkt darlegte, während sie auf einer Karte der Insel die zu besuchenden Spots zeigte. Jemand war gestorben, offenbar die Freundin des Bebrillten, denn er sprach voller Wut über den Vater seiner toten Liebsten, einen Abgeordneten der Rechten, den er als das Riesenarschloch titulierte, und über dessen Verhalten auf der Beerdigung. Offenbar hatte er sich aufgeführt wie auf einer Gartenparty und war begleitet von einem Kellner, der Champagnerkelche verteilte, von Gruppe zu Gruppe gegangen mit dem Ziel, dass man ihm und seinem Sohn aus ihren juristischen Scherereien heraushalf. Dann war die Rede von einem Erdbeben in Nepal. Es fielen Ortsnamen, von denen ich noch nie gehört hatte. Während das Paar, das wirkte, als wäre es im humanitären Sektor tätig, von einer Gesundheitskatastrophe sprach, führte der mit der gestorbenen Freundin verbittert das journalistische Gesetz der Toten pro Kilometer an: Je weiter weg, desto mehr Opfer muss eine Tragödie zählen, um ein Minimum an Leuten zu interessieren. Das Erdbeben in Nepal mit ein paar hundert Toten, darunter seine unter tonnenweise Steinen zerquetschte Tussi, kümmerte niemanden einen Scheiß.

Weiß der Henker warum, ich schlief ein, während in meinem Kopf zwei Verse aus Philippe Murays Lied Tombeau pour une touriste innocente dudelten:

Nichts schöner als eine blonde Touristin auf der Welt

Kurz bevor im Dschungel ihr Kopf zu Boden fällt

Mein Vater hatte seinen Kumpel Fañch mit seinem R14 geschickt, um mich vom Boot abzuholen. Er verstaute meine Tasche auf der Rückbank, und kaum hatte ich meinen Hintern auf den Beifahrersitz gehievt, fing er schon an, mir auf den Wecker zu gehen.

»Du weißt, dein Vater ist alt, viele Geburtstage wird er nicht mehr erleben, du musst öfter kommen, sonst bereust du es eines Tages … Und wenn du kommst, bleib länger und bring deine Tochter mit …«

Immer dieser Drang, dir Fußketten anzulegen, sobald du nach Hause kommst, dachte ich bei mir.

»Weil er uns ja so wahnsinnig vermisst, stimmt’s?«, gab ich zurück. Er brummte irgendwas, die Säufernase im Fell seines Spaniels vergraben, der zwischen ihm und dem Lenkrad saß, dann verfiel er in Schweigen.

Dazu muss man sagen, dass das Thema Blanche hier auf dem Felsen, wo jeder sich für die Gören der anderen verantwortlich fühlt, und sei es nur, weil sie in einer abgeschlossenen Welt vor aller Augen aufwachsen, das Thema Blanche also niemanden kalt lässt. In einer geschlossenen Gemeinschaft gibt es pro Generation immer einen oder eine, die Unruhe stiftet. Die Sorte Teufelsbraten, die stets in das aktuelle Riesending verwickelt ist. Wenn eine Zweitwohnung durchwühlt wird oder eine Karre brennt … wenn Langusten aus den Wasserbecken verschwinden oder während der Hochsaison die Mauern der Anlegestelle mit vulgären Anti-Touri-Sprüchen besprüht werden … Kurz und gut, in der Generation der in den Achtzigern Geborenen bin die epochemachende Unruhestifterin ich: Blanche de Rigny.

Da war mein Ausreißen, klar, als mein Vater mich nach dem x-ten Krach noch vor Abschluss des Collège ins Internat stecken wollte. Dreitägige Suchaktion. Die Hubschrauber vom Bergungsschutz kreisten über der Küstenlinie der Insel. Alle Wasserfahrzeuge bis zum kleinsten Beiboot im Einsatz, um am Fuß der Klippen akribisch nach meiner Leiche zu suchen, während ich mit meinen dreizehn Jahren nach Paris aufgebrochen war, um mich als Bettlerin durchzuschlagen. Damals schon.

Aber vor allem, auch zeitlich, war da meine Geburt.

Sie ereignete sich mitten in einem heftigen Sturm, wie immer, wenn sich auf dieser verfickten Insel ein Drama abspielt. Mein Vater war in Afrika auf hoher See, als meine Mutter starke Blutungen bekam, und da es bei Windstärke 10 unmöglich ist, einen Hubschrauber zu schicken, musste die Seenotrettung sie per Boot zum Festland bringen. Ich war natürlich noch nicht geboren, aber man hat mir die Geschichte so oft erzählt, dass ich mich zwischen den Beinen der Seemannsfrauen stehen sehe, von wo ich zuschaue, wie das orange-grüne Rettungsboot, das sie ins Krankenhaus brachte, über die Rollschienen gleitet. Es wird berichtet, dass keiner der Kerle von der Seenotrettung zögerte; dass ihre Frauen weinten, weil da Mauern aus Wasser waren und sie Angst hatten, ihre Männer nicht lebend wiederzusehen. Auf der Überfahrt verlor meine Mutter ihr ganzes Blut, während die Rettungsleute machtlos zusahen. Sie starb vor der Landung, aber ich großes Sechs-Monats-Frühchen habe überlebt. Einer der Seenotretter hat mich im Rathaus von Brest gemeldet, und um keinen Fauxpas zu begehen, gab er mir den Namen meiner Mutter: Blanche. Man erzählt auch, dass ein paar Tage später, als mein Vater zur Beerdigung heimkam, die Rettungsleute ihn geschlossen am Schiff erwarteten, mit tieftrauriger Miene, als wären sie an irgendwas schuld. Sie waren es auch, die in ihren orangefarbenen Uniformen den Sarg trugen. Der Pfarrer musste die Tür offen lassen, so voll war die Kirche. Bei dieser x-ten Tragödie des Meeres schloss sich die Insel wie ein Block um den Witwer, Vater eines winzigen Mädchens, das sich im Brutkasten auf dem Festland ganz allein durchkämpfte.

Wenn ich so drüber nachdenke, ist das ja vielleicht der Grund, warum ich seekrank werde.

Sofort nach der Beerdigung brach der Alte zu einer seiner längsten Fahrten auf und vertraute mich Omi Soize an, seiner Tante, der Frau, die mich aufgezogen und sich all meiner Alltagssorgen angenommen hat. Seinen Abschied von der Handelsmarine nahm er notgedrungen erst, als außer Reedereien mit Schrottschiffen voller Filipinos niemand mehr einen Alten wie ihn beschäftigen wollte.

Ich war zwölf, als er anfing, Vollzeit mit uns zusammenzuleben, und es versteht sich von selbst, dass er absolut nicht willkommen war, denn nachdem er ein Leben lang durch Abwesenheit geglänzt hatte, kam sein widerliches Macho-Gehabe nicht gut an.

Da jeder Ort seine ureigenen Schicksale heraufbeschwört, muss ich vor meinem Ausreißen unbewusst gespürt haben, dass ich um jeden Preis abhauen sollte von dieser Insel, wo ständig Dramen passierten, ehe das Unheil über mich hereinbrach, mich persönlich … Denn genau so kam es.

Eine alles in allem recht banale Geschichte und eben extrem inseltypisch, wenn Sie wissen, was ich meine … Die Gendarmen waren für die Sommersaison noch nicht eingetroffen, und wir nutzten die Gelegenheit, um einem Lieblingshobby müßiggängerischer Gören zu frönen, nämlich sternhagelvoll und ohne Führerschein mit an der Anlegestelle geparkten Wagen zu fahren, bei denen immer der Zündschlüssel steckt. Und ab die Post, gib Gummi, Jugend … Ich war mit zwei Jungs und einem Mädel vom Campingplatz unterwegs, nicht mit Jugendlichen von der Insel, sonst wäre so was niemals passiert. Ich saß oder besser hing auf der Rückbank und war leider zu besoffen, um zu merken, dass der Idiot am Steuer uns auf den Küstenweg lenkte.

Er hat schlicht und ergreifend nicht gesehen, dass das Land dort endete. Finis terrae. Rums!, ab in die Klippen. Die zwei Typen vorn wurden zermalmt, und das Mädchen neben mir verbrannte bei lebendigem Leib, weil sie die Umsicht gehabt hatte, sich anzuschnallen, und eingeklemmt war. Ich, die ich in keinerlei Hinsicht je habe Umsicht walten lassen, wurde beim Überschlagen des Wagens durch die Heckscheibe katapultiert und brach mir die Wirbelsäule.

Reichtum verpflichtet

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