Читать книгу Glück in Salzburg - Hannelore Mezei - Страница 7

Оглавление

Kapitel 2

Als ob die Toten nicht warten könnten! Für Thomas Kranzler ist jeder Kunde, der kurz vor seiner Mittagspause anruft, ein Ungustl. Es ist vier Minuten vor zwölf, und das Telefon klingelt. Er starrt es an, doch es lässt sich nicht hypnotisieren. Läutet und läutet, bis er seufzend den Hörer abnimmt: »Zum ewigen Frieden. Sie haben genau drei Minuten, dann ist hier Schluss.«

»Glück«, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Der Glück von ›Leib und Leben‹? Der seinem Chef einen rechten Haken verpasst hat und danach in die Provinz verbannt worden ist?«

Martin schaut auf seine Uhr. Er hat noch zwei Minuten. Doch der Doktor ist nicht nur ein Witzbold, sondern auch ein guter Pathologe, und prinzipiell mögen sie einander. Also hat er eine kleine Chance, dass Kranzler nicht einhängt. »Genau der, und ich hab meine Strafe verbüßt und bin wieder in Wien. In Amt und Würden. Freut mich, wenn wir uns wieder zwanglos über Leichen treffen. Weshalb ich anrufe: Die beiden Muskelmänner, die abbankelten … hattest du die schon unterm Messer?«

Die Uhr zeigt zwölf. Kranzler seufzt und greift mit der Linken nach einer Zigarette. Er raucht nicht mehr, doch es beruhigt ihn, wenn er sie in der Hand hält. »Nur weil du es bist, und dafür schuldest du mir ein Bier. Mindestens. Ich hab den Obduktionsbericht noch nicht geschrieben, aber die Substanz untersucht, an der sie letztlich gestorben sind – der eine an Nierenversagen, der andere an Herzkasperl. Beides sind mögliche Nebenwirkungen von anabolen Steroiden, du weißt schon, das Zeug, von dem man Muckis kriegt. Und davon hatten die beiden reichlich, richtige Sixpacks und Oberarme wie Rambo zu seinen besten Zeiten.«

»Und das hat dich auf die Idee gebracht?«

Kranzler sieht hinunter zu seinem Sixpack, der eher einem Bierfassl gleicht. Aber immerhin lebendig. »Na sicher, die beiden waren noch keine dreißig, da stirbt man nicht so ohne Weiteres. Außerdem ist dieses Scheißzeug weitverbreitet, nicht nur in der Viehzucht, sondern auch in Sport und Spiel. Es gibt ganze Cocktails von Steroiden, und manche sind schwer bis gar nicht nachzuweisen, siehe Spitzensport. In den vorliegenden Fällen war es aber Testosteron Enanthat, eher was Simples und relativ leicht zu finden. Man misst das Verhältnis verschiedener Kohlenstoffmoleküle und kann dadurch körpereigene von körperfremden Steroiden unterscheiden. Überdosis – bei beiden. Entweder waren die so blöd, viel zu viel einzuwerfen, oder die Tabletten waren zu hoch dosiert. Die Frage lässt sich final erst beantworten, wenn du das Zeug findest.«

»Ich krieg bestimmt einen Durchsuchungsbeschluss«, sagt Martin, »sobald du mir den Obduktionsbericht mailst. So schnell wie möglich.«

»Das kostet noch ein Bier. Mindestens.« Kranzler ist aufgestanden. »Ich muss jetzt los zu meinem Essen. Und wenn du einen Tipp willst: Der Scheiß kommt überwiegend aus China oder Indien, und verscherbelt wird er via Schwarzmarkt oder Darknet. Aber was red ich, das ist ja dein Problem. Glückwunsch übrigens, dass du wieder in Gnade gefallen bist. Man sieht sich …«

Er hat aufgehängt. Martin legt den Hörer zurück und schaut hinaus auf den sommerlichen Himmel, strahlend blau an diesem Tag, mit ein paar Schäfchenwolken. Er freut sich, sein altes Büro zurückzuhaben und wieder in seinem Luxusschrebergartenhaus am Küniglberg zu wohnen. Der Besitzer will erst in einem Jahr nach Wien kommen, bis dahin muss Martin sich eine neue Bleibe suchen. Am liebsten hätte er was mit Grün, Gärtnern ist ein schöner Ausgleich zum Schreibtischjob. Und er läuft lieber durch Parks als in der lauten Innenstadt. Seit April alles wachsen und blühen zu sehen, stimmt ihn heiter bis beinah zufrieden.

Schön wärʼs noch, denkt er, wenn er jetzt zum Kollegen Fassl gehen könnte, um mit ihm über die Anabolikafälle zu reden. Die zwei Toten, die in einem Fitnessstudio im 9. Bezirk eingeschrieben waren, die einzige Gemeinsamkeit, die er bisher feststellen konnte. Drei Monate ist es jetzt her, dass Franz Fassbinder, alias Fassl, sich auf eine Stelle in Salzburg beworben hatte und prompt versetzt wurde. Und Martin vermisst ihn, weil Franz der Einzige im Präsidium war, mit dem er wirklich reden konnte. Und lachen. Über die Arbeit. Frauen. Politik. Das Leben im Allgemeinen und im Besonderen. Franz, der immer gut drauf war, selbst als er mit eiserner Disziplin zehn Kilo abnahm. Fitness plus Diät, und der Grund war ein schönes Mädchen, das sich auf Franz einließ und ihn dann verließ, als er für sie erschlankt war. Er sei einfach zu nett, das waren ihre Abschiedsworte. Wie können Frauen so was nur denken, geschweige denn sagen?

Ich steh auf nette Frauen, überlegt Martin, während er aufräumt, das gekippte Fenster zumacht, seine Waffe im Schreibtisch einschließt. Doch er hat keine mehr getroffen, seit er wieder in Wien ist. Gigi aus Graz war die letzte Liebe, vielmehr eine Liebelei, mehr wollten sie ja nicht voneinander. Und Lily, mit der es ernst hätte werden können, verschwand zu ihrem Ex-Mann, dem Vater ihrer Tochter, nach Italien. Sie wollte es noch einmal versuchen, und irgendwie wünscht er ihr auch, dass es gut geht, obwohl es verdammt wehgetan hat damals. So viel Schmerz liegt in der Liebe. Vielleicht ganz gut, dass er eine Pause einlegt. Seine Fälle löst, den Garten bearbeitet, den Küniglberg rauf- und runterläuft, mit Bekannten was essen oder trinken geht, ab und zu in ein Jazzlokal oder ins Kino. Und natürlich seine Saxofonstunden nimmt. Kein aufregendes, aber ein angenehmes Leben, damit könnt er sich arrangieren. Doch der Franz fehlt ihm, und während er zur Tram geht, um in den 9. Bezirk zu kommen, fällt ihm ein, dass er den Fassl ja besuchen könnte. Eine Woche Salzburg, zuletzt war er als Kind da, und er erinnert sich vor allem an den Zwergerlgarten, die grotesken Marmorfiguren im Schlosspark Mirabell. Damals war Salzburg noch keine Event-Stadt, die von Touristenhorden heimgesucht wird. Und natürlich war Martin noch nie bei den Salzburger Festspielen, Pfingsten, Ostern oder Sommer. Jazz mag er schon, doch zu klassischer Musik fühlt er sich einfach nicht hingezogen. Der Vater war nur der Malerei verbunden, und die Mutter früher mehr der Operetten- und Schlagertyp. Doch nach dem Tod des Vaters hat sich Lotte neu erfunden. Hat das Alte abgestreift und sich in unbekannte Abenteuer gestürzt. Jetzt wohnt sie in einer Wohngemeinschaft, hängt den halben Tag am Computer, hört Musik aus den Siebzigern und trägt Hippiegewänder, die an einer Fünfundsiebzigjährigen ganz schön retro ausschauen. Lotte kifft auch gelegentlich und ist angeblich Vegetarierin geworden – mit regelmäßigen Rückfällen, wenn sie an einem erstklassigen Würstelstand nicht vorbeigehen kann. Na Hauptsach, sie ist glücklich, denkt Martin, inzwischen in der Tram, die in Wien auch Bim heißt.

Das Fitnessstudio, dessen Mitgliedsausweise in den Portemonnaies der Toten waren, liegt im 9. Bezirk, der inzwischen ein Szeneviertel ist, erkennbar an den vielen kleinen Läden und Restaurants und Bars und alten Häusern, die renoviert und ausgebaut wurden. Die Stadt verändert sich jeden Tag, und immer wieder wundert er sich, wie Wien es schafft, seinen Mythos als lebenswerteste Stadt der Welt zu bewahren. Grad weil man nirgendwo einen Parkplatz bekommt, der Verkehr in jedem Jahr grauslicher wird und Horden von Touristen die Innenstadt zertrampeln.

Das Servitenviertel ist – noch – weitgehend verschont von Wien-Reisenden, und in einer kleinen Querstraße der Servitengasse findet Martin das Studio in einem alten Lagerhaus, das frisch gestrichen wurde, eidottergelb. »Your Workout« steht auf einem blauen Schild in gelber Schrift. Alles sieht neu aus, wie geschaffen für die Hippster, die da kommen werden. Er geht durch die Drehtür und wird von einem jungen Mann gestoppt, der eine entfernte Ähnlichkeit mit dem jungen Arnold Schwarzenegger aufweist.

»Suchst du was, kann ich helfen?«

So, wie er sich vor Martin aufgebaut hat, scheint ein Durchkommen ohne Antwort unmöglich. »Sicher, ich such den Besitzer oder Geschäftsführer … Wer grad da ist …«

Der Möchtegern-Arnie lächelt immer noch freundlich. »Na, da hast du Glück, er steht vor dir: Andy Hubmann, Manager … Willst Mitglied werden?«

Du könntest schon mehr Muskeln vertragen, sagt sein Blick, doch Martin ist nicht dieser Meinung. Ein Muskelprotz wollte er nie sein. Na ja, vielleicht signifikantere Bauchmuskeln …

Er zückt seinen Polizeiausweis, und das Lächeln verschwindet aus Andys Gesicht, weicht einem Ausdruck zwischen Angst und Aggression.

»Können wir irgendwo in Ruhe reden?«, fragt Martin.

Andy weist schweigend auf eine Tür, auf der in großen Lettern »Management« geschrieben ist. Martin folgt ihm. Hinter der Tür findet sich ein fensterloses Zimmer im Kleinformat. Ein Schreibtisch, zwei Stühle, ein schmaler Aktenschrank. Computer, Drucker, Telefon. Auffallend ist eine Blumenvase mit roten Rosen, sie sind schon ein wenig verwelkt. Andy ist Martins Blick gefolgt: »Die sind von meiner Freundin, ich hatte vor drei Tagen Geburtstag. Ist alles noch provisorisch hier, wir haben erst seit vier Monaten auf.« Er wechselt vom Du zum Sie: »Was führt Sie her, Herr Kommissar?«

»Chefinspektor«, sagt Martin, »aber das ist nicht so wichtig. Ich komme wegen einem Ihrer Kunden: Matthias Gruber. Er liegt im Krankenhaus. Nierenversagen. Dieser Matthias erzählte dem behandelnden Arzt, dass er Testosteron Enanthat geschluckt hat seit vier Wochen. Und dass er die Anabolika bei Ihnen gekauft hat, Herr Hubmann. Das sind illegale Substanzen, die dem Arzneimittelgesetz unterliegen. Aber das wissen Sie sicher.«

»Der lügt doch«, sagt Hubmann.

Alle lügen, denkt Martin. Ich hab jetzt auch gelogen, aber es dient einem guten Zweck – der Wahrheit. »Wenn man so kurz davor ist, a Bankerl zu reißn, Herr Hubmann, dann lügt man nicht mehr. Also: Woher haben Sie die Anabolika, und wer von Ihren Kunden hat sie von Ihnen bezogen? Um eine Anzeige werden Sie nicht herumkommen, aber wenn Sie hier und jetzt ein Geständnis ablegen, wird sich das sicher sehr günstig auswirken.«

Sein Gegenüber hat den Kopf in die Hände gestützt. Er hat einen Stiernacken, denkt Martin, wahrscheinlich nimmt er das Zeug selber. »Wenn ich jetzt mein Studio verliere … Mein ganzes Geld steckt da drin.«

Jetzt tut er ihm fast schon leid. Martins Stimme kann sehr sanft werden. »Wahrscheinlich gibtʼs ja nur ein Bußgeld … und es geht doch darum, Schlimmeres zu verhüten. Was, wenn einer stirbt? Womöglich sind die Tabletten überdosiert oder verunreinigt oder was weiß ich … Wollen S’ vielleicht eine Anklage wegen Totschlags riskieren?«

***

Jeder gute Anwalt wird das Geständnis in der Luft zerreißen, das weiß Martin auch. Doch seine Notlüge hat Andy Hubmann immerhin dazu gebracht, ihm eine Briefkastenadresse in Salzburg zu verraten, bei der er die Anabolika bestellt hat. Den Tipp hatte er angeblich von einem Kollegen, einem Ukrainer, der inzwischen zurück in die Heimat gegangen ist. Hubmann hat ihm auch eine Liste seiner Anabolikakunden im Fitnessclub gegeben, vierzehn sind es, zwei davon sind jetzt tot, aber das hat ihm Martin erst ganz am Schluss ihres Gesprächs verraten.

Hubmanns Reaktion kam überraschend: Er fing an zu weinen, lautlos, ein kleiner Junge mit großen Muskeln, der sich schämt und nicht mehr weiterweiß. Und da hat Martin ihn tatsächlich getröstet und gemeint, ein guter Anwalt würde ihn sicher raushauen, denn die kleinen Fische ließe man oft schwimmen, um an die großen Haie zu kommen. Und dann ging er, nach einem letzten Blick auf das Studio, in dem ein paar junge Männer an Maschinen ihre Körper formten, und Martin dachte ketzerisch, dass die Welt vielleicht ein besserer Ort wäre, wenn so viel Zeit, Energie und Geld aufs Hirntraining verwendet würde.

Er weiß, dass der Handel mit Steroiden inzwischen ein Milliardengeschäft ist, der große Schmäh von Kraft und Leistung und schnellen Erfolgen. Erst im März wurden am Wiener Flughafen 423 Kilo verschiedenster Anabolika beschlagnahmt, das Zeug wird tonnenweise kreuz und quer durch Europa geschmuggelt, der Zoll kommt gar nicht hinterher. Zollfahnder ist ein Job, der ihn auch mal gereizt hat, man kommt viel rum …

Das Beisl in der Servitengasse ist bummvoll, doch die Wirtin schenkt ihm ein Lächeln und ein Ottakringer Helles ein, das er an der Theke trinkt. Es herrscht gute Stimmung, eine fröhliche Geräuschkulisse, vorwiegend im Wiener Slang, und Martin prostet sich selber zu und beglückwünscht sich, dass er nicht mehr willkürlich von einem Bundesland ins andere versetzt wird, sondern wieder in seiner Heimatstadt arbeiten darf. Andererseits wär die Briefkastenadresse in Salzburg doch ein guter Grund, endlich den Fassl heimzusuchen, den wird er von zu Hause anrufen und fragen, ob er bei ihm unterkommen kann. Weil, wie selbst der Kulturtrottel weiß, die Festspiele angefangen haben, und das ist die Zeit, in der es kein einziges freies Bett mehr gibt in Salzburg und Umgebung. Die Mozartstadt im Jedermann-Rausch. Fassl aber wohnt in Maxglan, einem Bezirk, in den sich Touristen fast nie verirren.

***

Er ruft den Franz an, bevor er zum Maturatreffen fährt, vor Wochen schon hat er sein Kommen zugesagt und bereut es jetzt, weil er gar keine Lust hat, auf einen Haufen Sechsundvierzigjähriger in der Midlifekrise zu treffen. Fassl ist sofort am Telefon und freut sich riesig über den Blitzbesuch. Na sicher könne er bei ihm wohnen, er habe ein sehr bequemes Ausziehbett im Wohnzimmer, an Hotels oder Pensionen brauche er gar nicht erst zu denken. Er erwarte Martin, sie könnten ja in sein Stammbeisl gehen, gleich ums Eck von der Mühlbachgasse. Geiles Gulasch gäb es dort und …

Martin beendet das Gespräch mit einem »Ich freu mich – und bis morgen dann«, steht eine Weile unentschlossen vor dem Kleiderschrank und wählt schließlich Jeans, ein weißes Hemd und ein schwarzes Jackett. Überlegt, ob er das Auto nehmen soll, und entscheidet sich dafür. Er wird halt nur ein Glas trinken und sich früh verabschieden. Und sollte es wider Erwarten lustig werden, lässt er den Wagen eben stehen. Besoffen fahren – das waren Jugendsünden, über die ist er schon lange hinweg.

Martin verabschiedet sich von dem wunderbaren Parkplatz in der Straße direkt neben der Siedlung und fährt in Richtung 7. Bezirk zum Hotel am Brillantengrund, wo Rüdiger Stein das Maturatreffen organisiert hat. Typisch Rüdiger, denkt Martin, während er im Samstagabendverkehr Runden dreht, weil er natürlich keinen Platz findet um die Zeit. Das Parkhaus ist besetzt, und er verflucht seine Entscheidung für das Auto. Das Handy klingelt, und am Display taucht Romanas Nummer auf. Martin drückt sie weg. Keine Zeit jetzt, Wörthersee-Klatsch zu hören und Neuigkeiten über Alex, den Hund. Während der Nebensaison war nicht viel los am See, und Romana fadisierte sich, was zu vermehrten Anrufen führte. Er flucht, als ihm ein Porschefahrer einen freien Platz vor der Nase wegschnappt, weil er einfach schneller war als das alte Käfer-Cabrio.

Die Wut sofort in ein Lächeln verwandeln, sagt Martins Therapeutin. Diese Wut, die ihn beinah seinen Job gekostet hat. Jetzt grinst er grimassenhaft, sieht sich im Rückspiegel an und muss darüber lachen … Und dann sieht er einen freien Platz fast vor dem Hotel und parkt ein. Dieses Glücksgefühl … Es ist verschwunden, sobald er ausgestiegen ist, aber immerhin …

Um die fünfundzwanzig Ehemalige sind gekommen und stehen im Gastraum mit Sekt- oder Weingläsern herum. Jede und jeder trägt ein Namensschild, falls am Äußeren nicht mehr zu erkennen. Martin hat seines in die Jacketttasche gesteckt. Vielleicht will er gar nicht identifiziert werden. Die Schule empfand er als Vorstufe zum Gefängnis, und ein paar seiner Lehrer beherrschten die Folter des Geistes. Sein bester Freund, vielleicht sein einziger in der Schulzeit, starb bei einem Motorradunfall, als er achtzehn war.

Eine hübsche Kellnerin hält ihm ein Tablett vor die Nase, er nimmt ein Glas Weißwein, schaut sich um und erkennt ein paar Gesichter. Komisch, dass einige Leute graziös altern und andere einfach nur schiach werden. Vor achtundzwanzig Jahren haben sie nach bestandener Matura leichten Herzens voneinander Abschied genommen und sind in die Welt gezogen. So viele Pläne gab es und kaum Zweifel daran, dass das Leben für jeden ein Quantum Glück bereithält. Martin lächelt einer hübschen Brünetten zu, an deren Namen er sich nur vage erinnert, Marion oder Maria oder Marianne, so was in der Art, und beim Maturaball haben sie in irgendeiner Ecke rumgebusselt, aber die Geschichte nicht zu Ende gebracht. Kondomvergesslichkeit. Und jetzt kommt ein kleiner Mann mit Nickelbrille und Pferdeschwanz auf ihn zugestürzt …

»Mensch Martin, schön, dass du mal wieder dabei bist. Gut schaust du aus, die Ehefrau wollte nicht mit …?«

»Geschieden«, sagt Martin und lässt die kurze Umarmung über sich ergehen, ohne sie zu erwidern. Er hat Rüdiger schon in der Schule nicht besonders leiden können. Der war immer schon ein Angeber und Gschaftlhuber, mischte sich in alles ein und verpetzte Mitschüler im Zweifelsfall bei den Lehrern.

»So ein Kommissar ist halt dauernd auf Verbrecherjagd, damit unsereins gut schlafen kann«, sagt Rüdiger mit einem Augenzwinkern.

Er trägt einen weißen Leinenanzug, kunstvoll zerknittert, und ein schwarzes Hemd, das zwei Knöpfe zu weit offen ist. Martin findet, dass Rüdiger bescheuert aussieht. »Chefinspektor, nicht Kommissar. Und was machst du so? Schon den Pulitzerpreis gewonnen?«

Das gequälte Lächeln seines Gegenübers erfreut Martins Herz. »Noch nicht, mein Lieber, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Nein, ich habe mir meine journalistische Freiheit bewahrt, indem ich eben nicht für eine Publikation arbeite, sondern als Freier für alle Medien – Presse, Standard, News, auch ein paar wichtige deutsche Publikationen sind dabei. Ich kann wirklich nicht klagen, man rennt mir die Tür ein.«

»Das freut mich«, lügt Martin und möchte gerne weitergehen zu der Brünetten, die wirklich gut küsste – falls ihm nicht seine Erinnerung einen Streich spielt. Als er sich in Bewegung setzt, hält Rüdiger ihn am Arm fest. »Du, ich bin da an einer Story dran, die könnte dich auch interessieren.«

Nein, denkt Martin, doch der Druck auf seinen Arm hat sich verstärkt. Rüdigers rundes Gesicht glüht vor Aufregung: »Ich habe einen Insider-Tipp von ganz oben bekommen – Quelle darf ich natürlich nicht verraten –, dass es Leute gibt, die bei uns Medikamente aufkaufen und in Länder exportieren, in denen die Preise sehr viel höher liegen. Mit gewaltigen Gewinnspannen.«

Martin schüttelt den Griff ab. »Interessant. Aber meines Wissens ist das nicht strafbar. Bloß geschäftstüchtig.«

Rüdigers Gesicht offenbart keinerlei Selbstzweifel. »Na, vielleicht doch, wenn dadurch die Medikamente in Österreich knapp werden, verstehst du … Wusstest du, dass in Österreich bei mehreren Hundert Medikamenten Engpässe herrschen? Darunter auch lebenswichtige Pharmazeutika! Vielleicht ist das kein Verbrechen, aber zumindest ein Riesenskandal. Und ich werde ihn aufdecken! De omni re scibili et quibusdam aliis.«

Der Rüdiger und sein großes Latinum! »Na, dann wünsch ich dir viel Glück dabei«, sagt Martin und entzieht ihm seinen Arm, um in einer blitzschnellen Kehrtwende das Weite zu suchen.

»Der Martin war immer schon so was von uncharmant«, wird Rüdiger zu seiner nächsten Gesprächspartnerin sagen. Sie wird ihm zustimmen, aber nur, weil sie in der Maturaklasse in Martin verliebt war und keinen Stich bei ihm kriegte. »Ein Zornpinkel war er auch«, wird über ihn getratscht. Sowohl bei Mitschülern wie auch bei Lehrern konnte er ganz schön ausfallend werden, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte. Und es gab diverse Raufereien auf dem Schulhof, von denen er manche gewann und andere verlor, weil er auch vor Mutproben mit Stärkeren nicht zurückschreckte. »Eigensinnig war er«, setzt Rüdiger nach, und eine der Frauen widerspricht mit dem Satz, er sei halt anders gewesen, irgendwie »besonders«. Ob Martin Glück »besonders« war oder immer noch ist, darüber wird kurz diskutiert, bis ein anderes Thema in den Vordergrund rückt.

Martin spürt Blicke im Rücken und hört gelegentliches Flüstern, das er aber nicht auf sich bezieht. Schließlich gibt es unter den ehemaligen Mitschülern Ärzte, Banker, sogar einen halbwegs berühmten Schauspieler. Da hat ein Kriminaler wenig Chancen, Aufmerksamkeit zu erregen. Er steht neben der Brünetten, die Marion heißt und sich an den Maturaballkuss erinnern kann. Marion ist Zahnärztin, ziemlich frisch geschieden, mit einer Tochter, die inzwischen in der Praxis mitarbeitet. Sie ist groß und ein wenig ausladend und trägt ein gepunktetes Kleid mit gewagtem Ausschnitt. Ihm gefällt, wie sie aussieht, und er mag ihr Lachen, das ihn an Lily erinnert. Sie reden über Politik und Essen und empfehlenswerte Lokale und stellen fest, dass sie schon einige Anknüpfungspunkte haben. Doch dann, als Marion ihr viertes Glas Wein trinkt, während er sich noch an seinem ersten festhält, wird sie gesprächiger, genau genommen redet sie wie ein Wasserfall und lässt ihn überhaupt nicht mehr zu Wort kommen. Und nein, er interessiert sich nicht für Golf und Kreuzfahrten, für Zahnimplantate und Versicherungen, die Ärzten das Leben schwermachen. Als das Buffet eröffnet wird, auf das sich alle stürzen, als hätten sie noch nie etwas zu essen bekommen, verabschiedet sich Martin von Marion mit seinem nettesten Lächeln und den Worten, dass er zur Toilette müsse.

Das Buffet ist philippinisch angehaucht, die Mutter des Besitzers, die Mama, kommt daher, weiß Rüdiger zu berichten, der Martin bei dessen Rückkehr von der Toilette aufgelauert hat. »Geniale Küche«, sagt er, und Martin, der in seinem Leben nur einmal auf den Philippinen war, erinnert sich daran, dass das Essen viel zu fettig war und immer kalt auf den Tisch kam. Er nimmt sich trotzdem was auf den Teller, sieht aus wie Fisch und Gemüse und Reis, und revidiert sein Urteil, schließlich gibt es in jedem Land gute Köchinnen.

»Wusstest du, dass 2016 aus Rumänien Medikamente im Wert von 575 Millionen Euro in andere europäische Länder exportiert wurden, weil sie dort viel teurer sind als in Rumänien.«

Rüdiger spricht auch mit vollem Mund, das irritiert Martin sehr. Von der Seite sieht er zudem Marion auf das Buffet zusteuern, sie hat ihn im Visier, und in einem Anfall von Panik stellt Martin sein leeres Glas und den halb leeren Teller auf den Tisch. »Du, ich muss weg, die Zentrale hat mich angepiepst.«

»Ich hab gar nichts gehört.«

Marion kommt näher.

»Ich habʼs auf Vibration gestellt. Hab heute Bereitschaftsdienst. Tut mir leid, Rüdiger, wir sehen uns …«

»Ich ruf dich an«, ruft Rüdiger in Martins Rücken. Es klingt wie eine Drohung. Martin winkt Marion zu, die jetzt neben Rüdiger steht. Wie unterhalten sich zwei Leute, die beide ohne Pause reden? Martin wirft noch einen letzten Blick auf den Raum, alle sind gut drauf, und mit zunehmendem Alkoholkonsum werden die alten Geschichten ausgegraben. Weißt du noch …?

Er weiß, dass er keine Lust mehr hat auf alte oder neue Geschichten. Er fühlt sich müde und verdammt alt. Freut sich auf zu Hause, da wird er noch eine Flasche Bier trinken und die Nachrichten schauen und dann zu Bett gehen. Und er freut sich auf den nächsten Tag. Das Wiedersehen mit Franz. Einer der paar, vor denen er nichts verbergen, denen er nichts vorspielen muss. Fassl und Glück, die verstehen sich mit vielen und mit wenigen Worten. Er hat Franz geduldig zugehört, als der Liebeskummer hatte. Ihn getröstet, obwohl es keinen Trost gab. Und er hat ihm zugeraten, sich auf die Stelle im Salzburger Präsidium zu bewerben. Nicht nur wegen der besseren Beförderungschancen, sondern auch, um Kilometer zwischen sich und die Frau zu bringen, für die er »zu nett« war.

Auf dem Weg zum Küniglberg pfeift Martin ein Lied, das sie beim Maturatreffen spielten. We are the champions, my friend. Hatte Rüdiger als Begrüßungssong ausgesucht. Manchmal wünschte Martin sich schon, so ein aufgeblasenes Ego zu haben, wie ein Luftballon, auf dem in großen Lettern Rüdiger steht. Sind die glücklicher, die sich nie infrage stellen?

Glück in Salzburg

Подняться наверх