Читать книгу Glück in Salzburg - Hannelore Mezei - Страница 8
ОглавлениеKapitel 3
Auf der Autobahn von Wien nach Salzburg gibt es zu allen Jahreszeiten Baustellen und Staus. In einem davon steht er jetzt und beißt von einer Extrawurstsemmel ab, die er sich an der Tankstelle gekauft hat. Dreht das Autoradio lauter auf, die Nachrichten künden vom desolaten Zustand der Welt und den Nachwehen von Ibizagate in Österreich. Und dann berichtet der Sprecher vom plötzlichen Tod des Hugo Flock, Wörthersee-Milliardär und einer der reichsten Männer Österreichs, der sein Vermögen mit Immobilien, Aktien und Firmenbeteiligungen gemacht hatte. Der dreiundachtzigjährige Flock sei am Samstag während der Jedermann-Premiere in Salzburg verstorben. Man gehe von Herzversagen aus, der Leichnam sei in die Pathologie überführt worden.
Arme Romana! Martin erinnert sich an seine pubertäre Schwärmerei für die schöne Rothaarige in der alten Villa am Wörthersee, in der er viele Sommerferien verbracht hat an der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend. Romana Petuschnigg, der so viele Affären mit reichen und berühmten Männern nachgesagt wurden. Einer davon war Hugo Flock, mit dem sie befreundet blieb, auch nachdem er eine viel Jüngere, seine Krankenschwester, geheiratet hatte. Ich muss sie anrufen, denkt Martin und schämt sich jetzt, dass er ihre letzten Telefonate nicht angenommen hat. Romana telefoniert gern und vor allem lang, und darauf hat er an manchen Tagen einfach keine Lust.
Er steht im Stau, der Zeitpunkt, sie anzurufen, wäre günstig, doch dann sieht er, dass der Akku leer ist. Er hat vergessen, sein Handy aufzuladen, das passiert ihm öfter, der Vormittag ist ziemlich hektisch gewesen. Er hat im Präsidium seinen Bericht über die Todesfälle und die Aussage des Fitnessstudio-Managers geschrieben, eilig einen kurzfristigen Urlaub beantragt und genehmigt bekommen, nachdem er seinem Chef am Telefon versprochen hat, bei der Gelegenheit die Briefkastenfirma in Salzburg unter die Lupe zu nehmen. Natürlich hätte man auch die Salzburger Kollegen darauf ansetzen können, aber die Wiener geben ihre Fälle nicht so gern aus der Hand. Seine Frau nötige ihn jedes Jahr nach Salzburg zu den Festspielen, obwohl er sich in Opern zu Tode langweile und den blöden Jedermann nun wirklich nicht mehr sehen könne, fügte sein Chef dann noch an und seufzte tief. Sei halt so eine Art Kulturdiktatur, und die Gattin eine willfährige Henkerin. Martins rechten Haken hat Gregor längst vergessen, sie spielen sogar wieder Tennis miteinander. Genau genommen war eh Larissa an allem schuld, Martins Exfrau, die die verfängliche Situation provoziert hatte, in der Martin ausgerastet war.
Also Handystille bis Salzburg, das wird er überstehen, und dann sofort Romana anrufen, die sicher am Boden zerstört ist nach Flocks Tod. In letzter Zeit waren die beiden sich wieder nähergekommen, das hat sie Martin jedenfalls erzählt. Aber Romanas Geschichten sind immer mit Vorsicht zu genießen, das weiß er inzwischen. Sie ist eine lustvolle Lügnerin, oder zumindest neigt sie dazu, die Wahrheit zu biegen, bis sie ganz nach ihrem Gusto ist. Trotzdem mag er sie, und wenn’s drauf ankommt, so glaubt er, kann man sich auf Romana vollkommen verlassen. Und das ist mehr, als er von den meisten Menschen in seiner Umgebung behaupten würde. Ausgenommen seine Mutter, Studienfreund Robert aus Graz, Fassl natürlich … ja, und dann hört es schon auf. Die Frauen in seinem Leben waren nie lang genug an seiner Seite, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Abgesehen von Larissa, aber Ehen, die den Bach runtergehen, haben spätestens dann mit dem Gefühl von Sicherheit und Vertrauen verdammt wenig zu tun.
Mit seiner Mutter hat Martin zuletzt telefoniert, sie erreichte ihn noch auf seinem Handy, bevor der Akku leer war. Erst kamen die üblichen Fragen, wie er sie von ihr kennt, bevor er ihr erzählte, dass er nachmittags nach Salzburg fahren und eine Woche bleiben würde. Worauf Lotte ihn fragte, ob er ihr einen Gefallen tun könne. Eine Einleitung, die Martin hasst, denn was soll man darauf schon antworten? »Kommt drauf an«, sagt er dann immer. Aber es war gar nichts Weltbewegendes, Lotte braucht nur ein Medikament zur Blutdrucksenkung, das sie in Wien nicht bekommt: Listaprin forte, es sei vergriffen, und was anderes wolle sie nicht einnehmen, weil sie genau dieses Mittel so gut vertrage. Martin könne doch in Salzburger Apotheken danach schauen …
Martin versprach es ihr. Und auch, dass er sich melden würde. Sie wünschte ihm eine gute Reise und sagte, sie lasse Franz grüßen, der sei über den Liebeskummer doch hoffentlich hinweg. Froh könne der sein, dass die blöde Gurkn rechtzeitig verschwunden sei. Die sei ohnehin viel zu hübsch für ihn gewesen, man halte sich besser an die Gewöhnlichen mit dem hübschen Charakter. Und ganz am Schluss die altbekannten Mutterworte: »Und wie schaut’s bei dir so aus? Es wird langsam Zeit, mein Lieber, wenn du mich zur Oma machen willst!« Martin legte kommentarlos auf.
Und jetzt singt er lauthals und falsch Live is Life mit, diesen alten Ohrwurm von Opus, und die Blechlawine, sie bewegt sich doch … Vier Stunden von Wien nach Salzburg ist ein neuer Rekord, auf den er verzichten könnte.
***
Nach einigem Suchen hat er das Dreifamilienhaus in einer Seitenstraße in Maxglan gefunden. Franz öffnet sofort, als Martin klingelt. Möglich, dass der bei Fassls Anblick erschrocken aussieht: Der Freund hat wieder zugenommen, bestimmt fünf Kilo, denkt Martin, und dann umarmen sie sich, und Franz zieht Martin in die Zweizimmerwohnung mit Wohnküche, Bad und extra Toilette, sogar einen Balkon zum Garten hin gibt es, alles möbliert gemietet, nicht übermäßig elegant, dafür aber sehr gemütlich. Ein Duft von Gebratenem und Koriander, der aus der Küche kommt, durchzieht die Räume. »Salzburger Bierfleisch«, sagt Fassl stolz. Er habe seit seinem Umzug aus Wien ein neues Hobby entdeckt: Kochen.
Man siehtʼs, denkt Martin, sagt aber nichts, sondern lobt die Wohnung in den höchsten Tönen, holt sein Ladekabel aus dem Koffer, findet eine Steckdose und schließt sein Telefon an.
»Ich hab mich schon gewundert, dass ich dich nicht erreicht hab«, sagt Franz.
Auf der Liste verpasster Anrufe taucht Romana viermal auf.
Fassl zeigt Martin, wo er seinen Kofferinhalt deponieren kann, und nimmt das Gastgeschenk, eine Flasche Whisky, in Empfang. Dann muss er in die Küche, sein Bierfleisch umrühren, es riecht herrlich, und Martin spürt, dass er Hunger hat.
»Noch eine Viertelstunde, dann ist es fertig.« Franz holt zwei Stiegl-Bierflaschen aus dem Kühlschrank, und sie setzen sich an den Küchentisch. »Prost, Franz.«
»Prost, Martin.«
Es ist wie in alten Zeiten in Wien, und Martin fragt vorsichtig: »Geht’s dir gut, hast dich schon eingewöhnt?«
Kurzes Schweigen. Franz trinkt erst einmal, dann stellt er seine Flasche ab. »Na ja, so einigermaßen. Wenn ich gewusst hätt, dass sie dich zurück nach Wien lassen, wär ich vielleicht geblieben, weißt du. Die Salzburger sind schon anders drauf.«
»Wie denn?«
Achselzucken. »Freundlicher als die Wiener, aber irgendwie anders. Ihre pauschale Touristennettigkeit kann einen ganz schön anzipfen,«
»Vielleicht nerven dich nur die Touristen, Franz. Wie sind denn die Kollegen so?«
»Nett«, sagt Franz. »Besonders meine Vorgesetzte. Aber die hat so einen Fitnesswahn: Skifahren, Langlaufen, Bergsteigen, Joggen … Dauernd liegt sie mir in den Ohren, dass ich beim Polizeisportverein mitmachen soll.«
»Schaden könnt’s nicht.« Martins Blick wandert zu Fassls Bauch, der in Wien fast gänzlich verschwunden war.
»Jetzt fang du nicht auch noch an.« Franz rührt kurz in seinem Bierfleisch und verrät auch gleich sein Rezept: geschmortes Rindfleisch mit Zwiebeln und Bier und Schwarzbrotstücken, Koriander, Wacholder und Kümmel. Er setzt sich wieder zu Martin. »Ich glaub nicht, dass ich ein glücklicherer Mensch war, als ich zehn Kilo weniger hatte. Sie hat mich trotzdem abserviert. Aber ehrlich gesagt hab ich eh nie ganz glauben können, dass wir zwei zusammengehören. Ich war einfach nicht gut genug für sie. Und weil sie das nicht sagen konnte, meinte sie halt, ich sei ›zu nett‹. Gut, ich habʼs kapiert. Aber jetzt tue ich das, was mich halt auch glücklich macht: Essen. Kochen. Bier trinken. Im Fernsehen Fußball schauen. In Action-Filme gehen, die so blöd sind, dass sie mich von meinem Kummer ablenken. Verstehst?«
Martin ist klar, was seinen Freund bewegt. »Vielleicht haben wir zwei einfach kein Glück bei Frauen. Vielleicht sollten wir beide heiraten?«
Fassl beginnt zu lachen, und Martin denkt, wie schade, dass Franz keine Frau ist, das könnte echt hinhauen …
»Du, ich muss die Romana anrufen. Hast ja sicher in den Nachrichten gehört, dass der Flock gestorben ist.«
Fassl steht schon wieder am Herd. »Man redet hier von nichts anderem. Die Jedermann-Premiere und der Flock. Vom Leben und Sterben des reichen Mannes. Eine seltsame Parallele, findest nicht?«
Martin wählt Romanas Handynummer, und sie antwortet sofort. »Martin! Endlich! Weißt du, wie oft ich dich schon angerufen habe?«
Hunderte Male, denkt Martin und entschuldigt sich mit der Lüge eines verlorenen Ladegeräts. Aber jetzt sei alles wieder in Ordnung, und er sei in Salzburg zu Besuch bei Fassl und …
»Geh bitte!«, sagt Romana. »Warum sagst das nicht gleich?! Ich bin auch in Salzburg, natürlich, weil ich mit dem Hugo bei der Jedermann-Premiere war. Stell dir vor, ich saß neben ihm! Es ist alles so furchtbar! Du musst sofort herkommen!«
Ihre Stimme klang selten derart hysterisch. Martin holt tief Luft: »Du, ich bin grade beim Franz angekommen, und er hat was gekocht und … Hat das nicht bis morgen Zeit?«
»Nein, hat es nicht, Martin! Der Hugo ist ermordet worden, und du musst mir helfen! Bitte! Hab ich dich jemals um was gebeten?«
Oh ja, denkt Martin, sehr oft sogar. »Gut, ich komme, aber heute nur kurz, sonst ist mein Gastgeber böse, verstehst? Wir haben uns seit Wien nicht mehr gesehen, der Franz und ich.«
Es interessiert sie überhaupt nicht. Romana nennt ihm ihre Adresse in der Franz-Joseph-Straße, Ecke Schrannengasse, und fügt noch hinzu, dass er sich beeilen soll.
Franz ist sauer, und Martin verspricht, ganz schnell wiederzukommen. Gibt die Adresse in sein Handy ein und ist relativ schnell da, nur findet er keinen Parkplatz und lässt den Wagen schließlich im Parkverbot stehen.
***
Das Haus ist alt und prächtig, und in der Beletage öffnet ihm Romana die Tür zu einer Sieben-Zimmer-Altbauwohnung. Sie wirkt klein und verloren darin, ihre Augen sind verweint, und die Haare sind nicht so perfekt, wie er es kennt. Zum ersten Mal sieht Romana aus wie eine über Siebzigjährige. Er drückt sie an sich, und Romana löst sich schließlich von ihm.
»Danke, dass du gekommen bist, Martin. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich noch tun soll. Heute war ich bei der Polizei, die haben mich als Zeugin vernommen, so ein junges Bürscherl, weißt du, frisch von der Uni und so was von präpotent. Ich hab es schon am Premierenabend gesagt, und ich hab es ihm gegenüber wiederholt: Hugo ist nicht an Herzversagen gestorben, hundertprozentig nicht. Der war doch noch am Freitag zu einer Privataudienz bei seinem Kardiologen, um den Herzschrittmacher checken zu lassen. Und alles war völlig in Ordnung. Und dann geht er einen Tag später zum Jedermann und bricht tot zusammen?! Das ist ja wohl eine Farce. Wer glaubt denn so was!«
Sie stehen immer noch im Flur, der mehr einem Empfangssaal gleicht. Barocke Möbel, Kristalllüster, er muss Romana nicht fragen, wem die Wohnung gehört: Hugo Flock. »Jetzt beruhige dich erst einmal, sollen wir uns hinsetzen?«
Sie geht voraus ins Wohnzimmer, riesig, Barock und falsches Rokoko, bestechend ungemütlich.
»Magst was trinken?«
Martin schüttelt den Kopf. Romana schenkt sich ein gewaltiges Glas Hennessy ein und nimmt einen kräftigen Schluck. »Es ist meine Schuld. Irgendwie ist es meine Schuld. Weil Hugo diesen Jedermann nicht leiden kann und gar nicht hinwollte. Und dann ist er während der Vorstellung ein paarmal eingenickt, und ich hab ihn geschubst. Auch gegen Ende, aber da hat er nicht reagiert, und ich dachte mir, der wacht sowieso vom Applaus auf, und dann, als das nicht geschah, hab ich ihn nochmals geschubst, und dann fiel er nach vorn und auf den Boden … Oh Gott, Martin, Hugo ist tot! Und er hat mir vor der Premiere noch einen Heiratsantrag gemacht, stell dir vor!«
Er war doch noch verheiratet, denkt Martin, sagt aber lieber nichts.
Sie liest Gedanken: »Er wollte sich scheiden lassen, war sogar schon beim Anwalt. Diese Schlampe hat ihn nach Strich und Faden betrogen, und er wollte endlich seinen Frieden – und mich. Und dann stirbt er mir weg … quasi unter den Händen. Das war kein Zufall, das war Mord! Und die Trottel von der Polizei glauben mir nicht. Du musst was tun, Martin. Du bist der Einzige, der mir helfen kann!«
Oh, wie er seinen Entschluss bereut, nach Salzburg gefahren zu sein! Martin holt tief Luft, bevor er sagt: »Ich kann hier nichts machen, Romana. Dafür sind nun mal die Salzburger Kollegen zuständig. Und wenn ich das richtig verstanden habe, wird Flocks Leiche obduziert. Falls irgendwas nicht koscher war, wird die Leiche das verraten.«
Romana ist unbeeindruckt. »Du bist doch privat hier, da kannst du doch undercover ermitteln. Und außerdem deinen Freund bespitzeln, den …«
»Fassl. Franz Fassbinder. Ja, ich kann ihn fragen, ob er irgendwie in den Fall involviert ist. Das kann ich für dich tun, Romana. Aber ich muss mich hier auch noch um eine andere Sache kümmern, eine obskure Briefkastenfirma zum Beispiel. Also … warten wir doch erst einmal das Ergebnis der Obduktion ab, dann sehen wir weiter.«
Sie sieht ihn vorwurfsvoll an. »Also wirklich, von dir hab ich mir mehr Hilfe erwartet. Aber gut, warten wir ab, was bei der Obduktion rauskommt. Wahrscheinlich hat ihn die Schlampe vergiftet, sie war schließlich Krankenschwester, die kennt sich mit so was aus.«
Romana leert ihr Glas. »Kannst du nicht hierbleiben über Nacht? Wir haben drei Gästezimmer. Ich fürcht mich vorm Alleinsein, Martin.«
Er schwankt. Sie hat ihn schon immer mit dieser Masche eingefangen: Du bist mein Ritter in glänzender Gestalt. Nein, diesmal nicht! »Du, ich bleib noch ein paar Minuten und trink einen kleinen Cognac mit dir, dann muss ich aber wirklich zurück. Der Franz hat extra für mich gekocht, und das wäre sonst grob unhöflich von mir. Wir können uns morgen sehen, Romana, vielleicht zum Mittagessen?«
»Ich bring nichts runter«, sagt Romana und wischt sich eine imaginäre Träne aus dem Augenwinkel. »Ich kann nur trinken.«
Sie schenkt Martin ein Glas ein, das er sicher nicht leeren wird.
»Wir waren so glücklich, weißt du, der Hugo und ich. Das letzte Glück, das schätzt man viel höher als alles vorher. Natürlich war er alt, aber so gesund, wie es halt geht in seinem Alter. Wir haben wirklich noch an ein paar wunderbare Jahre geglaubt, der Hugo und ich. Ich dachte, dass wir ganz bescheiden am Wörthersee heiraten könnten. In seiner neuen Villa. Hochzeitsessen von Didi Dorner. Und die Bleiburger Big Band …«
Jetzt weint sie. Martin nimmt einen winzigen Schluck, der teuer durch seine Kehle läuft. Er schiebt ihr den perlenverzierten Behälter für die Taschentücher hin, sie nimmt eines und schnäuzt sich geräuschvoll. »Ach, Martin, ich hab wirklich kein Glück im Leben.«
Du hast mich, könnte er sagen, tut es aber nicht. »Hast du Schlaftabletten? Damit du zur Ruhe kommst?«
Sie zeigt auf die Cognacflasche. »Das tut’s auch. Mach dir keine Sorgen, ich bin ein zähes altes Luder. Was sagst du denn zu der Wohnung?«
Er würde jetzt gerne lachen, unterdrückt den Impuls aber: »Pompös. Ein bisserl groß, meinst du nicht? Übrigens, Fassl lässt grüßen, Lotte auch. Es geht ihr gut.«
Romana seufzt. »Die gute alte Lotte. Und wie geht es deiner Ex Larissa?«
Es interessiert sie gar nicht, denkt Martin, sie will ihn nur aufhalten. »Du, der geht es blendend, sie hat vor Kurzem ihren Banker geheiratet und war in den Flitterwochen auf den Seychellen. Wir sehen uns kaum noch, leben ja auch in getrennten Welten.«
»Sie hat nie zu dir gepasst«, sagt Romana. »Wie diese Lily. Ist die immer noch bei ihrem windigen Italiener?«
Martin nickt. Ein kurzer, kaum wahrnehmbarer Stich in der Region, in der sein Herz zu vermuten ist.
»Die verdient dich nicht, vergiss sie.« Romana leert ihr Glas in erschreckender Schnelle und schenkt nach. Sie hat seinen Blick bemerkt. »Keine Angst. Ich bin keine Alkoholikerin, Martin, höchstens spielsüchtig. Das hab ich dem Hugo versprechen müssen, dass ich nicht mehr ins Casino geh. Daran kannst du sehen, wie sehr ich ihn geliebt hab.«
Oder belogen, denkt Martin und schämt sich gleich dafür. Vielleicht war Flock ja wirklich Romanas große Liebe, und all das hatte nichts mit Geld zu tun. »Ich hab dir noch nicht einmal mein Beileid ausgesprochen, Romana, aber es ist ja auch so eine furchtbare Phrase …«
»… auf die ich verzichten kann. Finde lieber seinen Mörder – oder besser gesagt, seine Mörderin!«
Er schweigt, sieht auf seine Uhr, und sie sagt: »Du musst ja los, geh nur. Und ich denk an meine Hochzeit, die nicht mehr stattfinden wird …«
»Soll ich warten, bis du im Schlafzimmer bist?«
Romana sieht ihn an. »Ach Martin, du bist der Beste – nach Hugo natürlich. Schad, dass ich schon so alt bin. Ich geh jetzt ins Schlafzimmer zu dem Riesenbett. Wenn ich liege, rufe ich ›Gute Nacht‹, und du kannst gehen. Zieh einfach die Tür hinter dir zu. Ich schalt die Alarmanlage dann mit der Fernbedienung ein. Weißt ja, wie paranoid Hugo war.«
Romana stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst Martin auf die Wange, dann durchquert sie langsam und vorsichtig den riesigen Raum und verschwindet hinter einer Tür.
Er schaut ihr nach und wartet auf ihr »Gute Nacht«, das sehr leise im Wohnzimmer ankommt. Dann geht er zur Tür und zieht sie sanft hinter sich zu. Denkt, sie wird sich nichts antun. Sie ist zwar eine zerbrechliche Narzisstin, aber zugleich wirklich auch ein zähes altes Luder. So oder so, er hat sie gern.
***
»Wer würde den Flock denn während einer Theaterpremiere umbringen? Und vor allen Dingen, wie?«
Franz ist nicht mehr bös, jetzt, da sie am Tisch sitzen und satt und zufrieden sind. Er kennt Romana aus Wien und Martins Erzählungen, und nein, er ist dem Fall nicht zugeteilt worden, wenn’s überhaupt einer ist. Fassl ist überzeugt, dass die Obduktion »Tod durch Herzversagen« als Ergebnis bringt, und den Einwand mit dem gerade erst gecheckten Herzschrittmacher wischt er vom Tisch. Aber er wird sich umhören bei den Kollegen, die sind ja prinzipiell alle hilfsbereit, obwohl er ein Wiener ist. Weil die Salzburger sich den Hauptstädtern sowieso ebenbürtig fühlen, so nach dem Motto »kleiner, aber feiner«, und der Mozart mag ja in Wien gelebt und auf seine Geburtsstadt und den Erzbischof »geschissen haben«, wie es überliefert ist; doch in der Getreidegasse steht sein Geburtshaus, und Salzburg feiert Mozart so ausgiebig, wie Wien es niemals fertigbringen würde.
»Sag, haben sie dich schon eingebürgert?«, fragt Martin schließlich. Den Kaffee lehnt er ab, seit ein paar Jahren schläft er danach schlechter, jawohl, eine Alterserscheinung.
Die Frage verneint Franz heftig, er sei nun einmal hier und müsse sich arrangieren. Dann folgt die Liste seiner Lieblingsbeisln, die er Martin noch zeigen will, allen voran das historische Augustiner Bräu, gefolgt vom Gablerbräu in der Linzergasse bis zum Alten Fuchs ebendort. »Und was willst sonst noch sehen?«
Martin hasst es, auf Touristenpfaden zu trampeln. Der Dom, okay, den wird er sich anschauen, zusammen mit ein paar Hundert anderen Besuchern. Und einmal durch die Altstadt schlendern, wenn das überhaupt möglich ist zu Festspielzeiten. Aber erst einmal sei er mit den Testosteron-Fällen und der Briefkastenfirma beschäftigt. Und mit Romana natürlich, also nicht viel Zeit für Besichtigungen.
Franz scheint enttäuscht, dass er Martin nicht »sein Salzburg« zeigen soll, obwohl, na ja, die meiste Zeit muss er eh arbeiten. Dafür können sie abends was unternehmen, sagt Fassl. Und für Samstag habe er tatsächlich noch zwei Festspielkarten organisiert. Reines Glück, er hat sie einem Kollegen abgekauft, der mit einem Festspiel-Obermufti verwandt ist.
Dieses erwartungsvolle Gesicht. Martin gibt sich Mühe, begeistert auszuschauen. Hofft inständig, dass es keine Oper ist, zumindest keine lange.
»Die Mutter aller Operetten, Martin: Orpheus in der Unterwelt von Jacques Offenbach, inszeniert von Barrie Kosky. Soll der Hammer sein, was meinst, wie die Leut sich um die Karten raufen.«
»Ich bin beeindruckt«, sagt Martin. Eine Operette. Das wird er überstehen. Schon die Ex hatte sich über sein mangelndes Kultur-Gen aufgeregt. Jazz, das ist Subkultur, irgendwie immer noch. »Was schuld ich dir für die Karte?«
Franz schüttelt den Kopf. »Sei nicht blöd, das ist ein Geschenk. Für die vielen Abende und Nächte, in denen du meinem Liebesgejammer ausgesetzt warst. Es hat geholfen, weißt du, und ich bin schon auf dem Weg der Besserung. Letzte Woche hab ich sogar eine angesprochen im Café Bazar und sie gefragt, ob an ihrem Tisch noch Platz ist. Und sie hat Ja gesagt.«
Martin klopft ihm auf die Schulter. »Gut gemacht, Franz! Wirst sehen, in einem halben Jahr lachst du drüber.«
»So wie du über die Sache mit Lily?«
Sekundenpause. »So ungefähr.«
»Habt ihr denn noch Kontakt?«
Martin verneint. »Ich hoffe, dass es ihr gut geht, ehrlich. Können wir jetzt aufhören, über Frauen zu reden?«
Um zwei Uhr morgens räumen sie die Küche auf und verwandeln die Couch in ein Bett. Wünschen einander eine gute Nacht. Eng ist es schon in der Wohnung, aber bei besten Freunden geht das. Martin muss Fassls Schnarchgeräuschen nicht lange lauschen. Er träumt von Lily, die erst Flock erschießt und dann die Waffe auf ihn richtet. Doch daran kann er sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern.