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Kapitel 4

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„Wie? 1994 bis 1996 Sagen Sie? Da können Sie lange im Internet suchen. Es tut mir leid, junge Frau, aber die Artikel aus dieser Zeit sind bei uns noch nicht elektronisch erfasst. Diese Art der Archivierung gibt es in unserer Redaktion erst seit … warten Sie mal … seit dem Jahr 2000, glaube ich. Damals …“

„Das bedeutet, Sie können mir nicht weiterhelfen?“

„Nein, nein. Nicht so hastig, junge Frau.“ Der Redakteur des Trierischer Volksfreund durchmaß mit großen Schritten das langgezogene schmale Büro der Zeitungsfiliale in der Hermeskeiler Innenstadt. Maggie sah ihm nach, doch ihre Gedanken kannten nur ein Ziel: die Presseberichte aus jenen Tagen, als ihr Vater zu Tode kam.

Redakteur Steiner, ein schlanker Mann in den Dreißigern –seine blonden Haare waren kurz geschnitten bis auf eine Strähne an der linken Seite, die er aus dem Mundwinkel ständig aus seinen Augen blies- kam zurück und hielt eine Visitenkarte in der Hand.

„Sie müssen nach Trier in die Zentrale. Dort sind alle Artikel seit Bestehen unserer Zeitung abgelegt. Man wird Ihnen zeigen, wie Sie sich im Archiv zurechtfinden können. Hier, nehmen Sie. Dieser Kollege …“, der Redakteur schaute auf die Visitenkarte, als sei ihm der Name des dort Aufgeführten völlig fremd. „Dieser Kollege, Klaus Krämer heißt er, wird Ihnen weiterhelfen. Aber die Suche ist nicht umsonst.“ Der Redakteur kicherte. „Wäre sie umsonst, könnte man sie ja im Internet durchführen. Aber, keine Sorge, sehr teuer ist es nicht.“

Maggie nahm die Karte an sich und sah in das blasse Gesicht des Redakteurs, der sich kurz über einen nicht vorhandenen Kinnbart strich und auf etwas zu warten schien.

„Danke“, sagte sie und irgendwie fühlte sie tatsächlich so etwas wie Dankbarkeit. Ihre Suche hatte begonnen. Hier an dieser Stelle, in diesem Büro der Redaktionsfiliale. Sie würde nicht rasten, bis sie die Männer gefunden hatte, die ihr Leben und das ihrer Familie zerstört hatten.

„Danke“, sagte sie noch einmal. Der Redakteur lächelte und beugte sich leicht nach vorne, wobei ihm die Strähne seines dunkelblonden Haares über das rechte Auge fiel. „Suchen Sie etwas Bestimmtes, Frau …?“, fragte er und blies die Strähne aus seinem Sichtfeld.

„Meg“, sagte die junge Frau freundlich. „Nennen Sie mich Meg.“

„Steiner. Albert Steiner. Entschuldigen Sie ... Meg. Es geht mich nichts an, tut mir leid. Wenn ich Ihnen wieder einmal behilflich sein kann, ich stehe stets zu Diensten.“

Sie lächelte. Der Mann war ihr irgendwie sympathisch. Sie nickte. Vielleicht würde sie darauf zurückkommen. Sie würde seine Hilfe in Anspruch nehmen, sollte es einmal erforderlich sein.

Ihr nächster Weg führte sie zu einem kleinen Gebrauchtwagenhandel, wo sie nach kurzem Feilschen einen kleinen ockerfarbenen Fiat Cinquecento erstand.

„Wir werden ihn gleich zulassen“, sagte der Verkäufer beflissentlich. „Kommen Sie in einer Stunde wieder.“

Maggie nutzte die Zeit für einen Stadtbummel. Sie schlenderte durch ein Kaufhaus, kaufte dies und das, etwas Wäsche und Toilettenartikel, eine neue Handtasche. In der Sportabteilung fiel ihr Blick auf ein in Reih und Glied aufgestelltes Sortiment von Baseballschlägern. Sie spürte, wie sich ihr Herz verkrampfte und sie schloss die Augen.

Wie durch einen Schleier sah sie ihren Vater auf dem Boden des Wohnzimmers liegen, den Kopf in einer großen Blutlache. Sie sah das Gesicht des Schlägers, der nach der Tat zufrieden mit dem Schläger in seine Handfläche schlug. Sie sah die flehenden Blicke ihrer Mutter, die auf sie gerichtet waren und ihre Gedanken beeinflussten.

Maggie wollte den Blick von den Baseballschlägern abwenden, doch sie fühlte sich magisch zu ihnen hingezogen. Ihre Hand streckte sich aus und ergriff den, der ihr vom Material her das wenigste Gewicht zu haben schien. Sie versuchte ihn mit der rechten Hand am Schaft festzuhalten und mit der Keule in ihre linke Handfläche zu schlagen. Doch ihr fehlte dazu die Kraft, zu schwer war er für die Handhabung einer einzelnen weiblichen Hand. Dann fasste sie den Schläger mit beiden Händen und hob ihn über den Kopf und wunderte sich, wie problemlos ihr dies gelang. Ihre Augen verengten sich.

„Ihr werdet büßen“, flüsterte sie. „Alle werden ihr bezahlen für das, was ihr uns angetan habt.“

Zwei Stunden später parkte Maggie ihren kleinen Fiat vor der Bibliothek des Trierer Priesterseminars. Beim Volksfreund hatte man ihr nicht weiterhelfen können. „Es tut mir sehr leid, junge Dame“, hatte ein höflicher Redakteur ihrer Hoffnung vorerst einen Strich durch die Rechnung gemacht. „In den Neunzigern wurde hier noch nichts elektronisch erfasst. Wir haben zwar Bände klassisch auf Papier und gebunden im Hause, Die sind aber leider nur zur internen Nutzung.“

Doch der Redakteur hatte ihr den Rat gegeben, in der Bibliothek des Priesterseminars ihr Glück zu versuchen.

„Ich stand vor etlichen Jahren für meine Magisterarbeit vor einem ähnlichen Problem und habe mich einige Wochen in der Bibliothek des Priesterseminars vergraben“, verriet er. „Dort kann man alte Bände mit gesammelten Zeitungsausgaben über Jahrzehnte hinweg öffentlich einsehen.“

Dankbar hatte Maggie das Verlagshaus verlassen und nun wartete sie auf den Geistlichen in dunkelgrauem Anzug, der sie gebeten hatte, sich einen Moment zu gedulden.

Während sie ihre Handtasche mit der rechten Hand an ihren Körper drückte, sah sie sich in dem geräumigen Raum um. Ein Lesesaal für die Studenten, dachte sie. Eine Bibliothek. Ihr Blick glitt über die hohen Einbauschränke, die den Raum mächtiger erscheinen ließen, über die darin angeordneten Bücher und über überdimensionale Gebinde. Sie überlegte, ob sich darin die Zeitungen befänden, auf deren Suche sie war.

Sie sah dem Geistlichen nach, der sich ihrer angenommen hatte. Doch ihn schienen die Exemplare, die Maggie ins Auge gefasst hatte, nicht zu interessieren.

„Die Jahre 1994 bis 1996“, hatte ihm Maggie gesagt. „Ich möchte mir die Zeitungsberichte aus diesem Zeitraum ansehen. Es geht um eine Ermittlungssache, einen Strafprozess. Sie wissen ja, die Gerichte. So was kann sich über Jahre hinziehen.“

Der Geistliche nickte nachdenklich und zustimmend. „Ich werde Ihnen die Jahre raussuchen.“

Der in Grau Gekleidete war groß und schlank. Maggie beobachtete ihn, wie er an der gegenüberliegenden Wand aus einem Fach über sich mehrere übergroße Gebinde herausnahm, ohne eine Leiter benutzen zu müssen. Wenn sie jemand nach dem Alter des Mannes gefragt hätte, sie hätte kaum eine Antwort geben können. Irgendwie sah er jugendlich aus, von seiner Statur zumindest. Aus der Nähe betrachtet wurden die Zeichnungen des Lebens präsenter. Zwischen 40 und 60 schätzte sie das Alter des Geistlichen ein. Sie schüttelte kurz den Kopf. Unsinn. Was sollte sie sich mit dem Alter eines Priesters befassen, der vielleicht jünger aussah, als er es war.

Der Geistliche hatte zwei der Gebinde, bei denen es sich offensichtlich um Tageszeitungen handelte, auf einem kleinen Transportwagen mit Rollen abgelegt. Die restlichen stemmte er nacheinander wieder in ihre ursprüngliche Position, einen Meter über seinem Kopf. Dann kam er zu Maggie herüber.

„Trierischer Volksfreund. Die Jahre 1994 bis 1996.“

Er schob den Wagen neben den Tisch und legte eines der beiden Exemplare vor sie ab. „Wenn Sie mich brauchen, Sie finden mich dort hinten an meinem Schreibtisch.“

Maggie sah dankbar zu dem Geistlichen auf und nickte.

„Danke“, sagte sie und schlug das Buch mit der Bezeichnung Trierischer Volksfreund, Sammlung des Jahres 1993 auf.

Die eichenholzumrahmte Uhr über der Eingangstür zeigte 13:45 Uhr an. Maggie sah sich um. Außer ihr und dem Geistlichen befanden sich nur wenige Leser im Raum. Sie schlug das Buch auf. Dann vergaß sie die Zeit. Gegen 17 Uhr verließ sie das Priesterseminar. In ihrer Handtasche befand sich nun neben ihrer kleinen Pistole ein Bündel von Fotokopien, die ihr der Geistliche für wenige Euro gefertigt hatte.

Ihr Gesicht war blass und ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Entschlossenes. Sie machte sich auf den Weg zurück nach Hermeskeil. Auf den Weg in die Vergangenheit. Dorthin, wo vor 18 Jahren das Unheil seinen Lauf genommen hatte.

Der Weg des Bösen

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