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Kapitel 9

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Es war am späten Nachmittag, als Leni in Hermeskeil eintraf. Ihr erster Weg führte sie zur Dienststelle der Polizeiinspektion, wo sie um Unterstützung bat. Der Zufall wollte es, dass Gehweiler Dienst hatte und sich bereit erklärte, Leni zu begleiten.

„Lass uns als Erstes noch einmal zu dem Haus, dem Tatort, fahren“, sagte Leni. Gehweiler trat das Gaspedal durch und kurz darauf hielt der Wagen vor dem gespenstisch anmutenden Anwesen.

„Konntest du die letzten Bewohner dieses Hauses ermitteln?“, fragte Leni und Gehweiler nickte. Es war für ihn kein Problem gewesen. Eine Nachfrage beim Einwohnermeldeamt und er hatte alle Eigentümer des Hauses bis zu den Erbauern vor rund 30 Jahren.

„Es ist eine traurige Geschichte.“

„Was meinst du?“, fragte Leni irritiert.

„Die Geschichte dieses Hauses. Sehr traurig. Du erinnerst dich, dass ich dir von einem Mord erzählte. Von einem Mord in diesem Haus?“ Gehweiler griff hinter sich und als er sich wieder umdrehte, hielt er eine schmale Aktenmappe in seiner Hand.

„Du hast die Unterlagen dabei? Erzähl` mir Näheres davon.“

„Ich kann mich noch genau daran erinnern, weil es die erste schwere Tat war, die ich hier in Hermeskeil erlebte. Ich hatte meinen Dienst erst wenige Tage vorher angetreten. Die Gräueltat hatte das ganze Städtchen in Aufruhr gebracht.“

Leni sah Gehweiler erwartungsvoll und ungeduldig zugleich an. Doch sie schwieg, wollte den Beginn der Geschichte nicht weiter hinauszögern.

„Es sah alles nach einem geplanten Überfall aus. Vier maskierte und bewaffnete Männer stürmten das Haus.“

„Ein Raubüberfall?“

„Nein, oder besser gesagt, man weiß bis heute nicht so genau, ob ein Raub geplant war. Es wurde nichts gestohlen. Der Hauseigentümer wurde mit einem Baseballschläger erschlagen und seine Ehefrau von den Verbrechern vergewaltigt.“

Leni zuckte zusammen.

„Der Mord erfolgte mit einem Baseballschläger?“

Gehweiler nickte. „Die Täter wurden gefasst.“

Leni blickte auf das Haus und versuchte sich vorzustellen, wie das damals wohl gewesen war. Ein einsam gelegenes Haus. Es lud geradezu zum Einbrechen ein. Leni schaute in Richtung der Stadt. Sie konnte gerade mal die ersten Häuser im Tal erkennen. Ein Rufen oder aber vielleicht sogar einen Schuss würde man dort sicherlich kaum gehört haben.

„Die beiden hatten eine 12-jährige Tochter“, fuhr Gehweiler fort. „Man hat sie am Tatort nicht finden können und vermutete schon das Schlimmste.“

Leni sah Gehweiler fragend an. „Sie hat sich im Haus versteckt, irgendwo? Auf dem Speicher, im Keller oder im Schrank?“

„Nein. Wie sich später herausstellte ist sie durch ein Fenster an der Hinterseite des Hauses geflüchtet und zum nächstgelegenen Anwesen gelaufen.“

„Was ihr offensichtlich das Leben gerettet hat.“

Gehweiler nickte. „Ja, das dürfte ihr das Leben gerettet haben.“

„Was ist mit der Mutter, mit der Tochter geschehen?“

„Die Tochter -ich glaube ihr Name war Maggie- wurde von der Familie, bei der sie in der betreffenden Nacht Zuflucht gesucht hatte, als Pflegekind aufgenommen. Irgendwann ist dann die ganze Familie nach Amerika ausgewandert. Die inzwischen volljährige Maggie haben sie mitgenommen.“

„Aber diese Maggie hat doch eine Mutter gehabt. Ich verstehe nicht. Warum ist das Kind nicht bei ihrer Mutter geblieben?“

Gehweiler nickte schwer mit dem Kopf.

„Die Mutter hat den Tod ihres Mannes und die Schmach an ihr nie verwinden können. Man musste sie in eine Nervenheilanstalt einweisen. Als sie kurz nach dem 18. Geburtstag ihrer Tochter entlassen wurde, hat sie sich das Leben genommen.“

Gehweiler zeigte auf das Haus.

„An der Rückseite des Anwesens gibt es einen Schuppen. Dort hat man sie gefunden. Erhängt.“

Leni zeigte auf die Akten in der Hand Gehweilers.

„Die Täter? Das Motiv?“

Gehweiler schüttete den Kopf.

„Keiner der vier Täter machte vor Gericht den Mund auf. Nicht einmal ihre Rechtsanwälte konnten über Motive oder Tathergang irgendwelche Angaben machen. So wurden alle vier mit der gleichen Strafe belegt: Lebenslänglich.“

„Und diese Maggie? Hat sie die Täter nicht belastet?“

„Sie hat die Täter nur maskiert gesehen, wie ihre Mutter auch. Keiner der Täter hat die Maske während des Überfalls fallen lassen. Hinzu kam, dass die Tochter noch lange Zeit nach dem Vorfall stark unter Schock stand. Man beließ es somit bei dieser einen Befragung.“

„Und nun sind alle vier wieder auf freiem Fuß“, sinnierte Leni. „Das nennt sich Lebenslänglich. Rund 15 Jahre haben sie abgesessen.“

Gehweiler nickte und deutete mit dem Kopf auf die Stelle, wo der Tote gefunden wurde. Doch er wurde unterbrochen. Lenis Handy läutete. Am anderen Ende war Overbeck.

„Das Ergebnis der Überprüfung des Opfers Dellmann ist da. Wir haben es da mit einem schweren Jungen zu tun.“

„Ich glaube, ich weiß auch warum. Ich stehe mit Kollege Gehweiler gerade vor dem Tatobjekt in Hermeskeil. Er hat die Akten von dem Fall vor 18 Jahren dabei. Das meinst du doch. Dass der Tote einer der Mörderbande war, der den Überfall auf die ehemaligen Bewohner dieses Hauses verübten? Lass uns morgen darüber reden.“

„Du hast dich ja in der Kürze gut informiert, Leni. Das ist gut. Ich fahre jetzt ins Brüderkrankenhaus, zur Obduktion. Wir sehen uns morgen.“

„Mein Kollege Overbeck“, informierte Leni Gehweiler kurz und verstaute ihr Telefon. „Er weiß, wer der Tote ist.“

„Overbeck, hm. Wie heißt er mit Vornamen?“

Leni überging die Frage. „Der Name Dellmann kommt sicherlich auch in deiner Akte vor.“

„Ja, nun sind es nur noch drei. Dellmann war der vierte der Bande.“

„Was glaubst du, Harry, gibt es einen Zusammenhang?“

„Du meinst, ob der Mord an Dellmann etwas mit der Tat vor 18 Jahren zu tun hat? Vielleicht. Was meinst du?“

„Ich weiß nicht. Aber es ist doch seltsam, dass man den Toten gerade hier findet. Dort, wo er sein Verbrechen begangen hat, ist er auch gestorben.“

„Ihr habt den Baseballschläger sichergestellt. Das Tatwerkzeug. Ein Zufall, dass Dellmann mit einem Baseballschläger getötet wurde?“ Gehweiler sah Leni fragend an und knöpfte sich die Uniformjacke auf.

„Es ist heiß heute. Wir bekommen ein Gewitter“, fügte er hinzu. Was meinst du?“

„Ja, ist aber auch kein Wunder. Es ist Sommer.“

Gehweiler schüttelte lächelnd den Kopf.

„Das meine ich nicht. Glaubst du, dass es ein Zufall ist, dass Dellmann mit einem Baseballschläger umgebracht wurde?“

Plötzlich wurde Leni die Situation klar. Gehweiler hatte möglicherweise Recht. Und ob sie da einen Zusammenhang sah. Im Geiste sah Leni den Toten hinter dem Haus auf dem Rücken liegen, das Gesicht zur Unkenntlichkeit deformiert, ein Klumpen blutiges Fleisch mit zerborstenen Knochenteilen. Der Tote war einer von vieren, die gemeinsam eine grausame Tat verübt hatten, den es genauso erwischt hatte wie den, den sie auf dem Gewissen hatten.

„Ewald Kerner, Rainer Balthoff und Franco Romano.“

„Was meinst du?“ Leni war stehengeblieben und schaute zu Gehweiler auf.

„Ich nannte gerade die Namen der Mittäter Dellmanns. Die mit ihm den Mord begingen, die mit ihm in der JVA Trier einsaßen und die mit ihm entlassen wurden.“

„Das sagst du so, als ob sie auch mit ihm sterben würden.“ Leni drehte sich plötzlich um. „Komm`, wir müssen zur Dienststelle. Wenn ich das hier richtig einschätze, haben wir es mit einem Racheakt zu tun. Nach 18 Jahren, Harry. Da hat jemand geradezu auf die Entlassung der Täter gewartet.“

„Du siehst das also genau wie ich. Das könnte der Anfang einer Mordserie sein.“

„Der Beginn eines Rachefeldzuges, ja.“ Lenis Brust hob und senkte sich vor Aufregung. „Wenn wir nichts unternehmen, wird man uns eine weitere Leiche präsentieren. Wir müssen es verhindern.“

„Obwohl es jeder Einzelne verdient hätte“, sagte Gehweiler leise und folgte Leni zu ihrem Wagen.

Bevor sie die Autotür öffnete, drehte sie sich zu Gehweiler um. „Wie auch immer. Wir machen unseren Job, auch wenn es uns manchmal schwerfällt. Was diesen Fall angeht, müssen wir verhindern, dass es weitere Opfer geben wird.“

Der Weg des Bösen

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