Читать книгу Pass doch endlich auf!!! - Hans-Albrecht Zahn - Страница 7
ОглавлениеKAPITEL II
GRUNDLAGEN
2. GRUNDLAGEN
2.1 INTERESSE
(Zentrische und sphärische Aufmerksamkeit)
Interesse ist die Basis der Aufmerksamkeit. Wenn Gleichgültigkeit sich breit macht, verschwindet sie. Wer aufmerksam ist, ist bei sich und gleichzeitig bei der Sache. Es ist ein Wechselspiel zwischen Ich und Umwelt.
Am Anfang der menschlichen Entwicklung bilden Ich und Umwelt noch eine natürliche Einheit. Das kleine Kind ist geistig-seelisch noch mit der Umwelt verschmolzen. Mit der Entwicklung des Ich tritt der Mensch aus dieser natürlichen Verbundenheit heraus. Interesse ist der Ausdruck dafür, dass diese Verbindung zur Umwelt gesucht wird.
Ich unterscheide dabei zwei Aspekte dieses Verbindungsprozesses, nämlich die zentrische und die sphärische Aufmerksamkeit. Im ersten Fall ist das Bewusstsein punktuell auf Einzelheiten zentriert (Analyse), im zweiten Fall wird der Blick auf den gesamten Umkreis (Synthese) gerichtet.
Graphisch könnte dies so dargestellt werden.
Konzentration (zentrische Aufmerksamkeit)
Beim Konzentrieren wird die Aufmerksamkeit im Ich zentriert. Das Ich darf aber die Verbindung zur Umwelt nicht gänzlich verlieren. Bei einer zu starken Abgrenzung verschließt sich das Ich in sich selbst. Im Extremfall führt das zum Egoisten und Narzissten, der nicht in der Lage ist, seine Aufmerksamkeit der Umwelt zuzuwenden.
Gleichzeitig ist ein Prozess der Öffnung nötig. Das selbstbezogene Ich muss sich überschreiten und der Umgebung (sphärischen Aufmerksamkeit) zuwenden. Das Bewusstsein ist auf die Sphäre gerichtet. Es geht nicht darum, sein Ich aufzugeben, sondern es in die Umwelt einzubringen.
Achtsamkeit (sphärische Aufmerksamkeit)
Auch dieser Prozess darf nicht zu einseitig vonstattengehen. Wer sich zu sehr hingibt, kann sich selbst verlieren. Es geht nicht um Selbstaufgabe, sondern um Selbsthingabe.
Im westlichen Kulturraum liegt der Schwerpunkt mehr auf der Zentrierung. Das Ich steht im Vordergrund. Aufmerksamkeit wird mehr im Sinne von Konzentration verstanden. Der Mensch soll sich nicht ablenken lassen, sondern sich ganz einer Sache zuwenden.
Im östlichen Kulturraum geht es eher um eine Zurücknahme des Ich. Das Bewusstsein wird nicht auf eine Sache zentriert, sondern es geht darum, alle Gedanken loszulassen. Achtsamkeitsübungen basieren schwerpunktmäßig auf einem sphärischen Bewusstsein. Es ist ein Impuls der Hingabe. Es kommt darauf an, sich ganz dem hinzugeben, was gerade geschieht.
2.2 WERTE
Die Aufmerksamkeit orientiert sich an dem, was der Betreffende in seinem Leben für sinnvoll hält. Das Sinn und Wertesystem eines Menschen verleiht der Aufmerksamkeit die Richtung.
In den historischen Kulturen gab die Religion diese Werte vor. Heute müssen die Menschen diese mehr in sich selbst entdecken. Das Auffinden der Werte ist eher ein Suchen als ein festes Wissen. Ob etwas gut oder schlecht, wertvoll oder schädlich ist, muss in jeder Situation neu bewertet werden.
Es ist in jedem Menschen ein unbewusstes Wissen vorhanden, das aber erst ins Bewusstsein gehoben werden muss. Mit dem Begriff „Gewissen“ wird darauf hingedeutet, dass es eine solche innere Stimme gibt. Goethe drückt das in seinem Faust mit den Worten aus: „Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst.“ (Goethe, Faust Prolog). Die Aufmerksamkeit richtet sich auf das, worauf einen diese innere Stimme hinweisen will.
2.3 BEWUSSTSEIN
Aufmerksam heißt wach und bewusst für eine Sache zu werden. Etwas, was vorher noch unbewusst war, wird ins Bewusstsein gebracht.
Diesen Standpunkt vertrat schon Sokrates. Er bezeichnet das bewusste Erkennen als „Hebammenkunst“. Die Erkenntnis ist unbewusst da, muss aber ans Licht der Welt geholt werden. Durch Gespräche (sokratische Methode) kann das unbewusste Wissen ins Bewusstsein geholt werden.
In der Psychotherapie (Psychoanalyse) wird auch danach gestrebt, unbewusste Gedanken und Motive ins Bewusstsein zu heben. Eine bewusste Selbstkontrolle über das eigene Seelenleben kann erworben werden. Der Betreffende wird aufmerksam auf Dinge, die er vorher „verschlafen“ (verdrängt) hat.
Im spirituellen Bereich wird vom „Erwachen“ oder „Erleuchtung“ gesprochen, wenn Geistiges bewusst gemacht wird.
Auch in der profanen Erkenntnis geht es darum sich eine Sache bewusst zu machen. Ein Schüler, der das Rechnen verstehen will, muss sich die einzelnen mathematischen Zusammenhänge bewusst machen.
Frei und selbstständig kann nur der handeln, der sich ein „Bewusstsein vom eigenen Bewusstsein“ verschafft. Sobald wir wach sind, sind wir bewusst. So wie in der Kommunikationspsychologie der Satz gilt: Man kann nicht „nicht kommunizieren“, kann für die Bewusstseinspsychologie gesagt werden: Man kann im Wachzustand nicht „nichtbewusst“ sein. Wenn jemand zu einem anderen Menschen sagt: „Denke bitte auf keinen Fall an ein violettes Kamel!“ ist diese Aufforderung nicht zu erfüllen. Das violette Kamel wird auf jedem Fall im Bewusstsein sein. Der Betreffende hat aber die Möglichkeit solche Bewusstseinsinhalte nicht weiter zu pflegen, indem er sein Bewusstsein auf etwas anderes richtet. Die Kunst besteht darin, solche Vorstellungen bewusst in sich leben zu lassen, die der Betreffende für wertvoll hält.
2.4 DER AUFMERKSAMKEITSPROZESS
Niemand kann dauernd aufmerksam sein. Aufmerksamkeit muss ergriffen, aber auch wieder losgelassen werden. Für einen gesunden Aufmerksamkeitsprozesses ist ein Wechsel von Tätig Sein (Wachen) und Ausruhen (Schlafen) nötig. Ein guter Schlaf stärkt die Wachheit und ein waches „Tätig Sein“ stärkt den Schlaf.
Bewusstes und Unbewusstes ergänzen sich gegenseitig. Das Absinken lassen ins Unbewusste ist notwendig, um besser ins Bewusste finden zu können. Wichtige Entscheidungen sollten überschlafen werden. In den russischen Märchen heißt es oft: „Der Morgen ist weiser als der Abend“. Nicht umsonst wird in religiösen und spirituellen Kreisen am Morgen und am Abend eine Gebet oder eine Meditation empfohlen.
Jeder Aufmerksamkeitsprozess verläuft in einem Rhythmus. In der Schule sollten bestimmte Fächer, die mehr im Denken und Vorstellen beheimatet sind, wie Mathematik, Grammatik oder Philosophie abwechseln mit Tätigkeitsfächern, wie Sport, Handarbeit oder Werken.
Auch innerhalb eine Faches gilt es auf einen solchen Rhythmus zu achten. Nach der begrifflichen Darstellung eines Themas ist es sinnvoll praktisch tätig zu werden. Ähnliches gilt für das Gespräch. Wenn jemand eine längere Zeit nur zuhören und aufnehmen konnte, braucht er wieder die Möglichkeit selbst aktiv zu werden und sich zu äußern.
Das Gesetz von wacher Anspannen und Loslassen kann jeder erleben, der etwas verloren hat und wiederfinden will. Krampfhaftes Suchen bringt oft wenig Erfolg. Wer dagegen innerlich loslässt und ganz bewusst an etwas anderes denkt, weiß plötzlich, wo die Sache liegt.
Auch intrapsychisch ist ein solcher Bewusstseinswechsel nötig. Bei jedem Erkenntnisprozess geht es darum, sich erst mit der Sache innerlich zu verbinden („Eins mit ihm zu werden“) und dann sich wieder zu lösen, um ein sich ein sachliches Urteil bilden zu können. Ein Rhythmus von hingebender Verbindung und absetzender Reflexion ist angesagt. In der Psychologie wird vom Identifizieren und Disidentifizieren gesprochen.
2.5 GEISTIGE PRÄSENZ
(Achtsamkeit)
Aufmerksam zu sein, heißt sein äußeres Handeln „innerlich bewusst“ zu begleiten. Äußeres Tun und innere Vorstellung müssen eine Einheit werden.
Kleine Kinder begleiten ihr Tun sprachlich, indem sie beispielsweise ihre Spielzeugautos schieben und dabei „brrmm“ „brrmm“ „brrmm“ sagen.
Das sprachlich-begriffliche Begleiten der gerade auszuführenden Handlung ist Urbild für den Aufmerksamkeitsprozess. Das kann in vielen Fällen praktisch angewendet werden.
Der Fahrlehrer, der den Fahrschülern das Autofahren beibringt, geht auch so vor. Er sagt beispielsweise beim Linksabbiegen: „Links - Blinker setzen - im Rückspiegel den nachfahrenden Verkehr beachten – einordnen - Gegenverkehr abwarten - abbiegen“ usw. Jede einzelne Teilhandlung wird mit Worten bewusst begleitet.
Jeder Lehrer weiß, dass es für die Kinder eine außerordentliche Hilfe ist, wenn beim Erlernen einer neuen Tätigkeit jeder einzelne Schritt sprachlich-begrifflich begleitet wird. Manche kennen noch aus ihrer Kindheit solche Wendungen wie beispielsweise beim schriftlichen Addieren, etwa:
69 + 74 = ?
(neunundsechzig und vierundsiebzig ist wieviel? )
9 + 4 =13 (neun und vier ist dreizehn; drei an Eins gemerkt)
7+6=13 (sieben und sechs ist dreizehn und das gemerkte Eine ist vierzehn; schreibe 14.
143
Das Ergebnis ist also 143.
Dieser elementare Aufmerksamkeitsprozess lässt sich auf alle Handlungen anwenden. Wer merkt, dass er gerade unkonzentriert ist, kann seine Aufmerksamkeit stärken, indem er sein momentanes Tun mit Worten begleiten, z.B.: „Jetzt sitze ich, jetzt erhebe ich mich und jetzt gehe zur Tür, usw.“ Damit schließt er sein Bewusstsein an sein gegenwärtiges Handeln an.
Aufmerksamkeit wird jeden Augenblick neu geschaffen. Es kommt darauf an, im Augenblick geistig präsent zu sein. Darauf deuten Begriffe wie Geistesgegenwart, Präsenz, Achtsamkeit, Wachheit, Bewusstheit, Identifikation usw. hin.
2.6 ICHPROZESS
Der Schöpfer der Aufmerksamkeit ist das „individuelle menschliche Ich“. Dieses schafft Aufmerksamkeit jeden Augenblick neu. Es ist eine Entscheidung der individuellen Persönlichkeit, worauf und wie sie ihre Aufmerksamkeit richten will.
Konzentration und Interesse lässt sich nur kurzfristig dadurch erzeugen, dass jemand einem anderen sagt: „Pass doch mal endlich auf!“ oder „Kannst Du nicht etwas mehr Interesse für dies oder das zeigen?“ Eine solche Aufforderung lenkt die Aufmerksamkeit von außen.
Der innere Bezug zur Aufmerksamkeit wird nur dadurch erreicht, dass der Betreffende eine solche Aufforderung an sich selbst stellt. Als Beziehungspartner hat man nur die Möglichkeit, sich so verhalten, dass der Partner leichter zu seiner Aufmerksamkeit finden kann.
Oft werden Menschen als unaufmerksam bezeichnet, wenn sie kein Interesse für das haben, was ihre Mitmenschen für nötig halten. Der kleine Junge, der sich in der Mathematikstunde für ein Eichhörnchen vor dem Fenster interessiert, wird vom Mathematiklehrer wahrscheinlich als unaufmerksam bezeichnet, obwohl er sehr aufmerksam das Tierchen beobachtet.
Jeder muss selbst Kontrolle über sein Seelenleben, seine Gedanken, Gefühle und seinen Willen zu bekommen. In der modernen Geisteswissenschaft R. Steiners gibt es Übungen zur Gedankenkontrolle, Willenskontrolle und zur Gefühlskontrolle. Auch in verschiedenen Psychologierichtungen gibt es Vorschläge. Assagioli beschreibt beispielsweise in seiner Psychosynthese eine ganze Reihe von Übungen zur Schulung des Willens.4
Das Ich bestimmt worauf es seine Aufmerksamkeit richten will. Jeder Mensch muss den Schulungsprozess seiner Aufmerksamkeit selbst in die Hand nehmen. In den folgenden Kapiteln werden Aufgaben und Übungen beschrieben, die dabei verwendet werden können.
3 R.Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, R.Steiner Verlag 1961
4 Assagioli Roberto Die Schulung des Willens Junfermann Paderborn 1991