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Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Computer die nötigen Programme für die Steuerung des Roboterarms geladen hatte. Währenddessen schob Nick seine Füße in die Schlaufen unterhalb des Terminals. Um den 17 Meter langen Arm sicher steuern zu können, brauchte er festen Halt.

Er griff nach den beiden Kontrollhebeln. Links für Bewegungen vor und zurück, seitwärts, rauf und runter. Rechts für die Ausrichtung im Raum – pitch, roll, yaw, wie die Robotikingenieure sagten. Als ehemaligem Hubschrauberpiloten der US Navy war es Nick nicht schwergefallen, sich auf das Interface von Canadarm2 einzustellen. Der wuchtige Manipulator, mit dem er jetzt die Materialproben des Archivexperiments auf der Außenplattform einsammelte, ließ sich tatsächlich ähnlich steuern wie ein Flugzeug.

Die Dynamik allerdings hatte mehr mit einem Zeppelin zu tun als mit einem Düsenjäger. Ein paar Zentimeter pro Sekunde, schneller konnte Nick den Arm nicht bewegen. Dennoch musste er sich genauso konzentrieren wie im Cockpit eines Kampfjets. Tatsächlich rasten sie hier oben ja auch mit fast acht Kilometern pro Sekunde um die Erde. Am Boden entsprach das mehr als 25-facher Schallgeschwindigkeit, um ein Vielfaches schneller als jedes Flugzeug. Da riskierte man keine Fehlgriffe.

Dabei lief das Einsammeln der auf der Plattform platzierten Materialproben zu einem großen Teil automatisiert ab. Für mehr als zwei Jahre waren sie hier den Weltraumbedingungen ausgesetzt gewesen, montiert auf Standardgerüsten mit Schnittstellen für den Endeffektor des Roboterarms. Nicks Aufgabe bestand hauptsächlich darin, dem System immer wieder zu bestätigen, dass es fortfahren sollte – und dabei nicht mit der Aufmerksamkeit nachzulassen.

Endeffektor – Nick hatte sich nie entscheiden können, ob er diesen Begriff blöd oder genial finden sollte. Aber von „Greifer“ oder gar „Hand“ konnte man bei den Dingern an den beiden Enden des Arms nun wirklich nicht reden. In Astronautensprache hießen sie Lee-1 und Lee-2 – nach ihrer offiziellen Abkürzung LEE für „Latching End Effector“. Sie konnten viel weniger als eine menschliche Hand – und zugleich viel mehr.

Ein Lee fasste und bewegte nicht nur Objekte oder auch Astronauten, sondern konnte ebenso als Basis dienen – also gewissermaßen zum Fuß werden –, wenn er sich mit einer der außen über die Raumstation verteilten Steckdosen verband. Diese Power Data Grapple Fixtures (astronautisch: Peedeegeffies) gaben dem Roboterarm Halt, versorgten ihn mit Energie und ermöglichten Kommunikation und Kontrolle. Auf diese Weise konnte der Arm wie eine Raupe von Steckdose zu Steckdose die Raumstation entlang wandern und dort eingesetzt werden, wo er gerade gebraucht wurde: Lee-2 verband sich mit einer Steckdose, Lee-1 löste sich von seiner, schwang sich hinüber zur nächsten, bis das Ziel erreicht war.

Seit 27 Jahren war dieser unermüdliche Arbeiter jetzt schon an Bord. Im April 2001 war er hier angekommen, mit der zweiten Crew der permanenten menschlichen Besatzung. Ohne diesen Roboter hätte es die Internationale Raumstation nicht gegeben. Er hatte sie aufgebaut.

Und jetzt baust du sie bald wieder ab, dachte Nick, während er abwechselnd aus dem Fenster und auf die Monitore schaute. Dies waren die letzten Proben, die er einsammelte. Neue würden nicht mehr kommen.

Die Aufgabe der kommenden Monate bestand darin, die Raumstation nach und nach in ihre Einzelteile zu zerlegen, um die einzelnen Module dann gezielt zum Absturz zu bringen und möglichst vollständig in der Atmosphäre verglühen zu lassen. Einige größere Teile würden im Ozean versinken. Aber vom Roboterarm und seinen beiden Lees blieb bestimmt nichts übrig.

Es hatte schon eine gewisse Ironie: Die eigene Vergänglichkeit im Blick, beschäftigte sich der Roboter zum Abschluss ausgerechnet mit Experimenten, bei denen es ums genaue Gegenteil ging: um Dauerhaftigkeit, extreme Dauerhaftigkeit über Millionen Jahre. Welches Speicherverfahren war am besten geeignet, Informationen über sehr lange Zeiträume zuverlässig zu bewahren?

Die Untersuchung der Proben, die Nick gerade für den Rücktransport zur Erde vorbereitete, sollte helfen, diese Frage zu beantworten.

Beim Frühstück hatten sie gerade erst über „2001: A Space Odyssey“ gesprochen. Juri hatte natürlich recht, nach einer Hinterlassenschaft von Außerirdischen auf dem Mond, so wie in dem Film, war noch nicht ernsthaft gesucht worden. Die Apollo-Astronauten hatten dafür damals weder die Zeit noch die Ausrüstung gehabt und seitdem war niemand mehr dort gewesen.

In den letzten Jahren jedoch, als die Frage nach den nächsten Zielen der bemannten Raumfahrt sich zu so einer unerwartet breit und leidenschaftlich geführten Debatte entwickelt hatte, hatte die Idee neue Attraktivität gewonnen – in verwandelter Form: Jetzt ging es nicht mehr um die Suche nach einer Botschaft, sondern darum, selbst eine zu hinterlassen.

Auf dem Mond sollte ein Archiv der Menschheit entstehen, das einen möglichen Untergang der irdischen Zivilisation überdauern konnte. Zukünftige Besucher sollten von der Geschichte der Bewohner des dritten Planeten im Sonnensystem erfahren, seien es Wesen von fernen Sternsystemen – oder Nachfahren der Menschen, die in einer fernen Zukunft vielleicht erneut die Raumfahrt entwickeln würden.

Das Archivexperiment war das erste, das aus einer Volksabstimmung hervorgegangen war – betreut von Nick, dem letzten US-Bürger, der die Internationale Raumstation besuchte. Dass er überhaupt hier sein konnte, verdankte er den Europäern.

Denn eigentlich hätte die Station schon längst in der Atmosphäre verglüht und im Ozean versenkt sein sollen. Doch dann war die europäische Sonde ExoMars auf dem roten Nachbarplaneten gelandet und hatte die Marsproteine entdeckt. Es war erstaunlich schnell gegangen. Bereits die ersten Bodenproben, geborgen aus knapp zwei Metern Tiefe, hatten starke Hinweise enthalten. Nachdem weitere Proben untersucht und die Daten kritisch überprüft worden waren, hatte die ESA im Frühjahr 2021 verkündet, dass ihre Sonde auf dem Mars Moleküle identifiziert habe, die offensichtlich biologischen Ursprungs waren.

Es lag nahe, eine Probe davon zur Erde zu bringen, um sie gründlich untersuchen zu können. Doch die Marsproteine, so viel hatten schon die ersten Analysen gezeigt, waren für das hiesige Leben eine potenzielle, völlig unkalkulierbare Bedrohung, ein Transport zur Erdoberfläche nicht zu verantworten.

Die Internationale Raumstation dagegen bot hervorragende Möglichkeiten für genauere Untersuchungen in sicherem Abstand von der irdischen Biosphäre. Nur war deren Stilllegung im Jahr 2024 beschlossene Sache – dem Jahr, in dem eine Probenrückholmission frühestens starten konnte.

Angesichts der Bedeutung der Entdeckung hatten sich die übrigen Partner der Raumstation dem Wunsch der Europäer nach einer Verlängerung des Betriebs um weitere vier Jahre nicht verschließen können. Auch die Amerikaner hatten zugestimmt, obwohl sie mit der „Bonusrunde“ im All zunächst nicht viel anzufangen wussten. Die einstige Führungsmacht war innerlich zerrissen, hatte mit ihrem weltpolitischen Bedeutungsverlust zu kämpfen und suchte nach neuen Orientierungen. Große, langfristig angelegte Projekte hatten es da besonders schwer.

Auch die Raumfahrt litt seit Jahren unter unsicheren Budgetplanungen, die immer wieder revidiert wurden und schließlich zu technischen Rückschlägen führten. Vor allem die Explosion der neu entwickelten Trägerrakete hatte die Pläne für bemannte Missionen auf unbestimmte Zeit zurückgeworfen.

In diesem Klima der Verunsicherung war die Idee, das Forschungsprogramm auf der Internationalen Raumstation zum Thema einer groß angelegten Volksabstimmung zu machen, auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Diskussionen darüber, wie die vier zusätzlichen Jahre in dem orbitalen Forschungskomplex genutzt werden sollten, hatten gleich nach der eher widerwillig getroffenen Entscheidung der NASA für eine weitere Verlängerung eingesetzt.

Rasch hatte sich eine breite öffentliche Debatte entwickelt, bei der weniger technische Detailfragen im Mittelpunkt gestanden hatten, sondern der Weltraum zur Projektionsfläche für gesellschaftliche Fragen und grundsätzliche Überlegungen zur zivilisatorischen Entwicklung geworden war.

Was wollen wir im All? Wozu der Aufwand, wenn wir dort doch wieder nur weitermachen wie hier unten auf der Erde? Ist das Ganze nicht ein aussichtsloser Versuch, vor uns selbst davonzulaufen? Solche Fragen wurden seit einigen Jahren leidenschaftlich diskutiert, aber auch mit großem Ernst, wie Nick bei vielen Vortragsveranstaltungen immer wieder erlebt hatte.

Die Archivprojekte hatten sich in der Debatte sehr gut behaupten können. Sie verknüpften auf überzeugende Weise Vergangenheit und Zukunft der Menschheit und schafften dadurch einen Rahmen, in dem große geschichtliche und philosophische Fragen ebenso erörtert werden konnten wie konkrete Probleme bei der technischen Umsetzung der Idee.

Eher geisteswissenschaftlich orientierte Menschen, die bevorzugt in Geschichten dachten, konnten sich daher ebenso einbringen wie Ingenieure, Naturwissenschaftler oder Ökonomen, die sich eher an Zahlen und Tabellen orientierten. Die Idee eines Menschheitsarchivs hatte Personengruppen zusammengebracht, die sonst kaum miteinander geredet hatten und so eine integrative Kraft entwickelt, die in dieser Zeit der kulturellen Zersplitterung von vielen als sehr wohltuend erlebt worden war.

Allen Beteiligten war klar gewesen, dass eine gewaltige Aufgabe vor ihnen lag, die nur in einer gemeinsamen Anstrengung bewältigt werden konnte. Wie sollten sich die geschichtlichen Erfahrungen zu Krieg und Frieden, Freiheit und Herrschaft, Ideal und Wirklichkeit, die doch so vielfältig und kontrovers gesehen werden konnten, in einem Archiv zusammenfassen lassen?

Und selbst wenn das gelänge, wie sollten diese Erkenntnisse dauerhaft und zuverlässig über viele tausend oder gar Millionen Jahre gespeichert werden? Wie sollte ein der irdischen Sprachen Unkundiger diese Informationen nutzen können?

Jetzt zahlte sich aus, dass die Befürworter eines Menschheitsarchivs in früheren Jahren gut gearbeitet hatten und exzellent vorbereitet waren, um zügig einen überzeugenden Vorschlag vorzulegen, wie die vier zusätzlichen Jahre auf der Raumstation zumindest die technische Realisierung der Idee voranbringen konnten.

So hatte Nicks Kollege Steve Bonham bereits vor über zwei Jahren Materialproben auf der externen Forschungsplattform des japanischen Moduls Kibõ installieren können. Nicks Aufgabe war es jetzt, die Experimentalphase zu beenden und die Proben zur Erde zu bringen. Dort wollten sich Forscher dann genau ansehen, wie sich die verschiedenen Datenspeicher unter Weltraumbedingungen, insbesondere bei erhöhter Strahlungsbelastung, verändert hatten.

Seine Vorträge über diese Mission begann Nick häufig mit einer Frage ans Publikum, wobei er sich bemühte, sie möglichst mehrdeutig klingen zu lassen: „Eine Botschaft, die vielleicht erst in Millionen Jahren entdeckt wird. Woraus soll die eigentlich bestehen?“

An den Reaktionen seiner Zuhörer konnte er oft erkennen, ob sie sich mehr für den Inhalt der Mitteilung interessierten oder auch für das Material, mit dem sie gespeichert würde. Manchmal hatte schon hier jemand die provokative Frage gestellt, ob die Menschheit es denn überhaupt wert sei, dass das Universum sich an sie erinnere.

„Was wir bisher vollbracht haben, erfüllt mich nicht gerade mit Stolz“, hatte einer einmal gesagt. „Sollten wir darüber nicht lieber den Mantel des Schweigens ausbreiten?“

Nick konnte sich noch gut daran erinnern. Der Hörsaal an der University of Illinois in Urbana-Champaign, der amerikanischen Universitätsstadt, war brechend voll gewesen, einige hatten auf den Treppenstufen gesessen, andere stehen müssen. Trotz der Fülle hatte eine konzentrierte Stille geherrscht.

„Stolz ist bei mir auch nicht gerade die vorrangige Empfindung, wenn ich die bisherige Menschheitsgeschichte betrachte“, hatte Nick eingeräumt, um gleich darauf hinzuzufügen: „Aber ist es dann nicht umso wichtiger, etwas zu hinterlassen? Wenn wir solchen Mist gebaut haben, sollten wir andere vielleicht besser davor warnen, die gleichen Fehler zu begehen.“

Er hatte seine Zuhörer aufgefordert, sich ein irdisches Raumschiff vorzustellen, das in einem anderen Sternensystem die Botschaft einer untergegangenen Zivilisation findet.

„Würden wir das nicht als großen Schatz betrachten und den Schöpfern dieser Botschaft dankbar sein? Betrachten Sie das Menschheitsarchiv als Geschenk an mögliche zukünftige Besucher. Ob es ein schönes Geschenk ist, darüber lässt sich streiten und das wollen wir heute Abend ausgiebig tun. Aber ich glaube, niemand zweifelt daran, dass es sehr wertvoll ist.“

Er hatte ins Publikum geschaut. „Ein wertvolles Geschenk sollten wir gut verpacken. Meine Forschungen auf der Raumstation sollen helfen, die beste Verpackung zu finden.“

Eine kleinere Etappe auf diesem Weg war jetzt gerade bewältigt worden. Der Roboterarm hatte seine Arbeit getan und die Materialproben in den Transportbehälter bewegt, sodass sie durch die Luftschleuse von Kibõ wieder hereingeholt und für den Rücktransport weiter vorbereitet werden konnten. Das waren zum einen drei kleine Speicher aus Wolfram, geschützt durch unterschiedlich gefertigte Schichten aus Siliziumnitrit, die auf einem Gestell montiert waren. Sie sollten theoretisch eine Million Jahre halten, das ließen Laborexperimente vermuten, bei denen die Veränderungen in der atomaren Struktur bei verschiedenen Temperaturen beobachtet worden waren.

Etwas größer und schwerer waren zwei Speicher aus Quarzglas, in die mit einem Laser Texte eingraviert worden waren. Wenn seine Zuhörer sich für technische Details interessierten, konnte Nick an dieser Stelle auf die wunderbaren Eigenschaften dieses Materials eingehen.

Quarz bestand aus reinem Siliziumdioxid, war gleichermaßen unempfindlich gegenüber Temperaturschwankungen wie auch vielen Chemikalien und vereinte ein hohes Elastizitätsmodul mit hohem Härtegrad. Die hoch entwickelten Verfahren zur Mikrobearbeitung dieses Materials konnte er mit eindrucksvollen Bildern illustrieren.

Die größte Verblüffung erzielte er aber bei seinen Vorträgen regelmäßig, wenn er danach auf die DNA zu sprechen kam. Wenn es um Stabilität über Millionen Jahre ging, war die Verwendung biologischer Substanzen, bei deren Zersetzung man ja fast zusehen konnte, nicht gerade ein naheliegender Gedanke. Die Überraschung seiner Zuhörer ging aber meistens rasch in einen Aha-Effekt über. Natürlich, das Trägermolekül der biologischen Erbinformation hatte sich schließlich seit mittlerweile fast vier Milliarden Jahren bewährt, indem es die Evolution des Lebens ermöglicht hatte.

„Auf der Erde“, ergänzte Nick an dieser Stelle gerne. „Anderswo womöglich noch länger. Das Planetensystem von Kepler-444 zum Beispiel ist über zehn Milliarden Jahre alt. Allerdings auch 116 Lichtjahre von uns entfernt. Ob es dort Leben gibt, ob es auf DNA basiert, können wir über diese Distanz noch nicht feststellen. Aber ich halte es für wahrscheinlich. Wenn es um lange Zeiträume geht, ist die Desoxyribonukleinsäure als Speichermedium jedenfalls unübertroffen. Niemand, der über Langzeitarchive nachdenkt, kann das ignorieren.“

Viele Initiativen hatten denn auch schon frühzeitig darauf gesetzt. „Lunar Mission One“ etwa kämpfte seit über zehn Jahren dafür, am Südpol des Mondes unter anderem menschliche Haare zu deponieren. Damit allein wären schon wichtige biologische Informationen über die Menschen gesichert. Darüber hinaus gab es inzwischen aber auch vermehrt Bestrebungen, DNA-Moleküle gezielt zu erzeugen, um darin zusätzliche Informationen zu kodieren.

Elektronisch oder biochemisch gespeicherte Informationen brauchten jedoch eine Anleitung zu ihrer Entschlüsselung, die ohne Hilfsmittel zugänglich sein sollte. An dieser Stelle kam das gute alte Papier ins Spiel und sorgte bei Nicks Vorträgen ebenfalls oft zunächst für Irritationen. Ein so archaisches Medium passte nicht in die Hightech-Umgebung der Raumstation. Dabei war es nach wie vor einer der dauerhaftesten und zuverlässigsten Informationsspeicher, über den die Menschheit verfügte. Geschriebene Texte ließen sich ohne weitere Hilfsmittel lesen und hatten auf Papier und Pergament schon Jahrtausende überdauert. Das Papier musste dafür allerdings sorgfältig gefertigt sein und schonend gelagert werden. Ob es auch zehntausend Jahre und länger halten würde, war dagegen fraglich.

Zu den Proben, die Nick gerade geborgen hatte, gehörten daher auch einige Seiten Papier, die mit verschiedenen Tinten beschrieben und bedruckt worden waren. Größere Hoffnungen lagen jedoch auf einem kleinen, modernen „Rosettastein“, der ebenfalls den Weltraumbedingungen ausgesetzt worden war.

Die runde Scheibe, die gut in eine menschliche Hand passte, war vor über zwanzig Jahren von der Long Now Foundation für langfristiges Denken entwickelt worden, inspiriert vom Original-Rosettastein, mit dessen Hilfe einst die ägyptischen Hieroglyphen entschlüsselt werden konnten, weil der gleiche Text in drei Sprachen eingraviert war. Die moderne Version enthielt jetzt über 13000 Seiten mit Informationen über mehr als 1500 menschliche Sprachen, außerdem alle bekannten Sprachversionen der biblischen Schöpfungsgeschichte, eingeritzt in reines Silizium, beschichtet mit Nickel.

Mit bloßem Auge ließ sich da zwar nicht viel entziffern. „Ein optisches Mikroskop mit 750-facher Vergrößerung“, hatte Nick versprochen, „reicht aber als Lesehilfe.“

Man durfte wohl davon ausgehen, dass jemand, der in der Lage war, auf dem Mond zu landen und das Archiv zu finden, über solche Hilfsmittel verfügte.

Zudem war auch ohne zusätzliche Hilfsmittel zu erkennen, dass die Scheibe eine Botschaft enthielt: Auf einer Seite waren Textanfänge in mehreren Sprachen für das bloße Auge lesbar aufgetragen, die sich spiralförmig zum Zentrum hin fortsetzten und dabei immer kleiner wurden.

„Die Lebensdauer dieser Scheibe wird von den Herstellern auf mindestens zehntausend Jahre veranschlagt“, hatte Nick gesagt und damit das Ende seines Vortrags erreicht. „Zukünftige Generationen oder Besucher aus dem All werden sie vielleicht als wertvolles Hilfsmittel zur Entschlüsselung unserer Botschaften aus der Vergangenheit zu schätzen wissen.“

An dieser Stelle machte er meistens eine Pause und ließ den Blick über sein Publikum schweifen.

„Es gibt also durchaus einige vielversprechende Ansätze zur Langzeitspeicherung von Informationen. Ich hoffe, das ist deutlich geworden. Falls etwas unklar geblieben ist, fragen Sie bitte. Eine Frage, die ich Ihnen nicht beantworten kann, ist allerdings die nach dem Inhalt unserer Botschaft. Was wollen wir der Zukunft mitteilen? Das würde ich gern von Ihnen erfahren.“

Danach folgten meist lebhafte Diskussionen, die sich völlig unterschiedlich entwickeln konnten, an denen sich aber immer viele Zuschauer beteiligten und die sehr offen ausgetragen wurden. Da konnte es um die aktuelle weltpolitische Lage ebenso gehen wie um antike Geschichte, Visionen zukünftiger Weltraumsiedlungen oder technische Detailfragen.

Die Idee eines Weltraumarchivs hatte offensichtlich einen Nerv getroffen. Sie war zu einem Kristallisationspunkt geworden, in dem sich viele aktuelle Probleme brachen und aus neuen Perspektiven betrachtet werden konnten. Etablierte politische Konfrontationslinien spielten dabei kaum eine Rolle, sie wurden unterlaufen. Man war sich nicht immer einig, aber man hörte einander aufmerksam zu und respektierte sich. Allein diese neue Gesprächskultur empfand Nick schon als großen Gewinn des Projekts, noch bevor er überhaupt ins All gestartet war.

In Urbana-Champaign hatte sich die Diskussion im Anschluss an seinen Vortrag ausführlich mit dem Umfang der Botschaft beschäftigt. Dabei war es zunächst um die Kapazitäten der verschiedenen Speicherverfahren gegangen, die nach oben eine Grenze setzten. Richtig spannend aber wurde es, als jemand die Frage nach einer Mindestgröße aufgeworfen hatte, unterhalb derer ein Archiv keinen Sinn ergeben würde. Man könne doch nicht die Menschheitsgeschichte in zehn Sätzen erzählen, hatten die einen gemeint. Warum nicht, hatten andere eingewandt. Selbst ein Satz sei doch besser als gar nichts.

Es ging dann eine Weile darum, wie der Umfang des Wissens das Wissen selbst beeinflusste, wie es strukturiert und wie oft es aktualisiert werden musste. Sollte das Archiv auf dem Mond gepflegt und mit der Zeit verändert und erweitert oder einfach nur dort abgelegt werden?

Schließlich hatte jemand den Vorschlag gemacht, statt über ein irgendwo hinterlegtes Archiv über eine Botschaft nachzudenken, die ausgestrahlt würde und als elektromagnetisches Signal Kunde von der menschlichen Zivilisation gäbe. Es war, als hätte er den Kristall ein wenig gedreht, sodass sich die Antwort auf einmal ganz klar in ihm spiegelte: Natürlich war selbst eine Botschaft, die nichts weiter verkündete, als dass es die Menschheit gab, es wert, ausgestrahlt zu werden. Wenn dann noch mehr hinzu kam, umso besser.

Aber allein die Gewissheit, dass noch andere technologische, zur interstellaren Kommunikation bereite Zivilisationen existierten, musste für alle intelligenten Lebewesen im All, die wie die Menschen auf der Erde die Sterne beobachteten, von großer Bedeutung sein.

Damit war eine Frage beantwortet, aber zugleich viele neue aufgeworfen worden. Wie sollten wir uns den Empfängern unserer Botschaft verständlich machen? Welchen Sinn hatte ein Dialog, bei dem zwischen dem Senden einer Nachricht und dem Empfang der Antwort mehrere Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte vergingen?

Die Teilnehmer waren sehr bewegt gewesen und hätten womöglich noch stundenlang weiter diskutiert, wenn der Gastgeber, Professor Campbell, nicht eingeschritten wäre und die Veranstaltung beendet hätte. Viele waren hinterher noch mit ins nahe gelegene Lokal gekommen, wo sie sich an mehreren Tischen verteilt hatten. Als Nick sich nach zwei Gläsern Bier in sein Hotel zurückgezogen hatte, waren die Räume immer noch von der Energie der Menschen erfüllt gewesen.

Inzwischen hatte der Transportbehälter mit den Materialproben die Luftschleuse passiert und war sicher im Innern der Raumstation angekommen. Eine weitere Etappe war geschafft, eigentlich ein guter Anlass für eine Pause und ein frisch gezapftes Bier, dachte Nick. Doch das musste warten, bis er zur Erde zurückgekehrt war. Abgesehen davon, dass alkoholische Getränke auf der Raumstation natürlich streng verboten waren: Wie hätte man in der Schwerelosigkeit das Bier überhaupt ordentlich einschenken können? Wie sollte sich hier eine schöne Schaumkrone bilden?

Eines Tages, davon war Nick überzeugt, würde es Weltraumhotels geben, die um eine Zentralachse rotierten und dadurch an den Außenwänden eine künstliche Schwerkraft erzeugten. Dort würden die Hotelgäste aus richtigen Gläsern trinken, während sie vielleicht auf ihren Anschlussflug warteten oder einfach nur für ein paar Tage die Aussicht auf die Erde genossen. Er war sich nur nicht sicher, ob er mit seinen 46 Jahren jung genug war, um das selbst noch erleben zu können.

Die letzte Crew des Wandersterns

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