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Literatur ist eine Frage des Charakters

Brief an Peter Schneider

Lieber Peter!

Bewusst begegnet bin ich Dir zum ersten Mal im Sommer 1964 im Literarischen Colloquium, das gerade erst ein neues Domizil am Wannsee bezogen hatte. Wir saßen in Liegestühlen auf der zum Seeufer abfallenden Wiese, und Du machtest scharfsinnige Bemerkungen zu zwei kurz zuvor erschienenen Texten von mir und trafst jedes Mal den Nagel auf den Kopf. In einer Rezension über Robert Walsers Erstlingsroman Jakob von Gunten hatte ich geschrieben, für eine gelungene Formulierung von Robert Walser gäbe ich ganze Bibliotheken der Gegenwartsliteratur her, und Du erklärtest diese Behauptung für überspannt und unsinnig, unabhängig von der Qualität des in Frage stehenden Buchs. Gleichzeitig lobtest Du eine in einer österreichischen Zeitschrift erschienene Kurzgeschichte von mir, die von Zwillingsbrüdern handelte, deren einer, angespornt und gleichzeitig gestört von seinem Bruder, Selbstmord zu begehen versucht – dass Du Dich für Zwillingsforschung interessierst, wusste ich damals noch nicht.

Was mich beeindruckte und darüber hinaus neugierig machte, war die Sicherheit Deines literarischen Urteils, das nichts Apodiktisches an sich hatte, im Gegenteil: Es bereitete Dir sichtliches Vergnügen, die Denkschritte darzulegen, die Dich zu bestimmten Schlussfolgerungen führten. Schreiben war für Dich eine sportliche Betätigung wie Pingpong, Skilaufen oder Tennis – psychische und physische Gymnastik zugleich. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Anders als viele Deiner Generationsgenossen hast Du Deine körperliche und geistige Frische bewahrt, und die Lust, die Du beim Formulieren Deiner Gedanken empfindest, teilt sich den Lesern Deiner Romane, Erzählungen und Essays mit. Dabei war und ist lautes Denken in der deutschsprachigen Literatur eher die Ausnahme als die Regel – Lessing und Schiller werden in diesem Zusammenhang gern genannt – und muss weder Verzicht auf Sinnlichkeit bedeuten noch Hang zu philosophischer Abstraktion.

Wenn ich Dein Denkvermögen lobe, so meine ich damit eher logischen Scharfsinn als dialektisches L’art pour l’art, weshalb die 1968er Linke wenig Freude an Dir hatte, denn statt unwiderruflicher Dogmen predigtest Du den radikalen Zweifel an liebgewordenen Überzeugungen, auch wenn diese beglaubigt waren durch damals nicht hinterfragbare Autoritäten wie Mao oder Marx. Dein radikalster Text, die auf den Langen Marsch bezugnehmende Rede an die deutschen Leser und ihre Schriftsteller, trieb Dich nicht in die Arme der damals wie Pilze aus dem Boden schießenden maoistischen Sekten, sondern hat Dich gegen deren Anspruch, die revolutionäre Avantgarde zu sein, auf Dauer immun gemacht. Und Deine zum Kultbuch avancierte Novelle Lenz stellte ebenso einen Abgesang auf die Studentenbewegung dar, deren Verfallssymptome sie thematisierte, wie eine Rechtfertigung des ursprünglichen Impulses der Revolte, den Du gegen dogmatische Besserwisser verteidigt hast, weil Dir die Infragestellung von Autoritäten gerade im deutschen Kontext wichtig war. Der Text der Novelle ist häufig mit Büchners Lenz verglichen worden, mit dem er, bei Licht betrachtet, nur wenig gemein hat; ein Vergleich mit den Leiden des jungen Werther wäre aufschlussreicher, sowohl was Dein Italienbild wie auch was die Utopie des erotischen Begehrens betrifft, das den Rahmen der politisch-sozialen Revolte sprengt: »Wie froh bin ich, dass ich weg bin!« Der oft überlesene Eingangssatz von Goethes Werther hätte Deinem Lenz als Motto voranstehen können.

Hättest Du rechtzeitig Copyrightschutz beantragt, lieber Peter, wärst Du heute mehrfacher Millionär, denn der nach 1989 inflationär gebrauchte Slogan von der »Mauer im Kopf« tauchte zum ersten Mal in Deiner Erzählung Mauerspringer auf. Das 1984 erschienene Buch hatte prophetischen Charakter: Noch vor Martin Walser, dessen patriotische Denkanstöße eher Gefühlsaufwallungen waren, warst Du der Erste, der den Abriss der Mauer forderte, nicht mit nationalistischem Schaum vorm Mund, sondern mit logisch stringenten Argumenten. Berlin vor und nach dem Mauerfall – dieses Dir wohlvertraute Terrain hast Du in den Romanen Paarungen und Eduards Heimkehr erneut abgeschritten. Zusammen mit Deinen zeitgleich entstandenen Essays stellte die Berlin-Trilogie einen Höhepunkt Deines Schaffens dar und löste die Forderung der Feuilletons nach dem großen Roman zur deutschen Wiedervereinigung glaubhaft ein: als Chronik der Hoffnungen und Enttäuschungen, Irrtümer und Illusionen der Wendezeit.

Hier ist nicht der Ort, Dein Gesamtwerk vorzustellen, dessen Facettenreichtum sich der einengenden Festlegung auf Literatur oder Politik entzieht: von Deinem Drama über die Eroberung Mexikos bis zu lakonisch verknappten Kurzgeschichten, in denen Du private Abgründe ausgelotet hast; und vom mit Charlton Heston in der Titelrolle verfilmten Mengele-Buch Vati bis zum Bericht über den jüdischen Musiker Konrad Lattek, der in Berlin versteckt die NS-Zeit überlebte. Ich weiß noch, wie der »Held« dieser Geschichte im Publikum der Berliner Festspiele saß, während wir mit Gerhard Schröder über Dein Buch diskutierten oder vielmehr nicht diskutierten, weil der Bundeskanzler den Text gar nicht oder nur oberflächlich gelesen hatte.

Zum Schluss noch ein Wort in eigener Sache. Vermutlich bist Du es leid, lieber Peter, von einer Art jüngerem Bruder verfolgt zu werden, den Redakteure und Kritiker gelegentlich mit Dir verwechseln, denn mit Deinen vielen Geschwistern bist Du schon gesegnet und gestraft genug. Ich weiß nicht, ob Du die Rolle selbst angestrebt hast oder ob sie Dir von der Umwelt zudiktiert wurde: Aber für Autoren meiner Generation warst Du der Vordenker der Studentenrevolte, der eloquenter als andere deren Anliegen vertrat, und hast »avant la lettre« den kulturrevolutionären Aufbruch von 1968 legitimiert. Auch wenn Dir manches, was Du damals geäußert hast, im Nachhinein fragwürdig erscheint, brauchst Du nichts zu bereuen oder zu widerrufen, weil Du weder mit Terroristen sympathisiertest noch stalinistischen Parteien auf den Leim gingst. In der hysterisierten Atmosphäre des »deutschen« Herbsts 1977 gehörte Mut dazu, der Verschwörungstheorie zu widersprechen, wonach »der Staat« Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin ermordet habe. In diesem Sinne war und ist auf Deine Stellungnahmen Verlass, weil sie auf Qualitäten beruhen, die Seltenheitswert haben im öffentlichen Diskurs der BRD: Spontaneität, Neugier und Unerschrockenheit – ein Denkansatz, der auch dann nicht veraltet, wenn die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen revisionsbedürftig sind.

PS

Beim Wiederlesen dieser Zeilen fällt mir auf, wie verzweifelt unpersönlich sie klingen. Weder ist von der Lähmung die Rede, die das rhythmische Klappern Deiner Schreibmaschine im Nebenzimmer hervorrief, während Du in unserer Moabiter Gemeinschaftswohnung den Text Wir haben Fehler gemacht tipptest, eine Agitationsrede, deren Grundstruktur: »Wir dachten, die Dinge seien soundso, doch in Wahrheit waren sie ganz anders« in vielen Deiner Essays wiederkehrt. Auch von der gemeinsamen Chinareise oder von unseren Eskapaden in Hongkong und Bangkok ist hier nicht die Rede, ganz zu schweigen von unseren Abenteuern in Venedig, Madrid und Montreal, wo ich an Deiner Stelle interviewt wurde. Das lag nicht allein daran, dass ich schlecht höre: Als drittes von vier Geschwistern habe ich mich an meinem älteren Bruder orientiert, der für mich die Stelle des Vaters vertrat, und ohne diesen Fixpunkt kommt die Gesellschaft mir vaterlos vor. Damit ist weder der große Bruder aus Orwells Roman 1984 gemeint noch der Präsidentendarsteller im Weißen Haus, sondern jemand, dessen »auffälligste Eigenschaft ist / im Plural zu leben und zu denken«, wie Du nach dem Attentat auf Rudi Dutschke schriebst: »Beim Croquet sagt er zum Beispiel / Schnauze halten, wenn er am Schlag ist / und einer, um ihn durcheinanderzubringen / dazwischenredet. Er muss das sagen / weil er sich tatsächlich stören lässt / Er ist unglücklich, wenn er einen Namen / auch einen beiläufigen, vergessen hat / Da er großes Vertrauen zu den Menschen hat / hat er Selbstvertrauen, auch umgekehrt.« Damit, lieber Peter, hast Du nicht nur Rudi Dutschke, sondern auch Dich selbst charakterisiert. Mach weiter so, denn Literatur ist nicht nur eine Frage des Talents, sondern auch des Charakters! In alter Freundschaft – Dein H. C.

Tunnel über der Spree

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