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Det is allet history!

Mosaikstein zu einem Biermann-Porträt

Es war ein heißer Tag im Sommer 1976, drei oder vier Monate vor der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann durch das Politbüro der SED. In meiner Erinnerung könnte es Kubas Nationalfeiertag, der 26. Juli, gewesen sein: An diesem Tag im Sommer 1953 hatten Fidel Castros Partisanen – der Ausdruck ist irreführend, denn es handelte sich um Jugendliche und Studenten ohne militärisches Know-how – die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba gestürmt. Siebzig Angreifer kamen ums Leben, und Fidel Castro wurde auf der Isla de Pinos inhaftiert, wo er seine Berufung zum Revolutionär entdeckte. Oder es könnte der 31. August gewesen sein, als Tamara Bunke alias Tania la Guerrillera, die Kampfgefährtin Che Guevaras, beim Überschreiten des Rio Grande in einen Hinterhalt geriet und von bolivianischen Soldaten erschossen wurde.

Aber davon wusste ich nichts, während ich in der Chausseestraße 131 in Wolf Biermanns Wohnküche saß, zusammen mit seiner Mutter, wenn mich die Erinnerung nicht trügt. Schräg gegenüber lag die ständige Vertretung der BRD, vor deren videoüberwachtem Portal ein Volkspolizist auf und ab ging, und ein paar Meter weiter parkte ein Wartburg-Kombi, dessen ausgefahrene Antenne die aus dem Küchenfenster dringenden Geräusche auffing. Wolf Biermann stimmte seine Gitarre und summte eine Melodie vor sich hin, die in ein Lied überging, dessen Gesang er immer wieder unterbrach, um den Text umzustellen, zu verbessern oder mit wirkungsvolleren Akkorden zu unterlegen. Der Vorgang konnte lange dauern, denn die Lieder hatten viele Strophen, und der Besucher kam kaum zu Wort, weil Biermann die Küche mit einem Konzertsaal verwechselte – auch umgekehrt ergibt der Vergleich einen Sinn. Er sang seine Stasi-Ballade:

Menschlich fühl ich mich verbunden

Mit den armen Stasi-Hunden

Die bei Schnee und Regengüssen

Mühsam auf mich achten müssen

Die ein Mikrophon einbauten

Um zu hören all die lauten

Lieder, Witze, leisen Flüche

Auf dem Klo und in der Küche

Brüder von der Sicherheit

ihr allein kennt all mein Leid.

Er war gerade beim Refrain angekommen »Die Stasi ist mein Eckermann«, als es klingelte. Vor der Tür stand ein Mann mittleren Alters, der wie ein Frührentner aussah und auch ohne Parteiabzeichen als SED-Funktionär zu erkennen war. Nur die verrutschte Krawatte und seine Alkoholfahne passten nicht ins Bild.

»Hallo Wolf«, sagte der ungebetene Besucher, »ick komme jerade von der Einweihung der Tamara-Bunke-Oberschule janz in der Nähe von dir und möchte wissen, wer diese Tamara Bunke und dieser – wie heißt er doch gleich – dieser Che Guevara, von dem neuerdings so viel jeredet wird, wer det eigentlich war. Ick hab den kubanischen Botschafter jefragt, aber der weiß och nischt Jenauet und sagte nur, det is allet history. So hat der sich ausgedrückt: ›Det is allet history.‹ Und da dachte ich mir, am besten jehste direkt inne Chausseestraße und fragst den Wolf Biermann, der kennt sich in sone Sachen aus!«

Wir waren sprachlos, denn Biermann lebte seit über zehn Jahren in einem unerklärten Krieg mit der alleinseligmachenden Partei, deren Funktionäre sich selten in seine Wohnung verirrten. Sie zogen es vor, ihn aus sicherer Entfernung mit Dreck zu bewerfen und von Zeit zu Zeit zum Verhör einzubestellen: »Die Arbeiterfaust zeigen« oder »andere Saiten aufziehen« hieß das im SED-Jargon. Handelte es sich um einen dreisten Ausspähungsversuch, um eine gezielte Provokation oder um den Alleingang eines Funktionärs, der bei der Einweihung der Tamara-Bunke-Schule zu viel Cuba Libre getrunken hatte? Oder – dafür sprach einiges – war es eine Kombination all dieser Motive? Noch dazu schien der Mann keine niedrige Charge zu sein: Er stellte sich als stellvertretender Bezirksbürgermeister vor, ließ sich schwer atmend am Küchentisch nieder und verlangte Bier – nach Tee stand ihm nicht der Sinn. Auf die Frage, woher er Wolf Biermann kenne, nuschelte er etwas vom Pfingsttreffen der FDJ Mitte der fünziger Jahre, als die Welt noch in Ordnung war. Damals hätten die Schriftsteller noch keine Sperenzien gemacht.

»Wenn du es wirklich wissen willst«, sagte Wolf Biermann, »erkläre ich dir, was es mit Che Guevara auf sich hat.« Er brachte seine Gitarre in Stellung und stimmte das Che-Guevara-Lied an, genauer gesagt: die von ihm verfertigte Übersetzung von Carlos Pueblas Chanson: »Aqui se queda la clara / la entrañable transparencia / de tu querida presencia / comandante Che Guevara.« Zu Deutsch:

Uns bleibt, was gut war und klar war:

Dass man bei dir immer durchsah

Und Liebe, Hass, doch nie Furcht sah,

Kommandante Che Guevara

Und bist kein Bonze geworden

Kein hohes Tier, das nach Geld schielt

Und vom Schreibtisch aus den Held spielt

In feiner Kluft mit alten Orden

Uns bleibt, was gut war und klar war …

»Siehst du«, sagte Biermann lächelnd, »Guevara war kein Sesselfurzer wie du, sondern ein Revolutionär!« Doch der ungebetene Gast ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Det sachst du, Wolf, aber det sehen wir anders«, murmelte er und nippte angewidert am Tee, den Biermanns Mutter ihm einschenkte. An diesem Punkt mischte ich mich ins Gespräch und erklärte dem SED-Mann, Fidel Castro und Ernesto Che Guevara seien keine Kommunisten, sondern radikale Demokraten gewesen, die gegen das von den USA ausgehaltene Batista-Regime kämpften; Kubas KP habe den bewaffneten Aufstand nur halbherzig unterstützt. Diese nicht ganz schlüssige Argumentation entsprach meiner damaligen »undogmatischen« Position und wurde von vielen nicht moskauhörigen Linken geteilt. Der Funktionär gab sich einen Ruck und sah mich scharf an. Mein T-Shirt mit dem Aufdruck einer amerikanischen Universität hatte ihn misstrauisch gemacht, und er wollte wissen, ob ich aus Westberlin oder der BRD komme. »Aus Friedenau, wenn Sie es genau wissen wollen, aber zwischen der Bundesrepublik und Westberlin gibt es keinen großen Unterschied!«

»Det sagen Sie, aber det sehen wir anders«, brummte er, ohne seine Aussage zu begründen. Das war auch nicht nötig, denn die Partei, der er angehörte, hatte die Macht, genauer gesagt: die Definitionsmacht über die Sprache, und sie entschied ganz allein, welche Bedeutung Begriffen wie Demokratie und Diktatur, DDR und BRD, Kuba oder Westberlin zukam, und welche nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum mir der ständig wiederholte Satz in Erinnerung geblieben ist, mit dem der SED-Mann, ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, das Gespräch bestritt, bevor er sich, vom Teetrinken ernüchtert, wieder verzog: »Das sagen Sie, aber das sehen wir anders!«

Die Nachricht von Wolf Biermanns Ausbürgerung am 16. November 1976 erreichte mich in Norwegen, der letzten Station einer Lese- und Vortragsreise durch Skandinavien im Auftrag des Goethe-Instituts. Dort lief mir auf Flughäfen und in Bahnhöfen stets aufs Neue der französische Schriftsteller Claude Simon über den Weg, der vor Kaffeekränzchen seine später mit dem Nobelpreis prämierte Prosa las, während ich Tanzsäle und Turnhallen mit meinen Darbietungen füllte: eine Frage der Sprachbarriere, nicht der literarischen Qualität. Jedes Mal, wenn eine Blondine im Pelzmantel am Steuer eines Mercedes vorfuhr, stieß mich Claude Simon mit dem Ellbogen in die Seite und sagte: »Die ist für dich – mich holt niemand hier ab!«

Ich weiß nicht, ob der lange Arm der DDR-Staatssicherheit bis nach Oslo reichte, aber nicht nur das norwegische Publikum, dem man es hätte nachsehen können, auch die Mitarbeiter des Goethe-Instituts schienen über die Ausbürgerung Biermanns nicht allzu empört zu sein, und ihr Protest gegen Erich Honeckers absolutistische Willkür klang äußerst gedämpft. Nur Claude Simon schlug andere Töne an: »Diesen Leuten ist alles zuzutrauen«, sagte der große Romancier, der im Spanischen Bürgerkrieg und im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, dies aber, anders als Jean-Paul Sartre, der sich damals drückte, nie an die große Glocke hing. Als Sartre ihn mit dem Totschlagargument kritisierte, ein verhungertes Kind in Biafra wiege schwerer als ein Roman von Claude Simon, konterte er mit dem Satz: »Seit wann werden Babyleichen und Bücher auf der gleichen Waage gewogen?«

»Denen ist alles zuzutrauen«, sagte der Maestro des nouveau roman und sah mich mit seinen an Picasso erinnernden, übergroßen Augen an: »Denen ist alles zuzutrauen, sie schrecken vor nichts zurück!« Und er trug mir Grüße an Wolf Biermann auf, die ich hiermit ausrichte.

Tunnel über der Spree

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