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Hans Magnus Enzenbergers langer Weg nach Westen

Wer war oder ist Hans Magnus Enzensberger? Obwohl ich ihn seit über einem halben Jahrhundert kenne und nie aus den Augen verlor, bleibt seine Persönlichkeit mir so rätselhaft wie seine literarische Physiognomie. Beim Schreiben seines Erinnerungsbuchs mit dem sprechenden Titel Tumult muss es ihm ähnlich ergangen sein, denn der Blick zurück auf die Zeit um 1968, eine wichtige Weichenstellung seines Lebens, fördert zwar unbekannte, wissenswerte und überraschende Einzelheiten zutage, aber Enzensberger tut sich schwer, zu sagen, was er wollte und wer er war. Beim Häuten der Zwiebel hat Günter Grass das jedem Memoirenschreiber vertraute Dilemma genannt, doch der Verfasser der Blechtrommel blieb seiner Geburtsstadt, sich selbst und der SPD treu und legte, von Buch zu Buch, neue und aktualisierte Versionen der Danzig-Trilogie vor. Anders Hans Magnus Enzensberger, der sich in jeder Schaffensphase neu erfand, bis er selbst nicht mehr wusste, hinter welcher Facette seiner multiplen Persönlichkeit das Ich des Autors sich verbarg:

»Sein wahres Wesen kennen wir nicht; ein Geschöpf, an dem seine und unsre Einbildungskraft nicht weniger teilhat als die Geschichte: ein Kobold und Bürgerschreck, Komödiant, erotisches Genie, genialer Sammler wunderbarer Geistesschätze, aber auch ein radikaler Artist, der Verse ohne Vorbild schrieb, auf der Höhe seines Lebens von einer Bekehrung ereilt, die sein Leben in zwei Stücke gespalten hat, unberechenbar, nie ganz zu durchschauen …«

Ich habe mir die Freiheit genommen, stark verkürzt aus Enzensbergers Doktorarbeit über Brentano zu zitieren, ohne den Dichter beim Namen zu nennen, um deutlich zu machen, wie verblüffend genau der in den fünfziger Jahren geschriebene Text den Werdegang seines Autors vorwegnimmt, einschließlich der politischen Bekehrung, die diesen zehn Jahre später »ereilte«.

Damit nicht alles falsch wird, eine Einschränkung: Enzensbergers Wandlung vom Dichter zum Revolutionär geschah nicht über Nacht, und anders als etwa Peter Weiss hat er sich nie zum »real existierenden« Sozialismus bekannt und blieb auch in seiner dogmatischen Phase ein Nonkonformist. Aber es gibt einen Text vom Februar 1968, der einer Konversion zum Marxismus nahekommt, ein politisches Fanal, das Enzensberger nachträglich zu bagatellisieren versuchte mit dem Hinweis, der offene Brief an den Präsidenten der Wesleyan University sei ohne sein Zutun an die Öffentlichkeit gelangt:

»Herr Präsident, ich halte die Klasse, die die USA beherrscht, und die Regierung, die ihr als Werkzeug dient, für die gefährlichste menschliche Gruppierung der Erde … Sie führt gegen mehr als eine Milliarde Menschen einen nicht erklärten Krieg … Ihr Ziel ist es, ihre politische, ökonomische und militärische Vorherrschaft über jede andere Macht der Welt zu errichten. Ihr Todfeind ist die revolutionäre Umwälzung … Ich habe mich entschieden, nach Cuba zu gehen und dort geraume Zeit zu arbeiten. Das bedeutet für mich kaum ein Opfer; ich fühle einfach, dass ich vom cubanischen Volk mehr lernen und dass ich ihm von größerem Nutzen sein kann als den Studenten der Wesleyan Universität.«

Ich weiß noch, mit welcher inneren Erregung ich diese Sätze las. Ich studierte damals am Writers’ Workshop der University of Iowa und erwog ernsthaft, mein Stipendium aufzukündigen, statt einer verbrecherischen Großmacht als Feigenblatt zu dienen. Für Autoren meiner Generation war Enzensberger eine unbezweifelte Autorität, und ich beneidete ihn um das Privileg, nach Kuba zu gehen, damals eine terra incognita, deren Betreten wenigen Auserwählten vorbehalten war. Dass Enzensbergers Kuba-Aufenthalt zum Fiasko werden würde, ahnte weder er noch ich. Aber es kam noch dicker: Im nächsten oder übernächsten Kursbuch, der Hauspostille der Neuen Linken, empfahl Enzensberger jungen Autoren wie mir Günter Wallraff als Vorbild und verkündete den Tod der Literatur mit den Worten: »Für literarische Kunstwerke lässt sich eine wesentliche gesellschaftliche Funktion in unserer Lage nicht angeben.«

Beim Wiederlesen dieses und anderer Texte von 1968 fällt auf, dass sie ein dadaistisches Element enthalten: Die Lust an der Provokation geht einher mit der augenzwinkernden Versicherung, es sei nicht so ernst gemeint. Enzensberger hielt sich eine Hintertür offen: Statt ihn zu lähmen, scheint die These vom Tod der Literatur seine Produktivität beflügelt zu haben. Mir ging es umgekehrt; ich war zutiefst verunsichert, als habe man mir den Boden unter den Füßen weggezogen, denn seit der ersten Begegnung mit ihm blickte ich bewundernd zu Enzensberger auf. Gegen die einschüchternde Kritik von Ernst Bloch, der mich auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen wollte, verteidigte Enzensberger meinen Text mit den Worten, es handle sich um Kaspertheater. Auch die Studentenrevolte war Kaspertheater – bekanntlich folgt auf die Tragödie die Farce. Aber statt weiter herumzualbern, studierte ich marxistische Theorie, die – von Marx bis Marcuse – weit entfernt war von linksradikaler Verachtung der Literatur: Klassisches Erbe hieß der Fachausdruck dafür.

Was erlebte Enzensberger in Kuba? In einem im Kursbuch abgedruckten Aufsatz bekannte er sich halbherzig zur kubanischen Revolution, und man musste sehr genau zwischen den Zeilen lesen, um die Desillusion zu spüren, die der Autor dabei empfand. Der Text war eine lustlose Pflichtübung – nicht nur wegen der Rekordernte von einer Million Tonnen Zuckerrohr, für die Enzensberger selbst die Machete schwang: ein von Castro diktiertes Produktionsziel, das Kubas Wirtschaft um Jahre zurückwarf. Schlimmer noch war die Verhaftung des mit Enzensberger befreundeten Dichters Padilla, der zu demütigender Selbstkritik gezwungen wurde; noch schlimmer die von Che Guevara lancierte Kampagne gegen Schwule, die in Umerziehungslager gesteckt wurden, weil sie »die Reinheit der Revolution beschmutzten«. Doch es dauerte Jahre, bis Enzensberger Tacheles redete – nicht im Kursbuch, sondern dort, wo man es am wenigsten erwartete, in seinem Poem vom Untergang der Titanic:

»Schuhe gab es nicht und keine Spielsachen / und keine Glühbirnen und keine Ruhe, / Ruhe schon gar nicht, und die Gerüchte / waren wie Mücken. Damals dachten wir alle: / Morgen wird es besser sein, und wenn nicht / morgen, dann übermorgen. Na ja – / Wir wussten nicht, dass das Fest längst zu Ende, / und alles Übrige eine Sache war / für die Abteilungsleiter der Weltbank / und die Genossen von der Staatssicherheit.«

Enzensberger nennt hier die Dinge beim Namen. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich war Gastprofessor in Havanna und bekam am Ende des Semesters mit großer Geste eine Papiertüte mit sechzehn Dollar überreicht, dem Spitzengehalt eines Chefarztes – Prostituierte verdienten in einer Nacht zehnmal so viel. »Das höchste Stadium der Unterentwicklung«: So nannte Enzensberger, auf Lenin anspielend, seine Abrechnung mit dem Realsozialismus, die nicht mehr im Kursbuch, sondern in Transatlantik zu lesen war – schon der Titel des an amerikanischen Vorbildern orientierten Magazins signalisiert, dass der Autor auf seinem langen Weg im Westen angekommen war.

Auf Kursbuch und Transatlantik folgte Die Andere Bibliothek – jeder Band war ein Geniestreich, für den Enzensberger ein Logenplatz im Pantheon der Herausgeber und Verleger gebührt. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs, die offizielle Geschichte, deren inoffizielle Version er in den Memoiren erzählt, wo er dem Leser erstmals Einblick in sein sorgsam abgeschirmtes Privatleben gewährt.

Russischer Roman heißt der Hauptteil seines Buchs, den er in einem Schuhkarton im Keller entdeckt haben will, Aufzeichnungen von Reisen der sechziger Jahre in die UdSSR, wo Enzensberger seiner zweiten Frau Maria Makarowa begegnete und zusammen mit Sartre und anderen Koryphäen der Literatur Nikita Chruschtschow vorgestellt wurde. Das Porträt des bauernschlauen Parteichefs ist ein Kabinettstück präziser Beobachtung, gipfelnd in der Feststellung: »Von seiner größten politischen Leistung ahnt er nichts. Sie liegt in der Entzauberung der Macht … Den Personenkult dementiert er nicht allein ideologisch, sondern durch seine Person.« Dramatischer als jede Haupt- und Staatsaktion aber war die Liebe zu Mascha, der Tochter des Schriftstellers Alexander Fadejew, die Enzensberger, bürokratische Hürden überwindend, in Moskau heiratete und die sich Jahre später in London, dem Beispiel ihres Vaters folgend, das Leben nahm.

Anders als gewöhnliche fellow travellers ließ Enzensberger sich kein X für ein U vormachen und hatte den Propagandaschwindel durchschaut, noch bevor er die oben erwähnte Konversion vollzog. Der Verfasser der Memoiren bekennt seine Ratlosigkeit angesichts dieser Paradoxie, die er nachträglich so kommentiert: »Auch der Mensch war mir fremd, den ich in den Papieren, die ich in meinem Keller fand, angetroffen habe … Ich sah nur eine Möglichkeit, mich ihm zu nähern: Ich wollte ihn ausfragen. Doch war mir weder an einem Verhör noch an einer Beichte gelegen … Das Einzige, was mich interessierte, waren seine Antworten auf die Frage: Mein Lieber, was hast du dir bei alledem gedacht?«

»Sag mir wo du stehst«, lautete ein besonders dümmlicher Refrain aus der ehemaligen DDR, und wer Antworten auf diese und ähnliche Fragen erhofft (Warum schreiben Sie? Wen oder was wollen Sie mit Ihren Büchern erreichen?), der ist bei Enzensberger an der falschen Adresse. Auch Liebhaber erotischer Indiskretionen kommen nicht auf ihre Kosten: Nur einmal vergreift der sonst so stilsichere Autor sich im Ton, wenn er von »nie gevögelten Mädchen« spricht. »Notwendige Fehler sind solche, die jeder andere würde vermieden haben«, schreibt Lessing in seinem Laokoon-Essay, und dazu gehören gelegentliche Ausrutscher wie die Gleichsetzung Saddam Husseins mit Hitler oder die Aufforderung an alle, Handys und Smartphones in den Mülleimer zu werfen. Der Dichter braucht »einen Restbestand von Naivität« heißt es im Schlusskapitel seines Erinnerungsbuchs – gerade das sei es, was der Literatur ihren Freiheitsgrad verschafft. Und Enzensberger setzt hinzu: »Ein Schriftsteller, der Vorschriften für andere Schriftsteller aufstellt, ist ein Idiot.« Demgegenüber meinte Walter Benjamin, ein Schriftsteller, der andere Schriftsteller nichts lehrt, lehre niemanden etwas. Diesen Satz könnte ich Enzensberger entgegenhalten, aber ich lasse es bei der Drohung bewenden.

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