Читать книгу Perlen und schwarze Tränen - Hans Flesch-Brunningen - Страница 6

Warten

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Die vergoldete Biedermeieruhr an der Wand wies mit schwarzen Zeigern halb sechs. Wir sollten uns um halb sechs treffen. Ich wußte, Jane würde nicht vor dreiviertel sechs kommen, bei diesem Nebel! Ich machte es mir bequem. Es würde ja nicht auf lange sein, da wir für heute abend Theaterkarten hatten, und Jane kam gewöhnlich nie mehr als eine Viertelstunde zu spät, wenn es ins Theater ging. Ich habe auf sie schon sehr oft und sehr lange gewartet. Neben mir ein Offizier der Handelsmarine. Neben ihm ein junger Mann mit Schnurrbart, ein recht unangenehmer Mensch, hübsch und eingebildet. Neben ihm eine Dame in mittleren Jahren, einen Turban um den Kopf, die aussah wie eine Ausländerin.

Sonderbar, sich vorzustellen, daß Männer in Uniform heutzutage Vorteile hatten vor unsereinem. Wie anders doch in meiner Jugend! Ich konnte diesen Offizier der Handelsmarine gut leiden. Ich hätte es mir nicht einfallen lassen, seinen vergangenen Wartestunden prüfend nachzugehen. Ich war so gut wie sicher, daß er auf ehrenhafte Weise beigetragen hatte zur Endsumme der verwarteten Zeit auf Erden.

Er hieß höchstwahrscheinlich Charley, jeder zweite Mensch in London hieß Charley. So hatte auch der Mann geheißen, dessen Blumen zu Weihnachten im vergangenen Jahr vor meinen Blumen gekommen waren. Mach dir nichts draus. Dieser Charley hier hatte auf seinen Geleitzug gewartet. Die Schiffe sammelten sich, sein Schiff war als letztes eingetroffen. Trotzdem mußten sie noch drei Tage länger kreuzen, bevor die Zerstörer kamen. Das Wetter war schuld. Er hatte fast vierundzwanzig Stunden lang Deck und Logis inspiziert; und dann begann er zu saufen, mit dem ersten Maat und dann mit dem zweiten Maat. Sie soffen, und die Leute unter Deck sangen ihre Seemannsliedchen. Der Nebel hatte das ganze Geschwader in der Tasche, der Nebel war schuld. Mein Freund dachte an sein Haus in den Midlands, in der Seitengasse einer Kleinstadt, und an seine Schwestern, die er liebte mit mehr als brüderlicher Liebe. Schließlich kamen natürlich die Zerstörer; kein einziger Schuß wurde gefeuert, keine Wasserbombe geworfen. Und da war er auch schon, sein Freund, auch ein Offizier, von der Panzerwaffe, ein Draufgänger; größer und stärker als mein Kamerad aus der Handelsmarine. Sie gingen die Treppe hinauf, zur Bar.

Ich wartete noch immer. Auch der hübsche junge Mann wartete noch. Er sah mehrmals auf seine Taschenuhr und verglich die Zeit seiner Taschenuhr mit der Zeit der Biedermeieruhr an der Wand. Die Zeit ist ein relatives Ding, sagt Professor Einstein. Und Dunne. Und J. B. Priestley schreibt dann gute kleine Theaterstücke darüber. Das Unglück ist: ich weiß. Ich weiß fast alles. Falsch – ich weiß nichts von Physik und Biologie und Chemie. Ich bin ein wenig hinter der Zeit zurück. Jane aber auch.

Der hübsche junge Mann stand auf und ging auf und ab. So hatte er auf die Prüfungskommission gewartet; in seiner Heimat auf dem Kontinent, dort hatte man noch mündliche Prüfungen. Die Herren hatten ihn nach der Prüfung allein gelassen; draußen, in einem kleinen, halbleeren Zimmer sprachen sie dann über das Wetter und ließen die Kandidaten warten. In Zivilrecht war er ganz gut gewesen; was half das aber, wenn er in Strafrecht schwach war? Was half das alles, wenn man doch nicht wußte, ob die Faschisten dich überhaupt haben wollten, trotz guter Resultate und aller möglichen Verdienste? Dieser junge Mann war damals sogar hübscher gewesen, als er jetzt nach sechs Jahren Verbannung ist. Und er war damals kein solcher Zyniker, obzwar er noch hübscher war. Fräulein Eitelberg, Vorname Else, Fräulein Else Eitelberg, hatte damals zu ihm gesagt: Zuerst mach deine Prüfungen – dann werden wir sehen. Jetzt kam das Corpus Professorum zurück, und der jüngste von ihnen lächelte. Der junge Mann war durchgekommen, und Fräulein Eitelberg zuckte die Achseln und sagte: Zuerst such dir Arbeit – dann werden wir sehen. Er konnte keine Arbeit kriegen, und plötzlich machte er sich auf eine lange Reise. Er setzte sich, eine Sekunde lang, und stand wieder auf und ging in die Telephonzelle. Wahrscheinlich wünschte er sich zu vergewissern, ob sie schon von zu Hause fortgegangen war. lch wartete noch immer. Sollte ich versuchen, sie anzurufen? Sie mußte schon gegangen sein. Sinnlos. Ich fragte mich, ob ich das Wechselgeld fürs Telephon bei mir hatte. Ich werde meine Zeitung weiterlesen. Es war ja Krieg. Rundstedt hatte einen Durchbruch gemacht, die Nachrichten waren scheußlich. Die Dame mittleren Alters starrte in die leere Luft. Wien? Prag? Was für ein Krieg das nur war! Wir alle waren Abenteurer gegen unsern Willen, ohne jegliche Begabung für Abenteuer. Drake und Raleigh waren nicht Frauen von Geschäftsleuten mittleren Alters. Sie hatte endlose Tage auf ihr Visum gewartet, sie hatte wochenlang auf dem Konsulat herumgesessen, ihr Kind war schon in England, und in ein paar Tagen würde man die Grenzen sperren, ein Krieg würde ausbrechen – wer spricht wieder von Krieg? Sie bekam schließlich ihr Visum, und sie kam auch nicht zu spät, es gab sogar noch einen Zug, nachdem ihr Zug abgegangen war. Doch welche Angst! Wie ihr Herz klopfte, als der Beamte an der Grenze mit dem Paß in ein anderes Zimmer verschwunden war! Sie starrte in die leere Luft.

Ich wartete noch immer. Ich vermochte nicht zu lesen, die Buchstaben tanzten mir vor den Augen. Sie ist eine gute Tänzerin. Ich sollte mit ihr öfter tanzen gehn. Ich aber denke nur immer an den großen Tanz, der da heißt: »Der Tanz der Liebe und des Todes«, im Bett und unter der Erde.

Ich hatte gewartet: Nummer 2 am Geschütz, Weltkrieg Nummer 1. Der diensttuende Offizier ließ uns »Habt-Acht!« stehen, es war ein heißer Tag. Da standen wir; Nummer 2 durfte sich nicht niedersetzen, niemals. In der alten Armee herrschte Disziplin.

Ich hatte gewartet; ich hockte in dem seichten Graben und wartete auf Ablösung. Die Russen hielten gewöhnlich um diese Zeit gerade unsern Teil des Waldes unter Schrapnellfeuer. Ich ging auf und ab und wartete, daß das Schrapnellfeuer beginne. Die Dämmerung kam herab, auf die Schneisen und Wälder und Bäche und Wiesen von Wolhynien. Ich wartete auf die Ablösung; vielleicht war der Mann auf dem Weg zu mir verwundet oder getötet worden und ich müßte noch eine weitere Nacht in dieser Hölle warten.

Ich hatte an der Bar gewartet. Ich trank einen Schnaps nach dem andern. Ich war völlig betrunken. Ich wußte nicht, ob sie überhaupt kommen würde. Ihr Mann war eifersüchtig, ihr Mann war mein bester Freund. Ich hatte nur wenige Freunde in dieser fremden Stadt. Wenn sie nicht kam, dann hieß das, daß sie mich aufgegeben hatte. Ich trank noch einen Schnaps, der Kellner grinste. »Da kommt sie«, sagte der Kellner. Sie hatte an diesem Nachmittag einen großen runden Hut getragen. Sie wird ihre Scheidung schon durchsetzen, und dann werden wir zusammenleben in alle Ewigkeit, amen, und ich werde nie mehr warten müssen.

Ich hatte auf die Rückkehr meiner Manuskripte gewartet. Das waren die Tauben des Friedens, die Boten des Wohlwollens; das waren die Raketen, die ich in den Himmel gefeuert hatte: meine Werbung und mein Werk. Die Manuskripte lagen wochenlang auf den Schreibtischen der Lektoren in den Verlagen, und dann nahmen die Lektoren sie zu sich nach Hause und lehnten sie ab. Ich wartete jeden Morgen auf die Klingel, und im Nebenzimmer jammerte und klagte Maria, weil sie nicht rechtzeitig ihr Frühstück bekam. Dreimal öffnete ich die Türe und sah ins Treppenhaus hinaus; und beim viertenmal lag das Paket mit dem Manuskript quer über der Türmatte wie ein Hinrichtungsbefehl.

Ich hatte gewartet, als ich ein Kind war, daß etwas komme und meine Einsamkeit breche. Ich hatte keine Schwestern, ich hatte keine Brüder, ich hatte keinen Vater. Meine Mutter war mit ihren Freunden ausgegangen. Ich wartete auf die Klingel, sonst nichts. Irgendwas Aufregendes, irgendwas Menschliches würde läuten und unsre vier Zimmer mit Farbe und Duft füllen. Und endlich ging die Klingel. Der Milchmann hatte die Milchflaschen ein wenig abseits hingestellt; als ich die Türe öffnete, konnte ich sie nicht gleich sehn. Sie wurden früh genug sichtbar.

So hatte ich auf alle möglichen Dinge und Menschen und Entscheidungen gewartet – daß das Leben beginne und der Tod ende. Ich hatte auf diese junge Dame gewartet, auf Miß Jane Smith, Fräulein Johanna Schmidt. Im Dunkel und im Freien, im Sonnenschein und im Regen; und es tat mir gut, hier zu sitzen, in Helligkeit und Wärme. Ich hatte vor Swan & Edgar gestanden; und als sie kam – es war das erstemal – hatte ich fast vergessen, wie sie aussah. Sie trug einen schwarzen Turban und sie blickte mir ins Gesicht, als ob auch sie nicht wüßte, wer ich war. Ich war stolz auf sie, stolz, die andern weiterwarten zu lassen, auf andre, die nicht so hübsch, so anziehend, so berückend, so verführerisch waren. Ich hatte auf sie vor dem »Empire« gewartet. Ich wurde nervös, weil die Verdunkelung kam und ich im Zweifel war, ob ich sie mitten in dieser Nacht auch finden würde. Sie ließ mich damals dreiviertel Stunden warten. Als sie dann kam, war sie in großer Eile. Sie trug ihr grünes Kleid, und ihr Pelzmantel war nicht ganz zugeknöpft. Ich stürzte zur Kasse und nahm die Karten, der Film hatte bereits begonnen. Wir setzten uns, und sie sagte leise: »Sie sind ja sehr vorsichtig.« Ich erinnere mich an jedes Wort, das sie mir sagt, wenn die Worte aus ihrem Unbewußten aufsteigen, oder was immer sie dort haben mag, wo andre Menschen ihre Seelen und Herzen tragen. Sie kam nicht zu unsrer Mittagsverabredung im »Strand«, aber zwei andre Mädchen, die ich kannte, gingen vorbei und lachten mir ins Gesicht. Schließlich sah ich sie von weitem; ich sah ihr Gesicht, wie es im Strom der gleichgültigen Gesichter auf und ab tanzte, und ich wußte auf einmal, wie ich sie liebte, und wie ein Leben ohne sie, ohne dieses Warten auf sie einfach unmöglich sein würde. Und ich dachte zum erstenmal: »Eines Tages werde ich sie umbringen –« Ich wartete in verschiedenen Kneipen auf eine Antwort von ihr am Telephon; den ganzen Nachmittag hatte ich sie angerufen, es war sehr heiß auf der Straße, und das Bier in diesen Kneipen mochte ich nicht. Ich trank also Schnaps und dann versuchte ich, sie wieder anzurufen. Sie hatte schon vorher gesagt, sie würde wahrscheinlich gar nicht zu Hause sein; aber versuchen muß man, ob man eine Chance hat. Keine Antwort am Telephon, diesen ganzen Nachmittag. Ich war von einem kurzen Urlaub zurückgekommen, den ich mit meinen Freunden, den Cooks, an der Küste verbracht hatte, und ich rief sie von Waterloo an und ich wollte sie sofort sehen, aber sie sagte: »Aber nein, nein – nicht vor sieben oder sagen wir halb acht.« Ich ging also in den »Green Man«, und die Kneipe war voll von billigen Soldaten und billigen Huren, und ich trank eine ganze Menge und das machte mich glücklicher aussehen, und ich war ganz rot und sonnverbrannt und heiß im Gesicht, als ich zu ihr in die Wohnung kam. Ich erzählte ihr eine Geschichte, ich sei eine Klippe hinuntergefallen; es war nicht ganz wahr, doch wahr genug, nur etwas weniger romantisch. Vielleicht hatte ich wirklich eine Gehirnerschütterung, wie ich es erzählte, mein Kopf drehte sich auf ganz seltsame Weise.

Ich wartete drinnen und draußen vor »Strickland House«, das ist das Büro, wo sie arbeitet. Ich wartete auf dem Korridor und in der Telephonzelle im Korridor, so daß ich sie sehen konnte, wenn sie aus dem Restaurant oder aus der Bar zurückkam. Ich sah nur ihren Rücken und ihr berühmtes Hinterteil, und wieder bemerkte ich, rein durch Zufall, was für schöne Beine sie hat; ich sah auf ihre Beine, als gehörten sie zu einem andern Mädchen. Ich dachte, ich sei jetzt nahezu fünfzig, und daß sie überhaupt für mich viel zu hübsch sei.

Aber diesmal wollte ich nicht länger warten. Ich wollte gar nicht daran denken. Es war unsinnig, sie zu Hause anzurufen; die alte Dame, die mit ihr wohnte, würde sicherlich nicht wissen, wo sie war. Außerdem waren beide Telephonzellen besetzt. Amerikanische Unteroffiziere sprachen mit ihren Mädchen, um festzustellen, ob sie sich bei diesem Nebel hinauswagten. Ich begann die Zeitung zu lesen. Ich hielt das Blatt vors Gesicht und drehte mich um, um besser zu sehen.

Perlen und schwarze Tränen

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