Читать книгу Perlen und schwarze Tränen - Hans Flesch-Brunningen - Страница 9
Hinrichtung
ОглавлениеIch habe vorher gesagt, daß der Diener in der Herrentoilette ein Neger war, doch seine Haut war nicht ausgesprochen schwarz. Die Farbe war eher gelblich, an den Wangen dunkler und um Augen und Mund lichter. Er beugte sich mit großer Würde nieder und begann, meine Schuhe zu bearbeiten. Er war nicht gesprächig, und ich fühlte mich vereinsamt. Ich sagte etwas über den schrecklichen Nebel, doch der Mann bürstete drauflos, in unbeirrbarer Berufsmäßigkeit. Plötzlich bemerkte ich, daß auf dem Oberleder meiner Schuhe weiße Flecken und Punkte erschienen. Buchstaben formten sich, und bald konnte ich zwischen Schuhspitzen und Absätzen in winzigstem Druck Schlagworte wahrnehmen. Ich las: »GATTE LIEGT OST, GATTIN LIEGT WEST«; und: »EIN ALTER KLASSIKER«; und: »MR. BROWN, FAKTOTUM DES LEDIGEN BISCHOFS«; und: »HOAMG’FUNDA!« – eine Inschrift, die mir besonders widerlich erschien, ich mußte mich vor Scham und Schmerz nahezu erbrechen. Wir waren völlig allein in der Herrentoilette, ich fragte also den Mann sofort, was das zu bedeuten habe; ob er sich nicht darauf verstehe, richtig Schuhe zu putzen oder ob das ein Reklametrick sein sollte für dies oder jenes. Er gab keine Antwort und arbeitete weiter.
Ich zwang mich, nicht hinunterzusehen, und blickte mich um. Ich lauschte auf die langsam fließenden Bäche, die die Marmorplatten hinabströmten, eine Zeitlang in regelmäßiger Spärlichkeit, dann auf einmal in stärkerem Strom, wie ein Wasserfall brausend und zischend, als müsse das Wasser in einem einzigen Schwung den aufgespeicherten Schmutz der Jahrhunderte wegspülen. Ein zweiter Kunde trat ein; und hinter einem Vorhang trat ein zweiter Schuhputzer in Erscheinung, ein Mann von weißer Hautfarbe, der teuflisch grinste und sich an das zweite Paar Schuhe machte.
Ich warf einen verstohlenen Blick hinüber und bemerkte dort dieselbe Erscheinung. Dort konnte ich lesen: »FRONT VORSPRUNG WIRD ABGESCHRIEBEN« und: »FRAU DES DOPPELMORDES ANGEKLAGT« und: »ICH SAH JUNGE BURSCHEN IN EINEM NETZ« und: »TAUBSTUMME FUSSBALLMANNSCHAFTEN«. Ich fühlte mich erblassen, mit einem Schwarzen konnte ich es in der Hautfarbe bestimmt nicht aufnehmen. Ich mußte weiß sein wie Elfenbein, fast so weiß wie die Marmorfliesen des Pissoirs. Der Schwarze war mit der Arbeit fertig. Ich deutete auf meine Schuhe, die ihre Schlagworte deutlicher zeigten denn je. »Was soll das heißen?« fragte ich recht verärgert. »Schluß mit diesen Dummheiten! Für Eure billige Reklame zahle ich nichts.«
Der Neger kümmerte sich nicht um meine Worte. Er bürstete jetzt meinen Überrock ab, mit graziösen Gebärden, fast zärtlich. Er fuhr mit der Bürste über meine Ärmel und dann über meine Brust. Ich las: »WEIBLICHE GANGSTER IN PICCADILLY« und: »DU MUSST LERNEN ZU HASSEN« – das war über meinem Herzen eingeschrieben und auf meinem rechten Ärmel: »KÖNIGLICHE KRAWATTENNADEL VERLOREN« und auf meinem linken: »SPIELZEUGRAUB AN KLEINKIND«.
Ich wandte mich dem andern Kunden zu, der mit dem zweiten Diener ein lebhaftes Gespräch angeknüpft hatte; sie sprachen über Pferderennen. An seine Brust war geschrieben: »SCHULARBEITEN VERLESEN IN BEWEISVERFAHREN«; sein Rücken wies die Inschrift: »PROBLEM DER WOCHE!« mit einem großen Ausrufungszeichen dahinter. Weiß Gott, welche Mahnworte in meinem Rücken eingegraben waren.
»Aber das ist doch einfach Blödsinn«, rief ich und zeigte auf meine Schuhe. »Können Sie denn nicht lesen? Bezahlt man Sie dafür?« Der Schwarze zuckte mit den Achseln. Er sagte: »Es ist die Wahrheit. Es steht in der Zeitung. Wir sind von Zeitungen eingewickelt.« Mein Negerdiener streckte die Hand hin, ganz wie ein alter Bettler, der alte Ansprüche hat. Ich mußte ihm was geben. Ich fischte aus der Tasche einen Schilling, doch der alte Neger schüttelte den Kopf. »Geben Sie mehr und ich zeige Ihnen auch mehr«, sagte er. Ich war wütend, mußte aber seine Würde bewundern. Als ich ihm dann eine halbe Krone gab, schien er endlich zufrieden zu sein. »Sehen Sie mal zu, was jetzt passiert!« sagte der andre Kunde. »Ich habe meinem Mann nur zwei Schillinge gegeben. Der ist dabei wenigstens ein Christenmensch.« Ich war schwindlig, als sei ich auf einem Ringelspiel gefahren. Die Marmorplatten traten in den Hintergrund zurück. Das Wasser fiel in einem gewaltigen Sturz nieder und hörte dann plötzlich auf zu fließen. Meine Augen öffneten sich, und mein Mund schrie: »Ich weiß! Oh, ich weiß! Es ist ihre Schuld! Die Journalisten!«
Vor der wässerigen Fläche, in verschiedenen Stellungen und Gestalten, erschienen die Journalisten. Sie waren aneinandergekettet und schoben Arme und Beine in ruckartigen Bewegungen hin und her. Sie brüllten und schrien mit hohen Stimmen, und mit ihren Händen schienen sie unsichtbare Worte in die Luft zu schreiben. Dort stand ein alter Mann mit einem langen, grauen Bart, der ihm die halbe Brust bedeckte. Dieser da sah bleich drein; ein andrer war frech und fesch; jener wieder hatte einen kecken Schnurrbart. Auch eine junge Frau stand mitten unter ihnen, ein kleines Reptil mit einer schlanken Figur und abgebissenen Fingernägeln. Überhaupt hatten alle was an ihren Fingernägeln in Unordnung. Es waren unnatürliche Nägel, im ganzen zu kurz, schmutzig und mit Tintenflecken bis zum zweiten Fingerglied hinauf. Sie wanden sich alle, als fühlten sie Schmerz, doch aus ihrem Geschrei konnte ich einen Ton höllischen, triumphierenden Gelächters heraushören.
Als ich auf sie zu schießen begann, brachte auch mein Kollege eine Maschinenpistole zum Vorschein und untermalte die Salven meines Maschinengewehrs mit den härteren Tönen der kleineren Waffe. Ich lief ihre Reihe ab, von rechts nach links; und dann kehrte ich mich um und nahm sie von links nach rechts unter Feuer. Zuerst schienen sie unverwundbar zu sein; sie setzten einfach ihre frühere Tätigkeit fort, wobei sie bloß ein wenig lauter schrien und noch herausfordernder lachten. Mein Zorn wuchs, und ich versuchte, sie zu überschreien. Mein Kollege grinste und tat seine scheußliche Arbeit.
Denn scheußlich wurde sie. Als ich ihre Reihe zum drittenmal abgelaufen hatte, schien ich endlich Blut zu ziehen. Als erster fiel der junge Mann mit dem bleichen Gesicht – er konnte wegen seiner Ketten den Boden nicht berühren, so hing er also da, schwebend zwischen den Gestänken in der jauchigen Luft. Und als dann der Greis mit dem grauen Bart zum fünftenmal getroffen wurde, da mußte auch er aufgeben; er platzte mit einem Lachen heraus und ließ den Kopf in den Tod fallen.
Damit hatte es noch nicht sein Bewenden. Zwischen den Beinen der Sterbenden kamen andere zum Leben. Sie sahen aus wie Zwerge, doch nicht verkrüppelt oder unnatürlich; eher wie Liliputaner. Meistens waren es Frauen, alte und grauhaarige Frauen, aber auch junge und frische, mit Kindern dazwischen, die noch winziger und lächerlicher aussahen. Alle begannen ein ungeheuerliches Weinen und Heulen; und ich konnte sie ganz gut verstehen, wenn sie schrien: »Erbarmen! Gnade! Wir sind unschuldig! Wir haben nichts verbrochen! Schont uns! Wir sind die Witwen und Waisen! Gnade! Erbarmen!«
Ich schonte sie nicht. Ich hielt nicht inne, die Bösen zu töten, die verantwortlich waren für die Schlagworte auf meinen Schuhen, und für die Schlagzeilen, und für die Bilder zu dem Text, und für die Wirklichkeit zu den Bildern und für das Elend in der Geschichte dieser Welt. Ich erkannte die Lebenden unter den Sterbenden und erledigte sie. Auf jeden schoß ich mehrere Male, meine Munition war unerschöpflich. Ich schoß sie in den Kopf und ins Gesicht, in die Brust und in den Bauch. Ich sah ihr Hirn heraussickern aus der zerschmetterten Schädeldecke und ich sah, wie sich ihre guten Anzüge unter meinen Kugeln zu elenden Fetzen verwandelten. Ich lächelte über die sonderbaren Verdrehungen ihrer zerbrochenen Gliedmaßen, und mein Kollege sagte zu mir: »Das ist recht! Lächle und die Welt lächelt mit dir –«
Draußen in der Vorhalle war ein Lautsprecher angebracht, und dieser Lautsprecher fiel dröhnend ein mit dem bekannten Schlager. Die Musik war laut, doch das Gebrüll und Geschrei der Frauen und Kinder und das Todesröcheln der hingerichteten Journalisten war noch lauter.
Der Gestank des Blutes überstank den Geruch des Desinfektionsmittels und der Exkremente. Die ganze Zeit hatte ich mich gefragt, wann wohl die berühmten Blutlachen auftauchen würden, doch dann sah ich an meinem Überrock hinab und sah meine Schuhe an, wo jetzt die Inschriften verschwunden waren, und ich trocknete mir das Gesicht mit einem Taschentuch, denn ich litt unter der Hitze und dem Staub, und da entdeckte ich, daß zwar kein Blut floß, aber etwas viel Böseres: eine blaue, klebrige Flüssigkeit, die ich nicht kannte. Die Luft wurde damit gesättigt, und verwandelte sich rasch in eine dunkle und klebrige Masse. Ich konnte kaum aus den Augen sehen, doch ich schoß weiter drauf los, und mein Nachbar tat das gleiche. Die beiden Schuhputzer hatten uns schon lang verlassen. Ich schoß, und die anderen lachten und schrien und weinten, und so ging es weiter.
»Seid Ihr unsterblich?« schrie ich und ließ mein MG fallen und sprang vor, um den Rest mit nackten Händen zu erwürgen, Frauen und Kinder und alle.
Doch ich berührte sie nicht. Als ich meine Hände dicht vor ihren Hälsen hielt, verstummte die Musik in der Halle, und eine klare Stimme sagte: »Ihre junge Dame ist soeben eingetroffen. Beeilen Sie sich, sonst verfehlen Sie sie. Sie ist bereits auf der Treppe zur Bar.«