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Wasser

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Und ich wartete. Ich wartete weiter.

Ich konnte an der Bewegung des Vorhangs vor der Drehtür sehen, wenn jemand hereinkommen würde. Der rote Stoff wurde hin und her bewegt, hereingeblasen und fiel dann wieder traurig zurück, nachdem die Person in die Vorhalle getreten war. Wenn die Türe einen starken Stoß erhalten hatte, drehte sie sich noch weiter, doch es waren nur Nebel und Geister, die hereinschwebten und vorüberwehten – niemand trat hervor. Ich spielte raten, wie der nächste aussehen würde, der hereinkam; ob ein Zivilist oder ein Soldat, und von welcher Armee, ob ein Engländer oder ein Amerikaner. Einige waren vom Licht geblendet, und alle hatten Kleider und Gesichter und Hände voll mit Nebel. Doch vorwärts, mein kleiner Verstand, lies Zeitung!

Die Buchstaben begannen ihren Tanz in den Unsinn. Die Zeilen explodierten und zeigten die jenseitige Bedeutung, das Innere von Zeit und Raum. Ich versuchte, mit den Augen etwas festzuhalten, doch mein Bewußtsein lief davon. Die Zeiger der Uhr liefen davon. Ich wartete noch immer.

Plötzlich platzten sieben oder acht Soldaten in den Raum. Es waren Amerikaner, mit auffallenden Rangabzeichen auf den Schultern, ihre Backen rot von Suff und Nässe. Sie stellten sich mitten in der Halle in einer Reihe auf und hielten sich an den Händen, als wollten sie ein Ballett beginnen. Ihre Füße schrieben Kreise auf den Teppich und ihre Münder standen offen wie die Mäuler von Fischen. Aber sie waren nicht stumm, diese Fische.

Sie tanzten, ohne ihre Leiber zu bewegen. Sie sprachen, der eine übernahm das Stichwort vom andern, wiederholte es und schwellte so den fürchterlichen Chor. Alle waren sie von tödlicher Munterkeit: aus ihren Rüsseln kam das Geräusch von Maschinen. Während sie sich rührten, verloren sie ihre Hosen: es tauchten Röckchen auf, als wären sie alle Mitglieder der griechischen Gebirgstruppe.

»Die Deutschen fanden die schwache Stelle. Nationale Überlegungen wurden über Bord geworfen. Man läßt den Feind nach seiner Flöte tanzen. Das Schlachtfeld war unordentlich. Es war eine der interessantesten Schlachten. Verletzbare Stellen. Bieg ihn ab, schreib ihn ab. Ich könnt ihn schön verdreschen. Je länger der Krieg dauert, desto ärger ist es für die Deutschen. Der Feind hat uns erwischt. Am Neujahrstag. Am Weihnachtstag.«

Ich war aufgesprungen. »Was schwätzt ihr denn da für Zeug zusammen?« schrie ich, so laut ich konnte. Ich scherte mich einen Dreck um die feine Umgebung. Scherten sich denn die? »Aber Junge, Junge!« brüllte ein Feldwebel. »Reg dich doch nicht auf. Da ist die Deinige, auf die du so lang gewartet hast.«

Die Soldaten entließen aus ihrer Mitte eine alte Frau, mit schäbigen Kleidern und rührendem Gehaben. Ich schaute wieder in die Zeitung hinein. Die Nebelschleier hatten sich zwischen das Blatt und meine Augen geschoben.

Die Frau hatte ein ganzes Leben lang auf Arbeit gewartet. Am vorigen Donnerstag schickte man ihr einen Zettel, auf dem stand, sie solle hinüberkommen und sich für eine herrliche Abwechslung bereit machen. Sie nahm ein Bad und ging die Straße hinunter, wo an der Ecke ein Lastwagen auf sie wartete. Ungefähr um zehn Uhr traf sie in der Kantine an der See ein. Man drängte sie in eine halbverfallene Bude und sagte ihr, sie würde eine der Empfangsdamen für die heimkehrenden Soldaten sein. Sie mußte ein paar Teller abwischen und Papierblumen auf die langen Holztische stellen. Die Sirenen gaben Fliegeralarm, doch statt der Bomber kamen Schiffe mit Truppen auf Urlaub.

Die Urlauber waren außerordentlich schmutzig und schlecht gelaunt. Sie sagten, sie seien fast erfroren. Einige Mädchen in Uniform trafen ein und warteten den Soldaten mit heißem Tee und mürbem Gebäck auf. Die Stimmung wurde gemütlicher. Die Frau bemächtigte sich eines jungen Mannes mit Korporalsstreifen, der sie irgendwie an ihren Sohn erinnerte. Man taute allgemein auf, ein paar summten und einer sang ein Seemannslied; er kam aus dem schottischen Hochland. Die Frau servierte ungefähr siebenhundert Tassen Tee, dann wurde sie ohnmächtig, ein glückseliges Lächeln auf dem Gesicht. Die Soldaten sangen immer lauter und lauter, eine neue Lokomotive wurde ihnen auf warmer Schüssel zur Verfügung gestellt. Der ganze Haufen bestieg den Zug, die Bäuche leicht geschwellt, der Tee floß ihnen aus den Nasenlöchern. Die Frau ging zu Fuß nach Hause.

Sie fand ihren Mann in der Küche, da saß er und die Tränen strömten ihm übers Gesicht. »Du mußt nicht erschrecken, es ist alles nur Freude, reine Freude! Was für ein Glück, Glück des Glasers!« »Aber du bist doch gar kein Glaser«, sagte die Frau. »Ich war’s. Von morgen an werden wir aber beide für den Bischof arbeiten!« »Was für ein Bischof?« fragte die Frau. »Für den Bischof, der aus Indien kam. Den Bischof von St. Albans«, sagte ihr Gatte.

Einen Tag später waren sie im bischöflichen Palais untergebracht. Sie fanden ihre Livree, die war von Motten zerfressen; und sie paßte ihnen auch nicht in der Länge. Die Küche war voll Küchenschaben, die um den Herd wimmelten. Die Zimmer waren eiskalt. Das Palais war so groß, daß sich die Frau am ersten Morgen verirrte und zu der Feierlichkeit im Dom um zehn Minuten zu spät kam. Doch sie bewahrten Haltung, wenn sie jemanden am Haustor zu empfangen hatten. Gäste trafen in Rudeln ein; darunter waren auch Inder, die den kalten Bischof gekannt hatten, als er noch jung und warm war. Die Frau versuchte Feuer zu machen; da mußte noch für die Gasterei eine ganze Sau gehäutet und gebraten werden.

Ich mußte noch immer warten. Immer warten.

Doch als die Festlichkeiten vorüber waren und sich des Bischofs die weibliche Feuerwehr des Ortes annahm, hatte sich die Frau um eine andre Beschäftigung umzusehen. Sie wurde mit ihrem Mann in einem Sonderautobus der anglikanischen Kirche heimgebracht, und da der Autobus leer war und sie bis in die Knochen fror, kuschelten sich Frau und Mann aneinander und begannen, das alte Spiel wieder zu spielen.

»Es ist unser Hochzeitstag«, sagte der Mann. »Feiern wir ihn zu Hause.« »Für die Feier gibts kein Feuer, und der elektrische Strom ist abgestellt.« »Dann gehen wir eben ins Bett. Ich trage dich«, sagte der liebende Gatte. Er schulterte die Gattin und trug sie über die Schwelle, eine alte und ehrwürdige Sitte.

Ach, sie hatten leider den treuen Liebhaber vergessen, aus Burma eben heimgekommen. Er hatte auf die Frau im dunkeln Vorzimmer gewartet, und als er das schreckliche Schauspiel sah, wie eine Frau von ihrem gesetzmäßigen Mann getragen wurde, sozusagen in den Armen des Gesetzes, da gedachte er der Gesänge der Ahnen und griff zum Revolver und schoß der Frau eine Kugel ins Hirn.

Die Kugel blieb drin stecken. Die Frau war schwer verletzt. Sie verlor das Bewußtsein nicht. In einem Brief voll Liebe und Verzeihen schrieb sie an den Soldaten, der eben heim aus Burma gekommen war: »Ich hoffe und bete einzig und allein, daß Du mich so liebst, wie ich Dich liebe, denn wenn Du das tust, dann können wir von neuem beginnen, Liebling, von nun an sollen es nur Du und ich und mein Mann sein.«

Als die Frau aus der Spitalbehandlung entlassen wurde, erwarteten sie draußen beide Männer. Der Gatte sagte: »Kopf hoch – eine gute Nachricht!« Die Gattin erwiderte, und sie war noch immer böse auf ihn: »Wieder ein Bischof, nehme ich an?« »O nein«, sagte der Mann. »Falsch geraten. Ich habe geerbt, von der guten alten Gripsy. Sie ist gestorben, während du weg warst. Einen blauen Lappen pro Woche, wenn ich die Sorge für ihre Schoßtierchen übernehme.« »Und was sind ihre Schoßtierchen, wenn ich bitten darf?« »Zwei Kanarienvögel, sieben Goldfische, drei Katzen«, sagte der Mann, und da war auch schon die Hälfte der Freude dahin, die er vorher empfunden hatte.

»Gehn wir uns unterhalten«, sagte der Liebhaber-Soldat und nahm den Arm der Frau. »Wir wollen uns alle vertragen. Ich habe Karten, die kosten mich nichts. Ich hab sie mir hintenherum verschafft.«

So gingen sie sich unterhalten. Sie gingen zu einem Fußballmatch auf dem Spielplatz des Fußballklubs Aldershot, wo zwei taubstumme Mannschaften gegeneinander spielten. Da keiner der Spieler die Pfeife des Schiedsrichters hören konnte, bediente man sich roter und grüner Fahnen: rot für »off-side« und grün für »out«. Am Schluß hätte die siegreiche Mannschaft gerne vor Freude geschrien, aber so standen sie nur herum mit offenem Munde.

»Wo sind meine Soldaten hin? Und warum ist meine Dame noch nicht gekommen?« donnerte es von der Wanduhr. Ich wartete noch immer.

Die Frau wurde wieder verletzt, als sich alles um die Ausgänge drängte und plötzlich einer von den Taubstummen schrie: »Da kommts!« Es war jedenfalls keine Flugbombe, sondern der Auspuff eines Autos, das vom Benzin besoffen war. Der Taubstumme war erschüttert über das Wunder, das ihn mehr überrascht hatte als die andern.

Die Frau wurde in ein andres Krankenhaus gebracht. Das Essen war dort besser als im ersten Krankenhaus, und sie befreundete sich mit mehreren Frauen in den Nachbarbetten.

»Und wissen Sie auch …«, fragte die Dame im Nachbarbett – sie trug einen seidenen Schlafanzug, »wissen Sie – Ihr Mann liegt auch in diesem Krankenhaus!?« »Welcher Mann?« fragte die Frau. »Sie können aber doch nicht zwei Männer haben!« sagte die Seidige.

Man brachte also die Frau vors Bezirksgericht und beschuldigte sie der Bigamie. Sie schluchzte und lächelte unter Tränen und sagte: »Mein Gatte pflegte mich Venus zu nennen, doch das ist lange her –« Und ihr Lächeln erwärmte das Herz tief unten im Busen des alten Richters, und der ganze Gerichtshof lächelte mit ihr, und durch die Tore traten weißgliedrige Götter in den Gerichtssaal und verdrängten die Richter und setzten sich selbst auf die Richterbank und verurteilten die Frau zu ewiger Frische und glatter Abwicklung. Lächelnd verließ sie den Saal. Die Götter lüfteten ihre Glieder in Mächtigkeit.

Ich erhob mich. Ich hatte genug. Ich bahnte mir einen Weg zur Telephonzelle. Wir hatten den Anfang des Theaters schon versäumt. Es war ein Stück von Somerset Maugham, »Der Kreis«; geschrieben vor der Sintflut und dem Paradies. Kein Zweifel – die Frau hatte das Paradies auf die Erde gebracht.

Stalin und Hitler hatten es beide aufgegeben. Sie hielten eine große Teegesellschaft, bei der sie sich gegenseitig wie Menschen behandelten. Alle waren glücklich, und sogar die Soldaten an der Front hatten Essen und Frauen. Vom ersten Januar an wurden überall die Paragraphen des Zivilgesetzbuches, die Artikel der Verfassung, die Strafgesetze und alle zehn Gebote Gottes streng eingehalten. Die Kerker leerten sich, die Gerichte hatten nichts zu tun. Gatte und Gattin lebten zufrieden zusammen: es gab keinen Streit mehr, weder am Frühstückstisch noch vor dem Schlafengehen. Die Kinder ließen ihre Unarten sein; kein Halbwüchsiges machte sich in die Hosen, kein Baby schrie. Konflikte wurden nach Verhandlungen beigelegt, der Weltsicherheitsrat arbeitete emsig. Scheidungsprozesse waren unbekannt. Mißverständnisse und Streitigkeiten zwischen Liebenden endeten, bevor sie begonnen hatten, dort, wo sie anfingen: im Bett. Keine wahre Tragödie entging ihrem guten Ausgang. Die Filme mußten alle umgeschrieben werden, da das Publikum Abwechslung liebte, und alle Stücke in Tränen, Selbstmord und plötzlichem Tod enden mußten, die im wirklichen Leben aus der Mode gekommen waren.

Die Menschheit besann sich darauf, gegen Krankheiten Heilmittel zu finden; und so gab es bald keinen Krebs und keine Schwindsucht mehr. Keine Profite wurden gemacht, keine Kriege geführt. »Das Mädchen mit dem leichten Schweißgeruch« hatte schon zeitig in ihrer Mädchenzeit die Seife »Wunderduft« entdeckt und sah sich nie wieder schwierigen Situationen gegenüber, da ihr Liebhaber sie plötzlich im Stich lassen würde, weil er den Gestank einfach nicht mehr aushielt. Menschen, die aus dem Mund rochen, wurden nicht mehr zugelassen, jedermann erhielt zu seinem sechsten Geburtstag eine Tube der ausgezeichneten Zahnpasta. Das Nährmittel Horlick war Herr geworden aller Nachteile nächtlichen Hungerns. Alle Gesichter strahlten, denn Mann und Weib waren frei von Verstopfung. Patentarzneien hielten die Welt in Bann.

Kein Zahnweh und keine Eifersucht. Kein Jucken nach dem Rasieren und kein Sodbrennen nach schweren Mahlzeiten. Keine gebrochenen Hälse und keine gebrochenen Herzen.

»Aufhören –«, rief ich. »Halt ein im Flug. Ich will mein Herz brechen, laß es brechen.« Ich wartete noch immer. Ich faltete die Zeitung zusammen und stand auf. Meine Füße waren ganz gefühllos, weil ich sie so lange unbeweglich gehalten hatte.

Ich begann mit der Belagerung der Telephonzellen. Auch hier waren gutgelaunte und harmlose Geschöpfe bis zum Hals versunken in gegenseitiges Verständnis und freundliches Gespräch. In der einen Kammer sprach ein Marineoffizier zu einem Mitglied der eleganten Welt; in der andern flirteten zwei Sergeanten mit Mädchen aus den niederen Klassen. Die Mädchen am andern Ende des Drahtes versuchten, die Herren Unteroffiziere zu necken, doch der eine Sergeant war beharrlich und redete ihnen andauernd zu irgend etwas zu, wahrscheinlich, sofort hierher zu kommen. Es war ein endloses Telephongespräch. Zwei Mädchen von der WAF stellten sich neben mich und ich machte ein paar Bemerkungen, wie lange die zwei schon das Telephon besetzt hielten. Es waren nicht eben gescheite Bemerkungen, aber die Mädchen lachten. Ich bekam dadurch etwas von meiner Selbstachtung zurück und fühlte mich durch ihr Lachen geschmeichelt.

Telephongebühr war drei Pennies statt der üblichen zwei, aber das war ja ein besonderes Lokal, mit seinen großen N’s überall, Napoleons Haus. Ich kenne die Nummer im Schlaf und ich drehte die Scheibe, ohne hinzusehen.

Es antwortete die Stimme der alten Dame mit dem sonderbaren Beruf, die jede Woche zweimal nach London kommt und dann bei Jane wohnt. Jane hatte nichts dagegen, sie liebte das, sie lebte anscheinend lieber mit einer Frau als mit einem Mann, wenn es auch nur zwei Tage in der Woche war. Mit mir will sie jedenfalls nicht leben. Oder doch?

Die Dame: »Nein. Miß Smith ist nicht zu Hause.«

Ich: »Wissen Sie zufällig, wann sie weggegangen ist?«

Die Dame: »Warten Sie einen Augenblick – es war vielleicht sechs Uhr.«

Ich: »Sechs Uhr? Aber –« Ich dachte daran, daß sie mich doch um halb sechs treffen wollte.

Die Dame: »Möglicherweise war’s dreiviertel sechs.«

»Danke sehr«, sagte ich.

»Soll ich ihr etwas bestellen? Ich könnte ihr etwas auf einen Zettel schreiben. Ich fahr dann weg …«

Sie fuhr weg. Ich schnitt ihr den Redestrom ab.

»Nein. Danke. Nichts zu bestellen.« Ich legte den Hörer wieder auf. Andre warteten draußen, lustige Burschen, traun. Aber ich hatte ja meine Zeitung noch nicht fertig gelesen.

Perlen und schwarze Tränen

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