Читать книгу Perlen und schwarze Tränen - Hans Flesch-Brunningen - Страница 8
Feuer
ОглавлениеMeine Phantasie gewann wieder einmal die Oberhand. Ich sah Jane, im Nebel verirrt; von unfreundlichen Negersoldaten belästigt, einen dicken Mantel hurtig über den Kopf geschlagen und fort mit ihr – geraubt. Ich sah ihren zermalmten Körper unter den Rädern eines Autobusses oder fortgespült in den Wassern der Themse, wo er zu einem elenden Ende unter den scharfen Schneiden einer schwarzen Schiffsschraube kam.
Der Arbeiter stellte sich vor mich und sagte mit hohler Stimme:
»Sie haben noch nicht zu hassen gelernt.« »Nein«, sagte ich. »Warum sollte ich auch?« Worauf der Mann seine eigenen Erlebnisse zu erzählen begann.
Er war augenscheinlich vor kurzer Zeit ganz zufällig in
eine Versammlung geraten. Dort wurde er sofort von einer Menge junger Frauen umringt, die alle eifrig der Rede einer offenbar erwachsenen Frauensperson auf der Rednerbühne lauschten.
Diese Frau, sagte der Arbeiter, sei gut angezogen gewesen und alles in allem recht angenehm anzuschauen. Sie erzählte ihre Lebensgeschichte; wie sie das erstemal geheiratet hatte, einen Fliegeroffizier, der im Jahr 1943 von den Deutschen über Frankreich abgeschossen wurde; baldigst heiratete sie dann einen Major, der für eine Kandidatur als Abgeordneter der Arbeiterpartei in Aussicht genommen war und bei Arnheim von den Boches getötet wurde. Die Frau sprach eindringlich, doch ohne besondere Erregung, und sie bestand darauf, daß ohne Haß der Krieg unmöglich zu einem entscheidenden siegreichen Ende gebracht werden könne; auch würde es ganz und gar unmöglich sein, die neue Welt, für die man kämpfte, aufzubauen – ohne Haß. Sie sagte, sie sei bereit, »Schulen des Hasses« für junge Damen zu eröffnen. Ob sie sich mit dem Gedanken trug, auch ihren nächsten Gatten aus den Wehrkräften Großbritanniens zu wählen, ward nicht erschlossen.
Der Arbeiter, der genau so verwirrt dreinsah wie die jungen Frauen, verließ den Versammlungssaal. Er fühlte sich außen durstig und innen traurig, denn er hatte soeben entdeckt, daß er die einzige königliche Krawattennadel verloren hatte, die er je sein eigen genannt. Sie war ihm von dem verstorbenen Herzog von Kent verliehen worden für tapferes Verhalten vor Wilddieben, die in königlichen Besitz einzudringen versucht hatten. Der Mann hatte also jetzt sein einziges Unterpfand königlicher Huld und Dankbarkeit verloren, zwischen Buckingham Palace und Victoria. Und der Name des Mannes war Sweeney, ein klassischer Name.
Da Sweeney seine Krawattennadel zurückhaben wollte, begab er sich auf eine Polizeistation. Er fand dort eine Menge Konstabler um einen Ofen geschart; ein Polizeioffizier mit einem schönen Bart verbreitete sich über den Krieg. Der Offizier erklärte, persönliche menschliche Tragödien seien unvermeidlich im Krieg, während doch der Arbeiter bisher immer geglaubt hatte, der Krieg selbst sei eine menschliche Tragödie. Ein anderer Polizist, der gemütlich beim Feuer saß, behauptete, der Krieg werde geführt, um uns die Chance zu geben, eine bessere Welt aufzubauen. »Schon gut«, sagte Sweeney, »doch wie steht’s mit meiner königlichen Krawattennadel?« Alle kehrten sich ihm zu; einige runzelten die Stirne, andere zuckten die Achseln. Niemand schien besonders interessiert zu sein an dieser oder irgendeiner anderen Krawattennadel. Der schöne Bart warf so nebenbei hin, Krieg mache uns müde und habe uns unmanierlich gemacht. Der Arbeiter schrie seine Zustimmung heraus; alle grinsten wie Schafe, doch der Fall der königlichen Krawattennadel wurde nicht aufgenommen.
Auf dem Heimweg dachte Sweeney über den Vorschlag, zu hassen, nach und legte sich die Frage vor, warum er nicht die ganze Welt hassen sollte. Seine Frau hatte ihn bestimmt enttäuscht durch ihr Nichterscheinen bei dem Rendezvous, und seine Kinder hatten sich wahrscheinlich im Nebel verirrt. Der Arbeiter fühlte sich ganz krank und bat in das nächste Krankenhaus gebracht zu werden. Eine Frau mit Pelzmantel sagte mit rauher Stimme: »Aber Sie sind ja nicht verwundet: Wie können Sie es nur wagen?!« Der Arbeiter Sweeney öffnete einfach Mantel und Brust und zeigte ihr sein Herz, das entzweigerissen war.
Er wurde in eine Abteilung des Hospitals geschafft, die voll war mit deutschen Kriegsgefangenen. Es waren junge Burschen, die unter Netzen gehalten wurden; sie sahen alle ungeheuer läppisch und ungeheuer elend aus. In seinem Bericht verglich sie der Arbeiter mit Insekten, mit Larven zum Beispiel oder mit Fliegen und Motten. Der Arbeiter schob ihnen ein paar von seinen Zigaretten hinein, und ein Bursche dankte ihm auf englisch. Ein anderer Bursche war an einem mächtigen, ganz einfachen Apparat aufgehängt, der wie ein Kreuz aussah. Der Bursche hing dort still und regungslos. Sweeney schüttelte zwei anderen Burschen die Hände, drehte sich einem der Ärzte zu und sagte voll Stolz: »Ich hoffe, meine Handlung läßt in Deutschland ein Licht aufgehen.«
Doch der Arzt, der ein Jude war, bemerkte voll Trauer: »Und damit die Juden zu brennen.«
Der Arbeiter wurde seiner Krankheit entsprechend behandelt; man gab ihm eine Medizin, die er mit größtem Widerwillen schluckte. Der Krankenwärter, der ihn zum Haupteingang zurückbrachte, war ein Musterexemplar britischen Mannestums, breitschultrig und fast unschuldig. Er bot dem Arbeiter einen Waggon Konserven an, und Sweeney fragte, wie er, der Krankenwärter, in ihren Besitz gekommen sei. »Wir waren in Neapel«, sagte das breitschultrige Baby und lachte herzlich. »Wir haben mit der Ortsbevölkerung gute Geschäfte gemacht. Sie überfielen die Lastwagen. Wir nahmen uns, was darauf war. Wir haben in sechs Wochen zweiundzwanzig Italiener umgebracht.«
Da erglühte der Arbeiter vor Seligkeit, weil er so weit fort war von den Mißlichkeiten der Front. In der Ferne erblickte er im Dunkel Piccadillys das Abbild eines reizenden Mädchens in Pelz, mit einem rostroten Armband am Handgelenk ihrer Rechten. Der Arbeiter sagte sich, es wäre schon der Mühe wert, jemanden umzubringen, um dieses Mädchens willen. Als er dann bei Glasshouse Street um die Ecke bog, wurde er überfallen. Drei andre Mädchen entstiegen dem Nebel. Eine hielt ihn mit dem üblichen Angebot auf, die zwei andern packten ihn an den Armen. Ein Mädchen schlug ihm ins Gesicht und erwischte seine Brieftasche. Die Mädchen waren gut gekleidet und dufteten nach Parfum. Das Erlebnis machte ihm nichts aus, aber die Medizin, die man ihm im Krankenhaus gegeben hatte, begann jetzt Folgen zu haben.
»Warum auch nicht?« fragte sich Sweeney, der Tägliche Arbeiter, während er weiterwandelte, aber ohne Brieftasche. »Warum nicht einen Mord begehen? Das tut doch jeder.«
Der Schlüssel fiel ihm ein, den ihm die Dame in der Nachbarstraße gegeben hatte. Er hatte sie bei einer Gesellschaft am Silvesterabend getroffen, da schon alle stockbesoffen waren, und er erinnerte sich jetzt, daß ihm die Dame gesagt habe, sie führe ein Doppelleben, in Bayswater und in Mayfair. Das paßte ihm ausgezeichnet; und er suchte mit der Taschenlampe die Namenstafeln an den Haustoren ab.
Er öffnete beide Türen und betrat die luxuriöse Wohnung. Die Dame vom Silvesterabend lag auf einem Diwan, völlig bekleidet, im Halbschlaf. Er stürzte sich auf sie, doch sie wachte nicht auf. Arbeiter Sweeney dachte, er müsse sie an ihrer Doppelpersönlichkeit packen; er umarmte sie also mit größter Leidenschaft. Plötzlich entdeckte er, daß er sie bereits getötet hatte – erstickt in seinen Umarmungen. Er leuchtete ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht und bewunderte ihren makellosen Teint. An ihrem Hals waren keine Würgspuren zu sehen, doch leichte Abschürfungen hinten an ihren wohlgestalteten Beinen.
Der Arbeitsmann der Ewigkeit saß auf der Anklagebank, bevor er noch ein Vaterunser beten konnte. Er erklärte, nicht schuldig zu sein, und stellte einen abträglichen Vergleich her zwischen seinem eignen Schicksal und dem eines Hundes. »Während Menschen«, sagte er zu den Geschworenen mit weinerlicher Stimme, »die einen Hund im Haus haben, ihm eine Menge zu essen geben und ein hübsches Lager, um drauf zu schlafen, und ihm ein Bad geben – hätte ich eigentlich ›Pechvogel‹ heißen sollen und nicht Smith –«
Aber wo war die Dame Smith, auf die ich wartete, Miß Jane Smith? War auch sie erdrosselt? Auch sie hatte einen tadellosen Teint und führte ein Doppelleben!
Sweeney sagte: »Ich weiß nur, daß einige Hunde um einiges besser leben, als einige Menschen heute leben –«
Die Geschworenen begannen zu zittern und zu weinen, und der Vorsitzende unterdrückte einen Seufzer. Ein andrer Mordfall wurde aufgerufen, und der schien viel interessanter zu sein als der Fall der ermordeten Dame mit tadellosem Teint. Vor vierundzwanzig Jahren war eine Frau zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden wegen Mordes an einem wohlhabenden Bergwerksbeamten, dessen Leiche in einer versiegelten Gruft unter einer Kirche gefunden worden war. Die Freundin dieser Frau glaubte an ihre Unschuld; diese Frauenfreundin kämpfte jahrelang um die Freiheit der Frau – frei wollte sie sie haben. Nach achtzehn Jahren wurde Mrs. Judson, die angebliche Mörderin, unter Polizeiaufsicht entlassen. Doch jetzt hatte man die entkleidete Leiche der Freundin im Garten von Mrs. Judson ausgegraben, und Mrs. Judson war des Mordes an der Freundin angeklagt.
»Sehr interessant«, sagte der Mörder-Arbeiter und verließ den Gerichtssaal. Er war froh, nicht gehängt zu werden, war aber verwundert und fühlte sich ein wenig vernachlässigt. Es war ein herrlicher Sonnenaufgang über Fleet Street und der Mann wollte ein Frühstück. Er betrat eine Milchtrinkhalle, aufrecht und stolz, denn er hatte ja das Geld bei sich, das er in der Wohnung der Dame mit dem Doppelleben gefunden hatte. Neben ihm saß auf einem der hohen Barstühle eine junge Mutter, die ihr Knäblein mit Kaffee und mürbem Gebäck fütterte. »Ein Kind ist besser zu Hause zu nähren«, sagte Sweeney. »Haben Sie noch nicht gehört, wie herrlich es in der Natur eingerichtet ist, die jede Mutter mit ausreichenden Nährmitteln versorgt?« Und er zwickte die Mutter in die Brust. »Was unterstehn Sie sich?!« schrie die Mutter, und das Kind brüllte. Es war ein abstoßend häßliches Kind und hielt ein abstoßend häßliches Spielzeug auf dem Schoß. Der Arbeiter wollte die Mutter wieder versöhnen und begann das Kinderspielzeug zu bewundern. Das war ein Reiter, hoch zu Roß, aus Holz mit ein paar farbigen Flecken Stoff um Haupt und Brust, um ihn kriegerischer aussehen zu machen. »Was für ein prachtvoller Soldat!« sagte Sweeney und riß dem Kind den Holzreiter weg. Das Kind brach in wildes Geheul aus, und der Arbeiter rannte davon, ohne Frühstück gegessen zu haben. Er dachte, das Kind sollte ihm lieber dankbar sein. Übrigens könnte er ja den Spielzeugraub von Dreijährigen planmäßig betreiben und das Spielzeug an bedürftige Spielzeughändler weiterverkaufen; danach war große Nachfrage, heutzutage, im sechsten Kriegsjahr.
Ein uralter Mann tippte ihn auf die Schulter, als er gerade den Strand kreuzte. Der alte Kerl sagte mit seiner leisesten Stimme: »Marschall für Hof gesucht. Gutes Quartier, gute Bezahlung und Urlaub.«
»Fein!« sagte der Arbeiter und lächelte. »Ich komm mit Ihnen.«
Der Marschall wurde auf einen großen, leeren Hof geführt. Dort wurde er allein gelassen und ihm die Erlaubnis erteilt, unbehindert alle Gebäude und Räume zu durchstreifen. Er sammelte ein Heer im Stall und marschierte mit ihm ins Schlafzimmer des Schloßherrn. Im Schlafzimmer standen keine Betten; es gab also keine Möglichkeit, strategische Stützpunkte zu besetzen. Die Armee rückte in das Badezimmer ab und der Arbeiter befahl seinen Traumsoldaten, ihre Stiefel und Uniformen abzulegen und ins Wasser zu springen. »Sachschaden: Null. Verluste: Null«, sagte der Arbeiter. »Ein schöner Krieg. Besser ein Marschall an einem Hof als bei einem Heer.«
Dann öffnete er die Türe zur Tenne, wo er mehrere hochgestellte Zivilisten vorfand. In den vier Ecken des Raumes saßen junge Burschen an Schreibmaschinen. Die gesetzteren Mitglieder der Gesellschaft flüsterten ihm zu: »Psst – wir sind gerade dabei, die Entscheidung zu treffen.« »Entscheidung – worüber?« fragte Sweeney, der Arbeitsmann, und richtete sich auf den Hinterpfoten auf. »Marschall bin hier ich – Entscheidung, wer daran Schuld trägt.«
»Ich – ich kann Ihnen das sagen!« schrie ich. »Ich – Johnny Truck auch Hans Flesch genannt. Ich kann Ihnen sagen, wer daran schuld ist und mich hier so lange warten läßt.« Meine Wangen waren purpurrot, meine Stirne glühte, und ich schwenkte die Zeitung vor Sweeneys Gesicht. Ich war sehr aufgeregt. »Schau auf die Uhr! Fast eine Stunde zu spät! Nachrichten in Schlagzeilen! Daß ich nicht lach’! Sie sind verantwortlich!«
»Wer sind sie?« fragte der Mann, und an seiner Seite stand die Frau. Sie wenigstens war nicht zu spät gekommen.
»Sie sind wir. Wir selbst. Wir sind verantwortlich.«
»Nicht ganz«, sagte der Portier des Lokals. »Wollen der Herr vielleicht mit mir kommen, bitte?! Der Mann in der Herrentoilette hat Ihnen etwas zu bestellen.«
»Oh«, sagte ich. »Ich habe ganz vergessen.«
Ich ging in die Herrentoilette. Ich hatte die Vorstellung, daß Jane nicht komme, weil meine Schuhe so schmutzig waren.