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Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis eines siebenjährigen Forschungsprozesses. Im Mai 2013, als die Gezi-Proteste begannen, wuchs in mir der Wunsch, die gravierenden Änderungen in der Politik und im gesellschaftlichen Leben der Türkei zu untersuchen und die Ursachen, Hintergründe und Folgen dieses Transformationsprozesses zu analysieren. Als häufiger Besucher in der Türkei seit 1989, der das Alltagsleben miterleben durfte, nahm ich viele Änderungen aus einer Besucher- und Beobachterperspektive wahr. Dazu gehörten ganz unterschiedliche Wahrnehmungen, wie starke Erhöhungen der Benzin- und Lebensmittelpreise, ein Zunehmen des muslimischen Dress-Codes auf den Straßen, das Wiederaufleben des PKK-Terrors und eine zunehmende Vorsicht der Menschen, öffentlich ihre politische Meinung zu sagen. Auch meinte ich, eine zunehmende Verschuldung vieler Familien wahrzunehmen, die sich – in noch stärkerem Maße als in den neunziger Jahren – mit Ratenzahlungen und Kreditkarten von einem Monat in den anderen retteten. Zugleich bemerkte ich einen Bauboom, vor allem bei Hochhaussiedlungen in den Städten, Straßen, Flughäfen und Verkehrsinfrastrukturprojekten. Das Warensortiment in den Geschäften wurde seit den 2000er Jahren größer und vielfältiger. Dabei nahm auch die Anzahl internationaler Marken zu. Seit der zweiten Dekade waren auch deutlich mehr Discounter in den Geschäftsstraßen vertreten und in neuen Shopping Malls etablierten sich, neben türkischen Warenhäusern und Boutiquen, auch europäische Filialketten. Die Freiheiten und den „Wohlfühlfaktor“ habe ich in den neunziger Jahren als größer empfunden, als in der Zeit nach 2010.

Seit ich seit Ende der achtziger Jahre die Türkei besuche, ist mir das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land aufgefallen. Viele Landbewohner/innen wirkten zwar ärmer als die Mittelschicht in den Städten, aber nicht unzufriedener, da sie viele Agrarprodukte selbst anbauten, frisches Quell- oder Brunnenwasser nutzten und in einer weitläufigen und natürlichen Umgebung wohnten.

Gerade bei den „einfachen“ Familien wurde Gastfreundschaft großgeschrieben und der durchs Land reisende Gast aus Deutschland freundlich und neugierig begrüßt und eingeladen.

Das „Nebeneinander“ der eher westlich und säkular lebenden Menschen aus der Mittel- und Oberschicht und der eher konservativ, traditionell islamisch lebenden Menschen war auch in den neunziger Jahren offensichtlich. Es gab aber Berührungspunkte bei Einkäufen auf dem Markt und in Geschäften, bei Fahrten übers Land und in der traditionellen Gastronomie wie Suppenküchen (çorbacı), Pizzerien (pideci), Kebab-Imbissstuben (kebabçı), in der Bäckerei (fırın), kleinen Cafés (pastacı) und in den allgegenwärtigen „Tante-Emma-Läden um die Ecke“ (bakkal). Auf großen Wochenmärkten, auf Busbahnhöfen und in kleinen Teestuben und Büffets in Parkanlagen und Geschäftsstraßen traf und trifft man Menschen aus allen Schichten und Regionen. Reparaturen an Autos, Krafträdern und Maschinen kann man in kleinen Werkstätten in Gewerbegebieten (sanayı) direkt durchführen lassen.

In der Zeit von 1990 bis 2010 habe ich das Pflegen und Ausleben der Gegensätze selten erlebt. Es gab eine – zwar ungleiche – aber doch friedliche und tolerante Koexistenz. In der Zeit nach 2010 wurde nach meinem Empfinden die Polarisierung in der türkischen Gesellschaft größer, einhergehend mit einem Freund-Feind-Denken. Das führt zu der Frage, was sich nach der Regierungsübernahme der AKP geändert hat.

Mein großes Interesse an diesem Thema, meine Betroffenheit über die zunehmende Polarisierung und Gewalt, auch seitens des Staates, und ein erfolgreich abgeschlossenes Studium der Politischen Wissenschaft an der Universität Duisburg waren Grund und Motivation, in diesen Forschungsprozess einzusteigen und eine Promotion zu diesem Thema anzustreben.

Während meines Forschungsprozesses gab es in der Türkei nach den Gezi-Protesten weitere folgenreiche Entwicklungen, wie den gescheiterten Militärputsch im Jahr 2016 und die nachfolgenden „Säuberungsaktionen“, die Verfassungsänderung und die Umstellung auf das Präsidialsystem 2017, den Einmarsch der Türkei in Nordsyrien und die Wirtschaftskrise der Türkei ab 2018. Die zunächst beobachtete Demokratisierung und Annäherung an die EU schien sich in der zweiten Dekade nicht fortzusetzen. Stattdessen war die Herausbildung einer eher autoritären, nationalistischen und islamistischen Politik zu erkennen. Das Ziel Erdoğans und der AKP, im Jahr 2023 zum 100-jährigen Bestehen der Republik Türkei eine der 10 führenden Wirtschaftsnationen zu sein und ähnlich bedeutsame Reformen wie vor 100 Jahren Atatürk zu erreichen, schien zunehmend zulasten von Freiheit, Rechten von Minderheiten und Rechtsstaatlichkeit zu gehen. Trotz dieser Beobachtungen und Befürchtungen war es mir wichtig, objektiv, vergleichend und nachvollziehbar wissenschaftlich zu überprüfen, ob es in der Türkei eine autoritäre Mehrheitsdemokratie oder ein prinzipiell offenes, pluralistisches und konsensuales System gibt. An dieser Fragestellung habe ich gründlich und geduldig sieben Jahre lang geforscht und soweit möglich, neue Entwicklungen aufgenommen und analysiert. Nun, im Frühjahr 2021 stelle ich die Ergebnisse dieser umfassenden und mehrdimensionalen Studie vor.

Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Emanuel Richter vom Institut für Politische Wissenschaft IPW an der RWTH Aachen, der mir 2016 die Zusage für die Betreuung meines Promotionsvorhabens machte und mich sehr motivierte, mein Projekt fortzusetzen und abzuschließen. Ich danke auch Herrn Professor Ralph Rotte, der mich als weiterer Gutachter motivierte und allen Kolleginnen und Kollegen des Arbeitskreises für Politikwissenschaftliche Forschung und Didaktik am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen. Meiner Schwester Frauke Linscheid danke ich für das Korrektorat und ihre Anregungen und Hinweise zur besseren Lesbarkeit. Ganz herzlich danke ich dem Tectum Verlag und seiner Lektorin Frau Sarah Bellersheim sowie der Herstellerin Tamara Kuhn für die Begleitung und Unterstützung der Publikation.

Ich widme diese Dissertation meinem Vater Dr. Josef Linscheid, Diplom-Agraringenieur aus Bonn, der mir ein Vorbild ist und noch zu Lebzeiten von meinem Projekt erfuhr und mich darin bestärkte.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine interessante, spannende und hoffentlich erkenntnisreiche Lektüre.

Aachen, im März 2021Hans Hermann Linscheid
Das politische System der Türkei unter dem Einfluss der AKP

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