Читать книгу Das politische System der Türkei unter dem Einfluss der AKP - Hans Hermann Linscheid - Страница 9

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Einleitung

Die politische Entwicklung in der Republik Türkei seit der Jahrtausendwende beschäftigt nicht nur die politischen Entscheidungsträger in Europa und den Vereinigten Staaten, als wichtigste Bündnis- und Handelspartner, und die politikwissenschaftliche Forschung, sondern ist im öffentlichen Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger der „westlichen Demokratien“ ein sehr aktuelles, präsentes und kontrovers diskutiertes Thema. So finden sich in der deutschen Öffentlichkeit die Themen „Islamisierung der Türkei“, die Menschenrechte dort, Verhaftungen deutscher Staatsbürger, die mögliche Ausweitung des Nahost-Konflikts, die Beherbergung und mögliche Weiterleitung von Millionen von Flüchtlingen in der und durch die Türkei, die Sicherheit in der Türkei als eines der beliebtesten Reiseziele, für manche Bürgerinnen und Bürger auch die Frage der „ethischen“ Vertretbarkeit einer Urlaubsreise in die Türkei und besonders die Auswirkungen der Entwicklungen in der Türkei auf die große Gruppe der Bürgerinnen und Bürger mit türkischen Wurzeln. Ob im privaten, im geschäftlichen oder im Arbeitsleben sind die Zusammenarbeit, der tägliche Kontakt mit oder die Freundschaft zu Menschen, deren Familien ursprünglich aus der Türkei einwanderten, selbstverständlich und unspektakulär. In diesem Rahmen wird natürlich auch über die Situation in der Türkei gesprochen. Dabei vertreten Menschen mit „türkischen Wurzeln“ nicht selten die folgenden, sehr unterschiedlichen Standpunkte, die ich hier etwas reduziert und ohne Anspruch auf Vollständigkeit gegenüberstelle:

„Die Türkei hat sich unter Erdoğan sehr gut entwickelt. Den meisten Menschen dort geht es wirtschaftlich besser, das Land hat sich modernisiert und an Einfluss und Ansehen gewonnen. Die Türken können stolz auf ihre Nation, ihre Religion und ihre Regierung sein. Nie war die Situation in der Türkei so gut wie heute.“

„Die Türkei hat durch Erdoğan ihre Freiheit verloren. Die Stimmung in der Gesellschaft ist konservativer, der Islam spielt eine große Rolle und die bürgerlichen Freiheiten wurden stark beschnitten. Als fortschrittlicher, säkular eingestellter Mensch kann ich in der Türkei nicht mehr gut leben. Die Fortschritte und Reformen Atatürks werden zerstört und das Land entwickelt sich zu einem islamischen Staat.“

Daneben gibt es zahlreiche weitere Ansichten und Meinungen, die je nach Standpunkt der Diskutierenden, stark divergieren. Dies gilt unter anderen für die Nachkommen von Minderheiten in der Türkei, zum Beispiel Menschen mit „kurdischen Wurzeln“.

Für die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger auf politischer Ebene stehen, exemplarisch dargestellt, Fragen wie die Bündnistreue der Türkei in der NATO, die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Sicherheitslage im Nahen und Mittleren Osten, auch unter Berücksichtigung der Einflüsse Russlands und des Iran, das Management der Flüchtlingskrise oder die – zurzeit vollständig eingefrorenen – Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der EU im Fokus.

Aus sozialwissenschaftlicher und politikwissenschaftlicher Sicht sind zum Beispiel Fragen wie die Auswirkungen der Politik Erdoğans auf die Nahostpolitik der EU und der USA, der aktuelle Zustand der Demokratie in der Türkei, oder die Frage, wie weit die Systemtransformation fortgeschritten ist und ob sie umkehrbar ist, relevant. Die beiden letzten Fragestellungen möchte ich aufgreifen und analysieren. Dabei ist es mir wichtig, die Gesellschaft der Türkei in ihrer Diversität einzubeziehen.

Meine Forschungsarbeit und Analyse umfasst dabei die Bereiche der Demokratieforschung, der vergleichenden Analyse (als Einzelfallstudie), und einer makrosoziologisch orientierten Erforschung der relevanten gesellschaftlichen Gruppen. Diese Dimensionen versuche ich, unter Einbeziehung der Cleavage-Theorie Lipsets und Rokkans, in Beziehungen zu setzen, und dann den aktuellen Zustand des demokratischen und politischen Systems zu bestimmen, um anschließend in einem weiteren Schritt Schlussfolgerungen zu ziehen und mögliche Lösungswege zu skizzieren.

Mein persönliches Interesse liegt darüber hinaus in der Tatsache, dass ich die Gesellschaft und das Alltagsleben in der Türkei recht gut kenne, und – über meine persönlichen Erfahrungen und Kenntnisse hinaus – nun objektiv und intersubjektiv nachvollziehbar das politische und gesellschaftliche System der Türkei eingehend erforschen und analysieren möchte.

Dabei wähle ich bewusst eine methodisch qualitativ und hermeneutisch herangehende Untersuchungsweise, mit der ich die schriftlich und mündlich getroffenen Aussagen und Positionen der Akteure erfasse und analysiere, dabei die aktuellen Forschungsbeiträge eingehend betrachte, und in die Analyse einbeziehe.

Besonders wichtig ist mir eine breite Behandlung des Themas. Daher beziehe ich zahlreiche Akteure und Institutionen in meine Arbeit ein. Das Ergebnis ist – nach einem siebenjährigen Forschungsprozess – interessant, aufschlussreich, sowie sehr relevant, und bietet einen aktuellen und umfangreichen Status des politischen Systems und der gesellschaftlichen Kräfte.

Vielleicht trägt diese Arbeit dazu bei, einen guten und durchaus detaillierten Gesamtüberblick zu ermöglichen, und eventuell die Untersuchung einiger Teilaspekte, wie zum Beispiel islamistische Frauen und Aktivistinnen in der Türkei, weiter zu erforschen.

Wie bereits im Vorwort erwähnt, ist es mir wichtig, gewissermaßen als „praktischen Output“ meiner Arbeit, den politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen, soweit sie das möchten und annehmen, auch ein paar Ratschläge für die Lösung der derzeit schwierigen und polarisierten Situation zu geben.

Das politische System der Türkei unter dem Einfluss der AKP

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