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Kapitel 6

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Kathrin ging, die Mappe unter den linken Arm geklemmt und eine Stofftasche mit korrigierten Heften über die rechte Schulter gehängt, zur Arbeit. Sie genoss den Weg zu Fuss vom elterlichen Heim ins Schulhaus stets von Neuem. Er dauerte zehn Minuten und führte grösstenteils auf ungeteerten Strässchen an Kuhweiden, Obstgärten, Hecken und gepflegten Bauernhäusern vorbei.

Das Gras war nass, weil es vor kurzem noch geregnet hatte. Am Himmel zogen dichte Wolkenbänke, durchzogen von breiten blauen Streifen. Der Westwind wehte frisch, aber nicht zu kalt. Die Sonne brach hervor und liess die Regentropfen an den Grasspitzen funkeln wie kleine Kristalle. Von den Feldern stieg Dampf auf. Eine dunkle Wolkenfront, die vom westlichen Horizont heraufzog, liess erahnen, dass es bald wieder regnen würde: Seit ein paar Tagen änderte das Wetter stündlich. Es war das typische Aprilwetter, das Sonnenschein, Regen, Kälte, Schnee und angenehme Frühlingswärme in einem kunterbunten Wetterkaleidoskop durcheinanderwirbelte.

Schon zeigten manche Sträucher wie der Holunder oder der Schneeball die Spitzen der neu austreibenden Blätter. Die hohen und schlanken Buchen dagegen, die den Tannenwald säumten, waren noch vollkommen kahl und würden erst in den letzten Tagen des Monats, wie immer pünktlich auf den Beginn des Hochfrühlings, innert einer Nacht hervorbrechen und mit ihrem zarten Grün das Auge beglücken.

Kathrin war in Gedanken versunken. Ihr Innenleben befand sich derzeit nicht im Lot; ihre Gefühle schwankten hin und her wie die Haselzweige, an denen der Westwind rüttelte.

Da war zum einen Rolf. Er hatte sein Versprechen wahr gemacht und war nach Kühnerswald in den Bauernstock gezogen. Sie hatten sich seither oft gesehen, waren spazieren gegangen, hatten gelacht, geredet, geschwiegen und geküsst. Kathrins Eltern einen Besuch abzustatten, hatte sich Rolf bisher jedoch standhaft geweigert.

„Wozu auch? Schliesslich bin ich nicht in deine Eltern verknallt, sondern in dich“, lautete seine Begründung. „Oder herrscht bei euch noch der alte alemannische Brauch, dass der Freund einer jungen Frau mit dem Brautvater über den Kaufpreis verhandeln muss?“

„Halt doch dein Lästermaul!“, erwiderte sie lachend und knuffte ihn in die Seite. „Vermutlich ist es dir entgangen, dass auch bei uns im Emmental die Neuzeit Einzug gehalten hat. Mein Vater ritzt keine Runen in die Türschwelle, und wenn er ‘Zum Donner!’ sagt, meint er damit nicht den alten Gott Donar, sondern ein auch dir bekanntes meteorologisches Phänomen.“

Ihr Lachen war aber bloss gespielt; Rolfs Bemerkung hatte sie getroffen. Es fiel ihr schwer, seine ständigen Sticheleien über ihre ländliche Herkunft zu ertragen.

Nachdenklich schritt sie über den feuchten, knirschenden Kies, mit dem der Feldweg bestreut war. Die Tasche mit den Schulheften schlug rhythmisch gegen ihre rechte Seite, aber sie beachtete es nicht.

Liebte sie Rolf, und wenn ja, warum liebte sie ihn? Er konnte charmant, aber auch unsäglich arrogant sein. Starke Gefühlsregungen gehörten ebenso zu ihm wie die Neigung, Zusammenhänge nüchtern zu analysieren. Anteilnahme und Spott gegenüber anderen Menschen verbanden sich bei ihm zu einer seltsamen Mischung, und wenn er für eine Sache bedingungslos schwärmte, pflegte er gleichzeitig eine andere Sache herunterzumachen – fast so, als schämte er sich seiner positiven Gefühle.

Vermutlich waren es gerade diese Gegensätze, die Kathrin an Rolf so faszinierten. Hinzu kam die kühle Erotik, die von ihm ausging, gepaart mit einer versteckten Wildheit, der etwas Unfassbares, geradezu Dämonisches anhaftete.

Kathrin fühlte sich von Rolf auf magische Art angezogen – aber ob sie ihn auch von ganzem Herzen liebte, konnte sie an diesem Aprilmorgen auf ihrem Gang zur Schule nicht beantworten.

Und da war Klaus, zu dem sie rein äusserlich nichts weiter verband als der Beruf. Dennoch musste sie sich eingestehen, dass sie begann, für ihn mehr zu empfinden als bloss kollegiale Gefühle. Wenn sie zum Beispiel im Lehrerzimmer Hefte korrigierte und er ihr gegenüber am selben Tisch eine Lektion vorbereitete, fühlte sie sich in dieser Atmosphäre stiller Vertrautheit leicht und aufgehoben, und mit ihm zu sprechen, bedeutete ihr eine Freude, auf die sie nicht mehr hätte verzichten wollen.

Klaus strahlte eine Noblesse aus, die nicht aufgesetzt war, sondern von innen kam und einen guten Charakter offenbarte. Zudem verströmte er eine sanfte Wärme, die von Respekt und Mitgefühl gegenüber seinen Mitmenschen zeugte. In seinem Blick lag die Tiefe und Klarheit eines Bergsees, die Kathrin bezauberte, und sein kräftiges, glattes Haar schimmerte wie Rauchquarz. Sie ertappte sich beim Gedanken, wie es wohl wäre, in seinen Haaren herumzuwühlen und sich mit ihren Lippen den seinen zu nähern…

Sie verscheuchte diese Vorstellung. Ihr Freund hiess Rolf, und dabei wollte sie es bewenden lassen. Wenn sie unterdessen auch Verschiedenes an ihm entdeckt hatte, das sie störte, so war sie doch der Meinung, dass sie weiterhin zu ihm stehen sollte. Schliesslich war sie nicht die Frau, die bei der kleinsten Schwierigkeit sogleich davonlief; zudem war ihr klar, dass früher oder später auch bei jedem anderen Mann unangenehme Seiten zum Vorschein kommen würden.

‘Und schliesslich bin ich selber ja auch alles andere als perfekt’, sagte sie sich und begann, entschlossener auszuschreiten.

Als sie im Lehrerzimmer eintraf, fand sie Klaus auf dem alten Sofa sitzend. Er studierte aufmerksam einen gediegen gestalteten Faltprospekt. „Mozart“, stand in grossen Lettern auf dem Titelblatt, dazu noch einiges mehr, das Kathrin aber nicht lesen konnte, weil es bedeutend kleiner gedruckt war.

„Treibst du musikalische Studien?“, fragte sie und bemühte sich, einen unverfänglich neckischen Ton anzuschlagen.

Er sah hoch. „Sie geben morgen Abend im Stadttheater Bern die Zauberflöte von Mozart. Ich habe sie bereits zweimal gesehen, aber ein drittes Mal ist kein Mal zu oft. Es ist grossartige Musik. Andere Opern von Mozart haben trotz ihrer hohen Qualität manchmal etwas sperrige Passagen; in der Zauberflöte hingegen findet sich keine einzige langatmige Arie und kein einziger langweiliger Ton. Dieses Werk ist einfach vollkommen.“

„Du verstehst offenbar viel von Musik.“

„Ich liebe Musik. Und du?“

„Ich auch. Ich habe an der PH etwas Geige gespielt, brachte es aber leider nie auf einen grünen Zweig. Aber ich höre sehr gerne Musik, gerade auch Klassik.“

Klaus lächelte. „Das freut mich.“ Dann sah er leicht verlegen auf seine Knie. „Ich möchte dich nämlich … Versteh mich bitte nicht falsch, ich will nicht aufdringlich werden oder etwas in der Art, aber ich möchte dich fragen, ob du mich allenfalls an die Aufführung begleiten würdest.“

Die Gedenken in Kathrins Kopf gingen wirr durcheinander. ‘Er will mich einladen’, jubilierte eine Seite in ihr freudig erregt. Und: ‘Ich muss absagen, ich habe mich doch gerade vorhin für Rolf entschieden’, ermahnte sie die andere. So ging es eine peinliche halbe Minute lang hin und her.

‘Reiss dich zusammen, er will eine Antwort hören’, tadelte sie sich schliesslich, fasste sich ein Herz, atmete tief durch und sagte mit leiser Stimme: „Klaus, es freut mich ehrlich, dass du mich mitnehmen möchtest. Unter anderen Umständen täte ich nichts lieber, als dich zu begleiten. Nur ist es eben so, dass ich… also, dass ich einen Freund habe. Für viele junge Frauen, die ich kenne, wäre das zwar kein Hindernis, mit einem Arbeitskollegen ins Stadttheater zu gehen. Ich selber sehe das etwas anders. Vielleicht bin ich in solchen Sachen etwas altmodisch, doch ich finde einfach, es gehört sich nicht. Vielen Dank, aber ich kann deine freundliche Einladung nicht annehmen.“

Jetzt war’s gesagt, jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Sie spürte Erleichterung, aber auch einen leisen Schmerz.

In Klaus’ Gesicht malte sich für einen kurzen Augenblick Enttäuschung, aber er hatte sich schnell wieder im Griff und sagte gefasst: „Du musst entschuldigen… ich wusste nicht, dass du einen Freund hast. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Das ist mir nun aber sehr peinlich.“

„Das braucht es nicht; ich habe ja auch nie von ihm gesprochen.“

„Weisst du, ich bin in solchen Dingen ebenso altmodisch eingestellt wie du. Zudem denke ich, dass es gar nicht altmodisch, sondern ganz einfach rücksichtsvoll gegenüber dem Freund oder der Freundin ist. So, und nun gehen wir doch am besten zur Tagesordnung über; es ist Zeit, die Schüler warten.“

Kathrin war froh, dass Klaus die Situation so elegant gemeistert hatte. Zugleich wusste sie, dass er nie mehr versuchen würde, sie zu irgendetwas einzuladen. Die Rolle des hartnäckigen Verehrers entsprach nicht seinem Stil.

Sie nahm ihre Mappe und machte sich auf den Weg ins Klassenzimmer. Der leise Schmerz nagte noch immer an ihrem Herzen.

Teufelskraut

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