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In jenem Augenblick, da Marion Lindström den ihr von der Zofe verstohlen dargereichten Brief empfing, stand der Doktor-Kommissar, ein besserer „Lohndiener“ als die meisten der hier versammelten Kollegen, in der nächsten Nähe der schlanken Blondine.

Er ließ sie nicht aus dem Auge. Er sah den Schrecken und die Angst auf ihrem Gesicht, als sie den Umschlag aus blauem Überseepapier empfing. Und er begriff sofort, daß schwarzes Unheil dem Mädchen drohte.

Da dankte er dem Schicksal, daß er hier war und daß sein Beruf und seine Tätigkeit ihm erlaubten, ihr beizustehen.

Mit großer Behutsamkeit folgte er ihr. Sie eilte durch den Ausgang hinter den Lorbeerbüschen ins Haus hinüber. Denn die Halle war ein mächtiger Anbau, der von den Wohnräumen getrennt war.

Da sie in dem langen Korridor verschwand, wußte Splittericht für einen Augenblick nicht, ob er ihr folgen und sie hier belauschen dürfte. Er entschloß sich kurz, blieb zurück und verließ das Haus durch die diesseitige Hallenpforte. Es war ihm im Nu klar geworden, daß Marion Lindström durch den eben empfangenen Brief irgendwohin gerufen wurde. Er war aber auch sogleich entschlossen, ihr zu folgen und das Ziel ihres Ausganges festzustellen. Hier bot sich wahrscheinlich die nicht so leicht wiederkehrende Gelegenheit, das Geheimnis dieses gequälten Frauenherzens zu ergründen.

Er ging hinten herum durch die Anlagen des Gartens, kletterte behend über das Eisengitter und befand sich auf der Straße. Die Leuchtziffer auf seiner Armbanduhr zeigte Mitternacht. Den kleinen, schnellen Wagen, den er selbst fuhr, hatte er auf der gegenüberliegenden Seite unweit der Villa zwischen den Autos geparkt, die dort in langer Reihe auf den Schluß des Festes und die heimkehrenden Gäste warteten.

Es war leicht, hinter diesen Autos sich so zu verstecken, daß er die beiden Eingänge zur Villa, die Hauptanfahrt und das Tor zu den Wirtschaftsräumen überblicken konnte. Und diese Vorsicht war nötig. In der Tat hatte Marion es vorgezogen, den Seitenausgang zu benutzen, zu dem sie einen Schlüssel besaß.

Splittericht, der sich tagsüber in der Umgebung des großen Besitzes orientiert hatte, war froh, daß Marion Lindström nicht etwa den Weg durch die Gartenanlagen hinter der Villa wählte; das war ein Ausgang nach der Parallelstraße.

Er hatte richtig vermutet: das blonde Mädchen eilte schnell über die Straße und schlüpfte in eine Autotaxe. Der Schofför fuhr aus der Reihe, drehte um und gab so dem Doktor-Kommissar, der schon in seinem kleinen Wagen saß, Gelegenheit, unauffällig zu folgen.

Vielleicht wären die Gedanken Marions nicht so schwer und schmerzlich gewesen, vielleicht hätte sie die Bahn ihres jungen Lebens nicht so bedroht gefunden, wenn sie geahnt hätte, welch mutiges Herz ihr zu Hilfe eilen wollte.

Marion hatte nur den Fehpelz über ihr weißes Kleid geworfen und ein seidenes Spitzentuch um den Kopf genommen, als sie fortlief. Die Füße froren ihr in den goldenen Schuhen, aber sie empfand es kaum. Ihr ganzes Wesen war wie ausgelöscht. Als habe eine fürchterliche Faust sie im Genick gepackt, die sie nun ins Verderben riß. Sie konnte nicht mehr weinen. Sie rang nur wieder und wieder die Hände, in denen sie noch den Brief hielt, der ihr befohlen hatte, sofort aufzubrechen von dem glänzenden Fest, auf dem sie sich verlobte, irgendwohin in eine schwarze Wildnis, wo ihr der Untergang drohte.

Mußte sie denn diesem Menschen folgen? Seinem Wort so blindlings gehorchen?

Es war, als risse plötzlich ein Vorhang vor ihrer Seele mitten durch, und in einem kalten, grausamen Licht standen alle die Erlebnisse, die sie seit jenem Junitag vor zwei Jahren bis heute umdroht und geängstigt hatten.

Da war dieser Mensch in ihr Haus gekommen. Er spielte Klavier, sie sang; so musizierten sie zusammen, sie ritten miteinander aus, machten gemeinsame Autotouren, und es war nichts zwischen ihnen als eine freundlich-harmlose Kameradschaft. Eines Tages kam er mit allen Zeichen des Entsetzens zu ihr und bat sie um Hilfe. Marion besaß von Mutters Seite — sie hatte ihre vergötterte Mama verloren, als sie eben konfirmiert worden war — ein recht beträchtliches Vermögen, das ihr der Konsul zur freien Verfügung überließ. Sie konnte nach eigenem Gutdünken über dieses Geld verfügen, das nicht einmal bei dem Bankhaus Lindström angelegt war. Marion war, so weit das ein Mädchen ihrer Herkunft sein konnte, bescheiden. Sie verbrauchte bei weitem nicht die Zinsen ihres Kapitals. Aber sie fürchtete sich auch nicht vor einer größeren Ausgabe. So kam es, daß sie, als jener Mensch um Hilfe bat, mit ruhiger Selbstverständlichkeit ihr Scheckbuch nahm und auf den kleinen Zettel die Zahl zwölftausend schrieb, die er genannt hatte. Da er ihr danken wollte, lachte sie ihn aus und begriff nicht, was der Listige vorhatte, als er sie bat, zu ihrer Güte noch ein besonderes Geschenk hinzuzufügen und ihm die Annahme des Geldes dadurch leicht zu machen, daß sie übermorgen seinen Geburtstag mit ihm feierte. Später erfuhr sie, daß er gar nicht an diesem Tag geboren war. Wie alles bei ihm, war auch das Lug und Trug gewesen.

Marion fuhr mit ihm am übernächsten Tag weit ins Land. Sie verlebte an seiner Seite einen frohen und, wenn ihr das heute auch ganz unmöglich erschien, glücklichen Nachmittag.

In Daxlau, einem kleinen Landstädtchen, speisten sie zu Mittag. Sie tranken Champagner, und Marion, die sonst Wein nicht mochte, ließ sich an diesem Tage ihre Sektschale wiederholt vollschenken.

Nachher wurde sie so seltsam müde. Ihr Begleiter nahm ein Zimmer, daß sie ruhen könne. Sie schlief stundenlang. Als sie erwachte, saß er neben ihr auf dem Bettrand und wollte sie küssen. Sie wies ihn energisch aus dem Zimmer.

„Mach dich doch nicht lächerlich!“ Er nannte sie plötzlich du. „Oder willst du mir einreden, du seist umsonst mit mir herausgefahren?!“

Sie sah ihn sprachlos an. Blickte in zwei böse schillernde Augen.

„Dein Vater? Ha! Dein Vater kann mir gar nichts! Dem werd’ ich schon klarmachen, wer mich so lange angelacht und gelockt hat, bis ich, halb verrückt vor Leidenschaft, mich nicht mehr beherrschen konnte ... Oder willst du etwa leugnen, daß wir nur auf deinen Wunsch hierhergegangen sind?“

Sie verstand ihn erst gar nicht, sie begriff diese abgrundtiefe Schlechtigkeit, seine Verlogenheit nicht. Sie sah ihn nur groß an:

„Auf meinen Wunsch sind wir hierhergegangen?“

„Was denn sonst! ... Wärest du mir etwa gefolgt, wenn du es nicht selbst gewollt hättest?“

All dies widerte sie von Grund auf an; sie empfand, daß er sie durch das „Du“ weit mehr noch als durch seine Lügen beleidigte.

Er grinste sie an:

„Na, sprich doch, rede doch! ... Aber du weißt nichts, du fühlst, daß ich im Recht bin, und hast wenigstens noch so viel Scham, es nicht abzustreiten!“

Sie sah ihn starr an. Diese Demaskierung eines Schurken geschah zu plötzlich. Und Marion wurde sich so schnell nicht klar über das Unrecht, das an ihr begangen worden war.

„Wir wollen fahren ...“, sagte sie nur.

Er wurde unsicher, sagte aber frech:

„Ja, wenn es mir paßt!“

Da nahm sie den seidenen Automantel und Schal vom Riegel, setzte die Sturmkappe auf und ging zur Tür.

Er wollte sich ihr in den Weg stellen, sie schob ihn jedoch mit einer Handbewegung zur Seite. Und nun folgte er ihr, als sie hinunterging, ins Gastzimmer.

Marion bezahlte die Zeche. Die dicke Frau hinter dem Schanktisch wunderte sich über die plötzliche Abfahrt.

Es dämmerte schon. Da glitt das Auto zwischen schweigenden Wäldern und schimmernden Feldern hindurch der großen Stadt zu ...

Zwischen Vater und Tochter herrschte ein unbegrenztes Vertrauen. Der Bankdirektor war vom Charakter seines Kindes zu fest überzeugt, als daß Marions verspätete Heimkehr ihn hätte irgendwie beunruhigen können. Konsul Lindström schlief schon, als der Wagen gegen zehn Uhr vor der Einfahrt zur Garage hielt. Marion stieg aus und ging ins Haus hinein, vorbei an ihrem, sie mit unterwürfiger Höflichkeit grüßenden Begleiter, den sie einfach übersah.

Aber sie sprach auch zu keinem Menschen von den Erlebnissen dieser Nacht.

Der Mann, der sich in solcher Stunde als ein Lump vor ihr entpuppt hatte, kam nach wie vor in ihr Haus. Er besuchte Marion in Gegenwart des Vaters und allein, er beachtete ihre Abwehr nicht. Und als sie ihm mit deutlichen Worten sagte, was sie von ihm dachte, da warnte er sie, ihn ja nicht zu beleidigen oder zu reizen, wenn sie es nicht arg bereuen wolle Dagegen könne sie ihm wieder mit ein paar tausend Mark unter die Arme greifen. Er brauchte Geld, viel Geld!

Von jener Nacht an stand der, dessen Namen sie selbst in stillen Selbstgesprächen nicht aussprechen mochte, einem schwarzen Schatten gleich überall an Marions Wegen. Sie mußte ihm wieder und wieder Geld geben. Er verlangte so viel, daß die Zinsen ihres Vermögens nicht ausreichten, daß sie das Kapital anzugreifen gezwungen war. Aber das war ihr gleich. Sie hätte alles, was sie besaß, mit Freuden geopfert, wenn sie sich dadurch von der Gegenwart dieses Widerwärtigen hätte befreien können.

Sie lernte Stefan von Wieland kennen und geriet nun doppelt in Angst und Nöte. Jetzt war es nicht mehr der Vater allein, waren es nicht mehr nur Freunde und Verwandte, die ihre, ach, so verzeihlichen Fehler verurteilen konnten, nun kam noch die Liebe und die Eifersucht des Mannes hinzu, der ihr blind ergeben und doch so herrisch war, wenn es um seine Leidenschaft für sie ging.

Marion las im Schein des Taxilämpchens den Brief:

„Wage es nicht, meine Befehle zu mißachten! Ich habe dir heut früh geschrieben, daß ich diese Verlobung nicht dulde. Sobald du diese Zeilen erhältst, komme sofort in die Diana-Säle, Frühlingsstraße 58a, auf den Artistenball. Ich erwarte dich dort. Der Brief an deinen Bräutigam liegt fertig zum Absenden. Ich warte bis Mitternacht.“

Marion zerriß den Brief, den sie in Händen hielt, in kleine Stücke. Dann ließ sie das Wagenfenster herab und warf die Schnitzel hinaus. Im nächsten Augenblick erschrak sie furchtbar. Sie hatte den Ort, wohin der Mensch — anders nannte sie ihn bei sich nie — sie hinbestellt hatte, vergessen.

Aber der Schofför, dem sie vorhin Straße und Hausnummer angegeben, hatte die Adresse behalten.

Nicht lange, da hielt das Auto vor einer Fassade, über deren hohem Rundbogen elektrische Buchstaben leuchteten. Marion buchstabierte: Diana-Säle. Dann stand sie auf der Straße. Sie merkte gar nicht, daß vor dem Nebenhause ein anderes, ein Privatauto hielt, dem der Doktor-Kommissar entstieg, um sich sofort im Nachbarhausflur zu verbergen.

Marion ging unschlüssig ein paar Schritte hin und her, dann eilte sie durch die erleuchtete Einfahrt über einen schmutzigen Hof auf die vier hohen, erhellten Fenster zu.

Es war ein großes Tanzlokal, das sie betrat. An der Kasse stand ein feister Mensch in schwarzem Pierrotkostüm. Sein Gesicht war durch rote und schwarze Striche und den breit geschminkten Mund entstellt. Er feixte:

„Meine Dame, es ist ein Maskenball. Haben Sie kein Kostüm? ... Na, schlimmstenfalls können Sie ja ...“, er berührte täppisch ihren Fehmantel, „auch in der Karnickelpelle da rein!“

In diesem Augenblick ging die Saaltür auf und ein Domino trat auf den zugigen Flur an den improvisierten Kassentisch heran, reichte Marion die Hand und sagte:

„Komm nur!“

Dem Pierrot machte er ein Zeichen mit den Augen, die aus seiner schwarzen Samtlarve grünlich leuchteten. Er trug einen weitfaltigen Domino aus gelbem Atlas, und man konnte nichts feststellen als die mittelgroße, geschmeidige Figur eines Menschen, der nicht mehr zu jung, aber auch nicht alt war.

Er zog jetzt eine der seinen gleiche Larve aus der Brusttasche und hing sie, ohne erst viel zu reden, dem Mädchen vors Gesicht. Dann öffnete er die Tür zum Saal und führte Marion hinein.

Es war ein großer Raum, einer jener Tanzsäle in der Vorstadt, an den Wänden und unter der Decke mit Girlanden aus buntem Seidenpapier bespannt, mit Fahnen und Bannern dekoriert und von drei mächtigen Kronleuchtern erhellt. Die Musik spielte oben auf der Empore gerade einen neuen Gassenhauer, dessen blöden Kehrreim die nach mehreren Hunderten zählenden Gäste laut und herausfordernd mitsangen.

Es waren durchweg junge Leute, Männer von zwanzig bis dreißig und Frauen in demselben Alter. Sehr viele hübsche Mädchen, auch erschreckend verlebte Gesichter. Sehr teure und geschmackvolle Maskenkostüme sah man, allerdings weniger bei den Herren, die den Frack bevorzugten und die zum größten Teil ihre Larven schon abgelegt hatten. Die schmalen Augenstreifen baumelten am Knopf der Weste oder lagen auf den Tischen zwischen Bier- und Weingläsern.

Getanzt wurde auf zwei Rondellen, deren eines fest und unverrückbar stand, während das andere sich drehte, und zwar in der dem Tanze entgegengesetzten Richtung. Es war ein Kunststück, sich auf dieser rotierenden Scheibe auf den Füßen zu halten, ein größeres, darauf zu tanzen. Doch die Frauen hier schienen an die Unsicherheit ihrer Lebenslage so gewöhnt, da ihnen diese Bewegung Spaß machte. Auch wurden sie von Männern im Arm gehalten, die sich damit brüsteten, daß sie in noch seltsameren Situationen fest auf den Füßen blieben.

Marion Lindström ging am Arm des maskierten Dominos nach der Treppe hinüber, die zu den Logen hinaufführte.

Mord im Bankhaus Lindström

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