Читать книгу Die Pandemie des Todes 2.Teil Die Kinder - Hans Joachim Gorny - Страница 4

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Zoras Trainingshose wird feucht. Das Chaos bricht aus. Freddy funkt Heide herbei.

„Wieso kommt das Kind so plötzlich?“ fragt er Zora.

„Frag mich was Leichteres.“ Sie kämpft mit der Atmung.

Elfriede brüllt: „Was soll ich mit Siggi machen?“

„Mach einen Essigwickel“, brüllt Freddy zurück und legt ein steriles Gummituch auf die Couch. Zora streift die Hosen ab, Freddy hilft. Schon bricht das Fruchtwasser heraus. Heidi kommt mit dem E-Bike, lässt es mitten im Hof zu Boden fallen und macht sich an die Vorbereitungen. Elfriede geht an den Küchenschrank, nimmt Salatessig heraus, gießt es über ein Geschirrtuch, schlendert in den Behandlungsraum, legt es Siggi auf die Bissstelle.

Das Kind kommt dann doch nicht so plötzlich wie es sich angekündigt hat. Das Gebärteam entspannt sich. Zora und Freddy wissen inzwischen, dass es ein Mädchen ist. Wer öfters mit dem Ultraschall auf dem Bauch herum fährt, dem entgeht das nicht. Deshalb sagt er: „Das Mädchen ist so schnell wie seine Mutter.“

Aber erst zwei Stunden später nimmt es Heidi in Empfang und wäscht es.

„Es hat schwarze Haare“, freut sich Zora. „Keine Roten.“

„Dann wird es ein bärtiger Salafist“, neckt der glückliche Freddy. So wurde er von Zora bei ihrer ersten Begegnung bezeichnet. Sie lächelt ergriffen. Nun hat auch sie dieses Wunder vollbracht. Das Mädchen scheint gesund zu sein. Er nimmt das Gummituch weg und richtet ihr auf der Couch ein Bett. Heidi legt ihr den Säugling an die Brust, das Neugeborene beginnt zu suchen. Zora ist gerührt. Ihr steigt das Wasser in die Augen. „Kaum zu glauben. Ich bin Mutter.“ Sie drückt ihr Baby an sich.

Elfriede kommt herein und betrachtet es. Säuglinge hat sie schon bei Bärbel, Lea und Nora gesehen.

„Keins ist so schön wie deins“, haucht sie. „Wan verrät ihr mir wie es heißen soll?“

Das wollten Zora und Freddy erst tun, wenn es gesund auf Mutters Bauch liegt.

„Das können wir jetzt. Unsere Tochter nennen wir nach Freddys und meiner Mutter. Magdalena Mkena. Wir wollen sie aber Meggy rufen.“

„Meggy finde ich auch praktischer. Ich muss schnell zu Tom etwas holen. Kann ich das schon weitererzählen?“

„Kein Problem“, antwortet die frisch entbundene Mutter mir seligem Lächeln.

Auf der Liege des Behandlungsraums liegt nach wie vor der vergessene Siggi.

Nach zehn Minuten ist Elfriede wieder zurück. Ihr folgen alle die gerade bei den Höfen waren. Sie wollen den Säugling sehen und erwarten von dem schönen Paar ein extra schönes Baby. Marion, Otmar, Mette, Max, Lea und Nora drängen sich im Wohnzimmer um die Couch und überbieten sich mit Lob. Elfriede sitzt am Tisch und betrachtet konzentriert in einem Buch mehrere Fotografien.

Plötzlich sagt sie völlig zusammenhangslos: „Es war eine Aspis Viper“ und zeigt auf ein Foto. „Die hat so einen dreieckigen Kopf wie die Schlange die Siggi gebissen hat.“

In das Glück ihrer Freuden fährt der Schreck bis in die Endpunkte ihrer Glieder.

„Wo ist Siggi?“ fragt Zora mit aufgerissenen Augen.

„Der liegt im Bett. Roman hat ihm einen Schlafanzug und die Zahnbürste gebracht. Habt ihr gewusst, dass die Aspis Viper eigentlich nur im Südschwarzwald zu Hause ist? Ich würde sagen, sie breitet sich aus.“

„Hat der Essigwickel geholfen“, will Freddy kurz angebunden wissen.

„Nein. Es ist nicht besser geworden. Ich hab dann die altertümliche Behandlung angewendet. Jetzt gehen die Schwellung und die Schmerzen zurück.“

Zora meint, sie hört nicht richtig. Seit wann ist eine Vierzehnjährige für die Behandlung zuständig. „Was hast du gemacht?“

„So wie es die alten Ägypter gemacht haben. Ich habe Osterluzei Blätter auf den Arm gebunden. Und es hat gewirkt“, fügt sie selbstzufrieden hinzu.

Zora weiß natürlich, dass in der modernen Medizin Osterluzei wegen seiner indossierbaren Giftigkeit nicht angewendet wird. Nun hat Elfriede den erst kürzlich gesetzten Pflanzen die noch frischen Blätter abgerissen und für Siggis Schwellung verbraucht. Doch er übersteht die laienhafte Behandlung und darf nach zwei Tagen wieder heim. Bis der Arm wieder voll verwendungsfähig ist, dauert es allerdings etwas länger. Die Kinder und auch die Erwachsenen sind jetzt gewarnt. Seit neustem gibt es Giftschlangen in ihrem Lebensraum.


Ein stressiges Leben führt niemand. Es sei denn, man bekommt seine vielen Hobbys nicht unter den Hut. Die Vorratslager von denen gelebt wird, sind voll. Marion und Stella sorgen wöchentlich für frisches Fleisch. Maschinen und Geräte stehen unübersichtlich viele zur Verfügung. Solange es Getreide- und Mehlspeicher mit Inhalt gibt, braucht sich keiner einen Kopf zumachen, ob die eigene Aussaat etwas wird. Was Arbeit macht ist das Kochen, die Gruppe ist üppige Menüs gewöhnt, und der Garten. Auf frisches Gemüse will niemand verzichten. Sobald es die Witterung zulässt wird gesät, gesetzt, gehackt und die Pflanzen verhätschelt. Für Max den Gärtner ist der morgendliche Gang in den Garten Pflicht. Für die Frauen ist Ernten das Höchste der Gefühle. Auch die Tiere machen Arbeit. Zwischen Frühstück und Mittagessen werden die Ziegen gemolken und gefüttert, die Pferde versorgt und geritten, die Herde auf die Weide geführt, das Geflügel herausgelassen. Sehr oft wird geschlachtet, wobei das Geflügel am meisten Umstände bereitet. Wichtig ist das Heu für den Winter. Da kann es dann doch mal stressig werden. Oft folgt auf zwei schöne Tage schon wieder eine Regenfront. Bevor sie die Höfe erreicht, muss das Heu trocken in der Scheune liegen. Bei bald dreizehn Pferden, vier Stuten sind trächtig, muss nun wesentlich mehr eingelagert werden. Am meisten fressen die von Sergei und Paul mitgebrachten Kutschpferde.

Das Lieblingsvergnügen aller ist unbestritten „Einkaufen“. Ständig ist jemand unterwegs um in Geschäften nach Lebensmitteln zu suchen, die man noch nicht kennt. Die Abwechslung auf den Tisch bringen. Manche leeren in den Geschäften heimlich eine Flasche Wein. In Boutiquen werden Klamotten probiert. Das größte Durcheinander herrscht in den Bekleidungsgeschäften. Die unordentliche Kundschaft legt nichts dorthin zurück wo es hingehört. Einige durchsuchen regelmäßig die Buchhandlungen. Vor allem nach teuren Bildbänden, die man sich früher nicht leisten konnte. Oder die zu kaufen man zu geizig war. Wem ein Werkzeug kaputt geht, wer ein Gerät oder eine Maschine braucht, fährt zum nächstgelegenen Baumarkt und nimmt es sich aus den unendlich langen Regalen.

Es werden auch immer noch Wohnungen durchsucht. Was keiner weiß, Freddy sucht nach wie vor nach Gold und Goldmünzen. Er hat seine Enduro wiederentdeckt. Sie fährt mit selbst gemixtem Sprit. Mit ihr kann er sogar auf Wildwechseln zu den Dörfern fahren, in vielversprechende Häuser einbrechen und sie durchsuchen. Wenn er einen Safe findet, braucht er nicht auf Lärm zu achten, wenn er ihn aus der Wand bricht. Den Metallblock holt er zu einem späteren Zeitpunkt mit einem Unimog ab und schweißt ihn hinter dem Hospital auf.

Einige Gruppemitglieder haben ihre Lieblingshäuser, die in der Regel in südlicher Hanglage liegen. Dort verbringen sie nicht wenig Freizeit. Manche melden sich, zum Beispiel übers Wochenende, für einige Tage ab und leben dann mit abgehobenem Gefühl im Luxus. Breite Betten, tolle Küche, Hausbar, riesige Sessel. Der Luxus hat aber zwei Seiten. In diesen schicken Häusern gibt es weder Heizung und noch Sonnen- Strom. Das Wasser muss mitgebracht werden. Der Wasserdruck der Quellen erreicht die hochliegenden Häuser nicht.

Die Zeit der Chaoten und Herumtreiber scheint vorbei. Soweit es die Gruppe überblicken kann. Niemand ängstigt sich noch vor umherziehenden Militäreinheiten und Diebesbanden. Die noch lebenden Menschen, zumindest die Deutschen, sind nun Sesshaft und versuchen ein sinnvolles und geregeltes Leben zu führen. Die Kinder dürfen spielen wo sie wollen. Tagsüber. Dürfen sich in die Wildnis wagen, an Tiere anschleichen, angeln, jagen, Hütten bauen. Die Kinder haben aber die wenigste Freizeit. Morgens erhalten sie einige Stunden Schulunterricht. Nachmittags sollen sie von den Erwachsenen einen Beruf erlernen. Wissen soll unbedingt weiter gegeben werden. Buben und Mädchen werden handwerkliche und bäuerliche Fertigkeiten vermittelt. So viele wie möglich. Siggi muss nachmittags bei Tom in die Leere gehen. Er soll einmal der Mechatroniker der Gruppe werden. Er will aber lieber Bäcker sein, wehrt er sich erfolglos. Das könne er immer noch lernen, tröstet Tom. Multifunktionale Typen wären immer gefragt und hätten bei den Frauen erhöhte Chancen.

Das attraktivste Mädchen ist Elfriede. Sie ist auf ein Meter fünfundsiebzig aufgeschossen, sportlich und schlank. Je nach Geschmack auch lang und klapprig. Auf jeden Fall sehr agil und dementsprechend anstrengend. Zu anstrengend für einen gemütlichen Kerl. Siggi ist bei ihr schon abgeblitzt. Er wollte einmal Spaß vortäuschend mit ihr raufen. So wie es die Jugend eben macht, wenn sie ersten Körperkontakt sucht. Das ist ihm aber schlecht bekommen. Irgendwie schaffte er es sie von hinten zu umklammern und hochzuheben. Kurz war er verblüfft wie leicht sie ist. Für Elfriede war das die Gelegenheit ihre Karatekenntnisse zu zeigen. Schon spürte er schmerzhaft ihre spitzen Fingernägel in seinen Rippen. Er ließ sie los, sie fasste einen seiner Arme und schleuderte ihn mit dem Rücken auf das Pflaster.

Dann gibt es noch Claudia und Natascha. Die beiden sind verträglicher, aber pummelig und langweilig. Auf Hasans Hof wird den Mädchen eingetrichtert, keine Kerle an sich zu lassen. Claudia hätte es gerne, Natascha kreischt, wenn sie angefasst wird.


Zora beobachtet wie Elfriede die kleine Meggy hält, sie streichelt und an sich drückt. Irgendwie befremdet sie das. Sie überlegt wieso. Was ist daran so unnatürlich, wenn eine Vierzehnjährige mit einem Säugling schmust? Da Elfriede einmal zehn Kinder haben will, übt sie wohl den Umgang, will ein Gefühl für Babys entwickeln. Für Zora ist es trotzdem seltsam. Wann hat sie den Teenager schon einmal eng mit einem Menschen erlebt? Zoras Horizont erhellt sich umgehend. Eigentlich noch nie. Das ist es, was sie so befremdet. Elfriede meidet Körperkontakt. Mit jedem. Außer mit einem unschuldigen Neugeborenen. Noch nie hat sie jemanden in den Arm genommen oder gar umarmt. Siggi, der das probiert hat, musste es schmerzlich bereuen. Elfriede bringt es fertig vor jeden dicht hinzustehen, ihm tief in die Augen zu schauen, sich mit ihm zu unterhalten, ohne ihn jemals zu berühren. Andererseits wagt es auch niemand der agilen Intelligenzbestie auf die Pelle zu rücken. Das selten stillstehende Mundwerk hält jeden auf Distanz. Elfriede kann sich freuen, keine Frage. Aber ohne jemand um den Hals zu fallen. Wenn sie sich freut, freut sie sich mit sich. Jauchzt und lacht, hüpft auf der Stelle, dreht sich um die eigene Achse und reckt die Fäuste nach oben.

Zwischen anderen zu sitzen scheint ihr nichts auszumachen. Egal neben wem. Ob am Küchentisch oder tief in der Couch beim Filmschauen. Aber nie legt sie mal ihre Hand auf eine andere oder auf ein Knie. Ein anerkennendes Schulterklopfen wurde bei ihr auch noch nie beobachtet. Sie wird auch nie von anderen berührt. Von Männern schon gar nicht. Sie wird für etwas Besonderes gehalten, ob man sie nun leiden kann oder nicht. Elfriede ist aufgrund ihres wachen Auftretens unantastbar. Auf einmal fällt es Zora wie Schuppen von den Augen. Dass ihr das noch nie aufgefallen ist? Auch sie wird von den anderen nie berührt, angefasst oder in den Arm genommen. Und sie selber ist, obwohl sie das nicht will, distanziert wie Elfriede. Nach längerer Überlegung sieht sie es als das Schicksal überzeugender, dominanter Frauen. Mit Schönheit hat das nicht unbedingt etwas zu tun.

Zora erhebt sich. Sie hat was Besonderes vor.

Elfriede lacht Meggy an und spielt mit ihren Händen.

„Fried“, sagt Zora ernst. „Steh mal auf.“ Sie schaut in das sommersprossige Gesicht. Das Mädchen bekommt ein schlechtes Gewissen. Hat sie etwas falsch gemacht? Sie steht auf.

„Fried. Darf ich dich umarmen?“

Elfriede ist geschockt. Ihrem Gesicht nach hätte sie alles erwartet, nur das nicht. Zora lächelt milde. Fried ist beruhigt.

„Ich möchte mich endlich für deine Unterstützung bedanken.“

Das leuchtet Elfriede ein und sie lässt es geschehen. Etwas steif legt die sonst so gelenkige ihre Arme um Zora. Zora drückt das gleichgroße Mädchen fest an sich. Hält sie umklammert, so dass ihre Wärme in Elfriede fließt. Schließlich drückt das Mädchen fester zu, haucht: „Ich habe zu danken. Weil du meinem Leben eine Perspektive gibst. Weil es sinnvoll weiter geht.“

Zora grinst. „Rede nicht. So was Kluges wie du ist seine eigene Perspektive.“


Aber Elfriede ist nicht zu fassen, eine vertraute Freundschaft lässt sie nicht zu. Am Unterricht nimmt sie teil, weil sie sich das Wissen einer Abiturientin aneignen will. Sie lernt bei Zora und in medizinischen Büchern, weil sie sich das Wissen eines Arztes aneignen will. Sie spielt Geige allein im Feld, geht Joggen, nutzt auch den Sportplatz, lernt bei Freddy Karate. Und sie arbeitet viel im Kräutergarten. Liest abends bis tief in die Nacht die unmöglichsten Bücher. Trotzdem verschwindet sie immer wieder für Stunden und niemand weiß wohin. Da nun alle irgendwo ihre Lieblingsplätze haben, wird das auch Elfriede gegönnt.


Bei einem Mittagessen erwähnt Freddy einen beunruhigenden Umstand. Er sei in der Volksbank gewesen. Und auch in der Sparkasse. Aus reiner Neugier. Dann hätte er auch noch andere Banken besucht. „Überall wurde eingebrochen. In jeder Bank dieser Gegend ist die Tür zu den Schließfächern aufgebrochen. Und die Schließfächer ebenfalls. Wer macht sowas?“

Marion erinnert sich. „Ich habe auch noch ein Schließfach. In Frankfurt. Da liegen wichtige Aktien drin. Die sind bestimmt auch schon geklaut.“

„In den Fächern hier, liegen überall noch die Papiere. Aber ich gehe davon aus, dass vielleicht auch Wertgegenstände wie Schmuck oder Münzen dabei lagen. Davon keine Spur. Nirgends.“

Tom wundert sich. „Lassen die sich so leicht aufbrechen?“

„Hebelgesetz“, meint Freddy. „Mit einer langen, zugespitzten Eisenstange und einer Hebelvorrichtung geht das wie das Katzenmachen. Mich würde jetzt interessieren, wer so etwas macht. Bei Hasan drüben war es niemand. Die haben mich alle angeschaut wie die Bauklötze. Wenn es von uns niemand war, dann treibt sich hier ein Fremder herum. Oder mehrere Fremde. Das finde ich beunruhigend.“

Aha, denkt Zora. Freddy hat Angst um sein Gold und Geld. Sie grinst in sich hinein. Findet die Anwesenheit von Fremden aber ebenfalls bedrohlich.

„Heißt das“, Nico schaut verärgert, „wir müssen wieder wachsam sein? Müssen wir Wachen aufstellen?“

„Wir haben doch die Hunde“, beruhigt Otmar. „Katys Strom ist nicht zu überhören.“

„Also, bevor ihr anfangt Gespenster zu sehen“, mischt sich Elfriede ein, „ich war‘s. Ich habe im Winter die Fächer aufgebrochen und die Münzen herausgenommen.“

Die Gruppe ist platt. Einigen lösen sich vor Erstaunen die Gesichtszüge. Schütteln ihre Köpfe.

Marion ist fast entrüstet. „Für was soll das gut sein?“

„Reine Vorsorge. Wir werden einmal Zahlungsmittel brauchen“, plappert Fried locker drauf los. „Wenn man in späteren Jahren mal etwas braucht, aber nicht eintauschen kann, wird man auf ein Zahlungsmittel zurückgreifen müssen. Schwere Münzen bieten sich da an. Mit Geldscheinen wird es nicht so gut funktionieren wie mit Münzen. Ich stelle mir vor, dass unsere Enkel einmal dankbar dafür sein werden.“

„Wie kommst du bloß auf so eine Schnapsidee?“ unterbricht Freddy, obwohl das seine eigene Überlegung ist.

„Ich habe ein schlaues Buch gelesen, Economie et Consommation, da steht sowas drin.“

Zora lacht auf. „Wirtschaft und Konsum? Das wurde in einer anderen Zeit für eine andere Zukunft geschrieben.“

Elfriede schlägt ihren altklugen Ton an. „Nicht ganz. Da geht es darum, wie Wirtschaft im Prinzip funktioniert. Ganz egal ob es viele oder wenige Menschen gibt. Was begehrt ist, steigt im Wert. Wenn zum Beispiel für ein wichtiges Ersatzteil eine unentbehrliche Kuh gefordert wird, kann man stattdessen auf Zahlungsmittel ausweichen, die die natürlichen Vorlieben der Menschen ansprechen. Und das ist zum Beispiel Gold. Oder Edelsteine. Funkelnde Tauschwaren werden die Menschen auch in der Zukunft begehren, weil sie tief in ihrem Innern danach lechzen.“

„Fried, deine Intelligenz in Ehren“, sagt die Schmuck hortende Stella, die, wie die anderen auch, Elfriedes Überlegungen nicht ganz nachvollziehen kann. „Aber es ist wohl deine persönliche Habgier, die dich die Schließfächer knacken ließ.“

Das Mädchen zieht seine Augen zu Schlitzen. „Es könnte sein, dass wir einmal Medikamente eintauschen müssen, die wir selber nicht herstellen können. Medikamente, die du vielleicht einmal brauchst.“

Stella schluckt und kommt sich auf einmal dumm vor.

Die Gruppe bewundert zwar Elfriedes Weitsicht, sieht es aber wieder so, dass die Fantasie mit ihr durchgeht. Das Mädchen spürt Ablehnung. Und rächt sich.

„Man kann die Sache auch auf so einfache Art darstellen, dass auch ihr sie kapiert. Was man hat, das hat man.“ Sie schaut auffordernd in die Runde. „Es könnte sein, dass meine Kinder einmal die Bankiers eurer Kinder sind.“

Da war nichts mehr von wir und uns. Weil die Gruppe mit Unverständnis reagiert hat, ist sie nun vom zukünftigen Reichtum ausgeschlossen. Das versteht nun jeder. Elfriede wird mit noch mehr Distanz bedacht.


Tierisches und menschliches Leben kommt nicht ohne Dramen und Unglücke aus. Bei ersteren sind dafür Beutegreifer und Naturkatastrophen zuständig. Bei den Menschen meist Krankheiten und die Wirren des Verstandes.

Es ist Sonntagmorgen. Elfriede sitzt schon über einem Buch. Zora, Freddy und Meggy schlafen noch, weil Letztere die halbe Nacht ihre Eltern unterhalten hat. Das Funkgerät knackst. „Zora. Hier ist Hasan. Bitte melde dich.“

Elfriede schaut auf, überlegt, ob sie die Gesuchte wecken soll.

„Zora. Ich weiß, dass Sonntagmorgen ist. Aber melde dich. Es ist etwas Schlimmes passiert.“

Elfriede geht zum Gerät. „Hallo Hasan. Hier Fried. Zora schläft noch. Meggy hat letzte Nacht den Kasper gegeben.“

Hasans Stimme wird drängender. „Weck sie auf. Sie muss dringend kommen. Wir brauchen eine Ärztin. Es ist was mit Amera.“

Ohne zu klopfen, geht sie an Zoras Bett, schüttelt sie und hebt ihr das Gerät hin. „Hasan. Ein Notfall“, sagt sie nur.

„Hasan?“ fragt Zora, mit geschlossenen Augen.

„Amera hat sich erhängt.“

Zoras Augen klappen auf. „Lebt sie noch?“

„Nein. Glaube ich auf jeden Fall nicht.“

„Für was braucht ihr dann mich?“

„Wir wollen eine Bestätigung, dass sie Tod ist.“

„Bis ich drüben bin, wird sie auch nicht lebendiger.“

„Soll ich dich fahren?“ ruft Elfriede aus dem Flur.

„Ja Fried. Das wäre nett.“

Wenn es einen Menschen gibt der ein Schattendasein führt, dann ist es Amera. So auffällig Zora die Gruppen dominiert, so unauffällig lebt die kleine, breitgebaute Armenierin. Bei all ihren Tätigkeiten wird sie übersehen. Im Haushalt wie im Garten. Sogar am Tisch beim Essen. Weil sie wenig Deutsch kann, sagt sie wenig. Deshalb auch, richtet selten jemand das Wort an sie. Und weil ihre Kenntnisse sich nicht verbessern, hält man sie für dumm. Die Kinder und Jugendliche behandeln sie wie einen Einrichtungsgegenstand an dem man vorbeiläuft. Sie bemüht sich aber auch nicht um Aufmerksamkeit. Sie könnte ja mal ein Armenisches Lied singen. Oder etwas spaßig sein. Nein, komplexbeladen hadert sie mit ihrem Schicksal und Aussehen.

Sie hat von Frust durchbohrte Gefühle. Keine Frau sehnt sich so nach einem Mann wie sie. Als Amera die Religiösen verließ, hoffte sie auf Atze. Doch den eroberte Calendula, die nun bei Hasan das große Wort führt. Hasan ist mit Ingrid liiert, Roman mit Bärbel. Die anderen erwachsenen Frauen, Helga und Gisela, halten sich an Dietmar, der abwechselnd beide beglückt. Weil er das macht, kann Amera ihn nicht ausstehen. So unauffällig und unansehnlich sie ist, hat sie doch hohe Ansprüche und will einen Mann nur für sich. Als Sergei und Paul auftauchten, waren sie schneller vergeben als Amera Amen sagen konnte. Wieder ging sie leer aus, wurde von den Neuen nicht einmal registriert. Sergei und Paul wissen vermutlich nicht einmal, dass es das arme Frauchen gibt. Unzufrieden mit sich, mit ihren Mitmenschen und der körperlichen Arbeit, ist sie kaum zu einem Lächeln zu bewegen. Freude bereitet hat ihr bislang nur der Zirkus Zarazani.

Auch Zora, Freddy und Tom haben sich mit ihr noch nie unterhalten. Sie ist halt da und macht ihre Arbeit. Elfriede sieht die kleine und mindestens doppelt so alte Amera öfter. Wenn sie zum Unterricht geht, nickt sie ihr manchmal freundlich zu. Doch Amera weiß mit dem dünnen Mädchen nichts anzufangen. Für sie ist Elfriede ein Fabelwesen aus einer anderen Welt. Aus einer deutschen Welt, in der die Menschen groß, schlank, blond, selbstbewusst und gebildet sind.

Wie Zora bestätigt, muss man von Amera nun in der Vergangenheitsform reden. Die noch lebenden Menschen begegnen dem Tod ziemlich geschäftsmäßig. Ihre Kinder werden Todesfälle einmal anders aufnehmen. Dennoch hat Ameras freiwilliges Ableben alle erschreckt. Sie liegt aufgebahrt in einem Wohnzimmer. Zora und Hasans Gruppe stehen um sie herum. Elfriede lümmelt in einem Sessel, die Füße auf dem Couchtisch.

„Wir haben sie ignoriert“, behauptet Roman. „Wir haben uns überhaupt nicht um sie gekümmert.“

„Es ist schlimm“, seufzt Helga. „Niemand hat sich für sie interessiert. Amera hatte doch bestimmt Vorlieben.“

Hasan: „Ich weiß nur, dass sie unbedingt einen Mann wollte. Da hätte sie sich ein wenig bewegen und in die weite Welt gehen und suchen müssen. Das Gewünschte kommt selten von selber angeflogen.“

„Du hast doch keine Ahnung“, meint Bärbel. „Wir hätten sie besser integrieren sollen. Manchmal in den Arm nehmen, ihr öfter etwas Nettes sagen. Bei der Arbeit geholfen hat ihr auch keiner. Das muss einen Menschen ja zur Verzweiflung treiben. Es ist unsere Schuld.“

„Es ist niemanden Schuld“, spricht Elfriede aus dem Hintergrund. „Wer sich umbringt ist krank im Kopf. Kein normaler Mensch sucht den Tod.“

Zora dreht sich nach ihr um. „Fried, ich kenne das Buch in dem du das gelesen hast. So einfach ist es aber nicht. Zukunftsangst hat in jüngster Vergangenheit auch viele Gesunde in den Tod getrieben.“

Elfriede schluckt, bleibt aber still.

„Sie hatte einfach ein unglückliches Naturell“, fast Calendula die Person Amera zusammen. „Da ist vieles zusammengekommen. Es lag nicht nur am Aussehen und an der mangelhaften Sprachkenntnis. Eher an der Unentschlossenheit und den Minderwertigkeitskomplexen. Sie tat ja rein gar nichts um sich ihre Wünsche zu erfüllen. Jetzt liegt sie hier. Die Antriebslosigkeit in Person.“

Manche betten. Betrachten die dunkelhaarige, kurze und breite Leiche, die mit einem dunklen Hemd und einer dunklen Hose bekleidet ist und nach nichts Besonderem aussieht. Starren auf die Abschürfungen am Hals.

Elfriede wird es langweilig und findet ihre Sprache wieder. „Bringt ihr sie zu uns, oder wollt ihr euren eigenen Friedhof?“

Jeder schaut jeden an. Hasan meint dann: „Wir bestatten sie neben unserem Garten. Sie soll uns täglich mahnen, dass wir auf jeden einzelnen achten.“


Da sie gesehen haben, dass man auch heutzutage das Kinder gebären überleben kann, lassen die Frauen bei der Verhütung jede Vorsicht fahren. So ziemlich alle haben sich Zoras Einstellung zu eigenen gemacht, nach der man nicht bis zu seinem Tod vor sich hin leben soll. Kinder sind Zukunft und geben der zur Bedeutungslosigkeit geschrumpften Deutschen Nation neuen Auftrieb.

Stellas Schwangerschaft ist am weitesten fortgeschritten. Nach ihr hatte Heidi es am eiligsten schwanger zu werden. Vermutlich will sie Sergei fester oder auf ewig an sich binden. Theresa die Lehrerin will noch abwarten. Paul schielt ihr zu sehr nach anderen Frauen. Emma ist von Jan schwanger. Auch sie freut sich auf das Kind. Jan macht zur unsicheren Freude wortkarge gute Miene. Mette ängstigt sich vor einer Schwangerschaft. Sie findet sich zu schmal und zu zierlich. Katy will Männer, aber keine Kinder. Marion kann keine mehr bekommen. Freut sich aber schon auf ihre Rolle als Ersatzoma.

Auch Calendula ist guter Hoffnung, Atze allerdings wenig begeistert. Denn Helga und Gisela sind ebenfalls schwanger. Laut ihren Angaben wird Dietmar zweifacher Vater. Wenn alle Frauen gleichzeitig schwanger sind, so Atze, bleibt ihre Arbeit an den Männern hängen. Tom mault, das hätte epidemische Ausmaße. Bald würde sich alles um die Babys drehen. Stella schimpft: „So gehört sich das auch. Das ist von der Natur so vorgegeben.“

Ausgerechnet Ingrid, Hasans Freundin, die so gerne Mutter werden würde, wird es nicht.

Einmal die Woche treffen sich die Mütter im Hospital. Da dürfen die Kleinen robben und krabbeln und die Mamas ihre Beobachtungen und Erkenntnisse austauschen. Nebenbei untersucht Zora die Säuglinge. In lockeren Abständen kommen die Schwangeren vorbei und lassen sich ebenfalls untersuchen. Bald weiß jede, ob sie Sohn oder Tochter erwartet. In Anbetracht der Schwangerschaftswelle planen die Mütter und Mütter in Spe eine Kindergrippe oder einen Kindergarten. Die Kleinen sollen selbstverständlich miteinander spielen, lernen und gemeinsam großwerden.

Weil Hasan geeignete Räumlichkeiten fehlen, wollen sie die ehemalige Dorfschule reaktivieren. Kindergarten und Schule wären dort unter einem Dach. Mit Elan machen sich die Männer an die Renovierung. Über Wochen streichen sie die Decken und Wände schön bunt, bringen sie die Heizungsanlage in Gang, reinigen sie die Toilettenanlage und stellen die Wasserversorgung her. Die Frauen reinigen und polieren die Möbel. Zur Stromversorgung soll aufs Dach eine Photovoltaikanlage. Max, der Leichteste, spaziert übers Dach und sucht nach defekten Ziegeln. Als er sich sportlich an der Dachrinne hinunter lassen will, bricht diese ab und er landet auf dem Rücken. Dabei schlägt sein Kopf auf dem Boden auf. Der Notarzt wird gerufen. Zora untersucht Max. Ihm ist schwindelig, sein Kopf dröhnt, er hat eine Gehirnerschütterung. Sie behält ihn einige Tage zur Beobachtung auf Station.

Neben der Schule befindet sich das Feuerwehrhaus. Auch erwachsene Männer finden Feuerwehrautos faszinierend. Das einzige Exemplar wird auf den Hof geschoben und auf Hochglanz gewienert. Eines Tages soll es erstaunten Kindern als Spielplatz dienen.

Kaum ist Max entlassen, bringen die Religiösen aus Oberweier einen Verletzen. In einem Elektrofahrzeug. Sie scheinen einen Sinneswandel vollzogen zu haben. Der Mann hat sich die rechte Hand gequetscht, sie ist stark geschwollen. Er hat hohes Fieber und leidet erbärmlich. Tagelang befürchtet Zora, dass sie die Hand amputieren muss, weil sie nicht einschätzen kann, wie wirksam ihre Medikamente noch sind. Die zwei Männer die den Verletzten begleiten, wollen unbedingt bei ihm bleiben. Sie werden in einem Nachbarhaus untergebracht. Essen dürfen sie im Hospital. Täglich gehen sie in die Dorfkirche und beten. Sie bitten um Besen, Schrubber, Putzlumpen und Eimer. Um ihre Anwesenheit mit Nutzen zu füllen, reinigen sie das Kircheninnere, das selten betreten wird und seit Jahren verstaubt. Nur mäßig bringen sie den Vorwurf zum Ausdruck, wie man eine Kirche vergammeln lassen kann.

Nach einer Woche gehen Schwellung und Fieber zurück. Die Hand ist gerettet, dem Mann und Zora bleibt die Amputation erspart. Nach zehn Tagen verschwinden die drei und kommen am gleichen Abend wieder zurück. Mit Broten, Käse, Milch und Speck. Bringen viel mehr, als sie sie in den zehn Tagen verzehrt haben. Der Speck ist als Bezahlung hochwillkommen. Den Religiösen ist jedoch nicht zu entlocken woher er stammt. Das Hospital ist eine kollektive Einrichtung, deshalb wird der Speck kollektiv verteilt. Die Gruppe ist zufrieden, dass Zoras Behandlungen Einkünfte bescheren. Nur Katy bekommt ein Extrageschenk. Warum wohl?

Der nächste Patient ist Helga. Mitten in der Nacht müssen Zora und Freddy zu Dietmar hinüber fahren. Es wird sehr dramatisch, der Vorgang ist nicht aufzuhalten. Helga verliert ihr Kind. Ihr Körper hat vermutlich auf Grund einer Blutvergiftung den Embryo abgestoßen. Als Zora Helga von oben bis unten untersucht, findet sie im linken Arm zwei Insektenstiche. Helga weiß nicht was sie gestochen hat. Leider reagierte sie allergisch auf die Stiche und bekam eine Sepsis. Ging aber nicht zu ihrer Ärztin, tat es als unwichtig ab. In der verhängnisvollen Nacht in der die Schmerzen kamen, schluckte Helga alte Tabletten um sich zu betäuben. Wollte erst am nächsten Morgen zu Zora gehen. Vielleicht ging die abtreibende Wirkung auch von den Tabletten aus. Helgas Unglück drückt natürlich auf die Stimmung der Gruppen und ganz besonders auf das Gemüt der anderen Schwangeren. Sie bekommen plötzlich Angst. Zora wiederholt gebetsmühlenartig: „Wenn was ist, kommt sofort. Ihr wollt doch nicht, dass es mir langweilig wird.“

Auch die Männer gehen nun zu ihr und lassen sich untersuchen. Auch Tom. Freddy steht draußen vor der Tür und lauscht, ob er aufdringlich wird.

„Du hast zugenommen“, hört er sie sagen.

„Stella bringt mich nicht so auf trapp wie du“, entgegnet Tom.

„Du joggst und schwimmst zu wenig“, kritisiert sie.

„Mit dir hat das mehr Spaß gemacht.“

„Heul hier nicht herum und mach dich für deine Kinder fit. Ansonsten bist du gesund.“

Wer weniger gesund ist, ist Otmar der Älteste. Er kann zwar ausdauernd wandern und arbeiten, fühlt sich aber trotzdem schlecht. Als Zora ihn nach seiner Ernährung fragt, schlägt sie nach seiner Antwort die Hände über dem Kopf zusammen. Morgens immer Eier, nachmittags vor allem Fleisch mit Nudeln, abends nur Wurst- und Käsebrote. Sie fordert ihn auf, sich abwechslungsreicher zu ernähren. Schon Kartoffeln statt Nudeln, würde sein Wohlbefinden steigern. Er soll zweimal mehr Obst als Fleisch essen.

„Ich will keine Leute, die hier jahrelang krank herumliegen“, ermahnt sie ihn. „Also, mach was für deine Gesundheit.“

Wenn es um die Gesundheit ihrer Leute geht, wird sie autoritär. Bei der Behandlung bevorzugt sie deutliche Sprache, im Alltag, Zurückhaltung.

In lockerer Folge finden Patienten zu Zora. Meistens assistiert Elfriede, die Medizinerin werden will. Freddy ist mehr für die Ausstattung und das Grobe verantwortlich. Oder für Meggy, wenn sich die Damen mit einem Patienten beschäftigen. Inzwischen sind sie ein eingespieltes Team.


Elfriede steht auf dem Turm und spielt Geige. Dabei dreht sie sich in alle Richtungen. Fiedelt mal in Richtung Vogesen, Schwarzwald, der Stadt. Selten öffnet sie die Augen. Einmal nimmt sie unten auf einer Landstraße einen gelben Punkt wahr. Der Punkt bewegt sich. Zweifelsfrei fährt dort ein fremdes Auto herum. Es ist kein Postauto. Dafür ist es zu flach. Elfriede funkt nach unten. Das Auto scheint etwas zu suchen. Fährt in Richtung Münchweier. Kommt kurz darauf zurück. Verschwindet beim großen Rückhaltebecken zwischen den Bäumen, taucht beim Campingplatz wieder auf. Dann fährt das Auto auf direktem Weg ins Dorf.

Elfriede ist Neugierig, wittert aber keine Gefahr. Auch Zora nicht, als das seltsame Auto vor dem Hospital zu stehen kommt. Wer mit einem kanariengelben Sportwagen durch die Landschaft fährt, hat keine böse Absichten. Tom ist schon verständigt. Mit Nico rast er zum Hospital. Und gerät völlig aus dem Häuschen, als er den Sportwagen sieht. Ohne den Fremden Mann zu begrüßen der neben dem flachen Teil steht, bricht es aus ihm heraus: „Das ist ein Tesla. Ein Elektrofahrzeug. Ein Supersportwagen mit großer Reichweite.“

Dann gibt er dem Fahrer die Hand. Der stellt sich als Pietro vor. Zeigt auf den Beifahrersitz. „Das ist Dennis“.

Dort beugt sich Zora schon über einen jungen Mann. Sein Gesicht ist fiebernass. Freddy und Tom ziehen ihn vorsichtig heraus und legen ihn auf die Trage. Dennis stöhnt heftigst auf. Sein linker Fuß und sein Schienbein sind dick verbunden.

„Was ist passiert?“ fragt Zora.

„Mauerbau“, antwortet Pietro. „Steine sind auf sein Bein gefallen.“

Der Verletzte kommt auf den Behandlungstisch, Zora entfernt die Verbände. Der Fuß ist zu einem unförmigen Klumpen geschwollen. Das Schienbein aufgeschlagen. Während das Schienbein gut versorgt wurde, nicht eitert und inzwischen heilt, leuchtet der Fuß in allen pathologischen Farben. Elfriede kommt, stellt sich ungeniert daneben und studiert das Gesicht des jungen Mannes. Durch einen Tränenschleier schaut er irritiert zurück.

„Das ist Elfriede, meine Assistentin“, erklärt Zora. „Wir müssen den Fuß röntgen. So kann man unmöglich feststellen was darin kaputt ist.“

„Röntgen ist verdammt gut“, freut sich Pietro. „Habt ihr sowas hier?“

„Wir fahren rüber ins Krankenhaus.“

Krankenhaus hört sich für Pietro noch beruhigender an. Zora, Freddy und Fried fahren im Notarzt, Tom mit Pietro hinterher. Tom erkundigt sich nach dem Woher. Die beiden leben in der Nähe von Bruchsal. Fünfunddreißig Leute seien sie. Die Zirkusleute hätten von der genialen Ärztin erzählt. Vier Tage lang hätten sie versucht den Fuß zu behandeln und heute Morgen aufgegeben.

Alles geht wie gewohnt. Der Generator funktioniert, das Röntgengerät auch. Zora macht zwei Bilder und überzieht ihre Stirn mit Sorgenfalten. Sie zeigt auf zwei gebrochen Mittelfußknochen, die gut erkennbar getrennt sind und nach unten drücken.

„Das muss ich aufschneiden und operieren“, sagt sie zu Pietro. „Das ist eine diffizile Bastelarbeit. Die Alternative wäre amputieren. Wenn sich der Fuß trotz OP weiter entzündet, muss ich ihn auch abnehmen. Du hättest ihn vor zwei Tagen bringen müssen.“

Der Patient hört mit schreckgeweiteten Augen zu. Tränen rinnen auf der Seite nach unten. Elfriede wischt sie weg. Operieren will Zora im Hospital. Erkundigt sich, ob er Alkoholiker ist, welche Medikamente er bekommen hat, ob Allergien bekannt sind. Der junge Mann kommt wieder in den Notarzt und auf einen anderen Tisch. Heidi ist schon da und hat alles vorbereitet. Zora macht sich überhaupt keine Gedanken mehr, dass sie das Operieren nicht gelernt hat. Was sein muss, muss sein. Weil ihr der Patient zu spät gebracht wurde, ist sie fein raus wenn es schiefgeht. Dennis bekommt eine Vollnarkose und Zora schneidet ihm den Fuß auf. Achtet auf Nerven, Adern und Sehnen. Elfriede steht dicht dabei. Ist fasziniert von der Brutalität mit der Zora am betäubten Patienten herumhantiert. Mit aller Gewalt drückt sie die Bruchstellen zusammen, fummelt mit einer Pinzette Knochensplitter aus dem Fleisch. Elfriede wischt ihr den Schweiß von der Stirn, Heidi schaut erst gar nicht hin. Freddy unterhält sich im Vorraum mit Pietro.

Dennis kommt in ein Krankenzimmer und Elfriede will ihn versorgen. Heidi ist es recht, denn ihr Bauch ist inzwischen überall im Weg. Fried säubert ihm das Gesicht, kämmt sein blondes Haar nach hinten, beruhigt ihn, als er zu sich kommt. Redet mit ihm, wenn er nicht zu müde ist. Allerdings will er nicht, dass sie ihm die Urinflasche und Bettpfanne unterschiebt. Das muss Freddy tun. Als Dennis merkt, dass der Fuß heilt, wird er gesprächiger. Er wird von Freddy gebadet. Nun leuchtet seine blonde Mähne und sein Gesicht strahlt. Täglich werden die Gespräche, die er mit Elfriede führt, länger. Sie bringt ihm zwei Gehhilfen. Nun darf er selber auf die Toilette. Geht auch auf dem Hof umher. Von Pietro sehen sie nicht viel, denn den hat Katy einquartiert.

Dennis ist siebzehn, etwas größer als Fried und kann sehr charmant lächeln. Um bei ihm zu sein, vernachlässigt sie ihre Pflichten, ihren Sport und ihre Geige. Dennis wird von ihr unterhalten, ob er will oder nicht. Ihre Aufdringlichkeit nimmt er geduldig hin. Hört ihr auch zu, wenn sie ihm auf der Geige etwas vorspielt. Manchmal schauen sie im Wohnzimmer einen Film. Einmal bringt sie Dennis dazu, sich von ihr rasieren zu lassen. Nass. Das hätte sie schon öfter gemacht, lügt sie gekonnt. Sie lässt sich von Freddy instruieren. Dann macht sie sich lachend mit einem Waschlappen und Seife an Dennis Flaum zu schaffen. Genüsslich schabt sie die Seife von Wangen und Hals. Schabt verspielt über Oberlippe und Kinn. Als sie fertig ist, drückt sie ihm einen Kuss auf die Lippen. Den Dennis aber nicht erwidert.

Zora hat Geduld. Erkennt, dass Elfriede verliebt ist. Dennis ist der erste annehmbare junge Mann den sie kennenlernt. Jetzt weiß sie jedenfalls, dass es auch anderswo nette Männer gibt. Bald ist der Teenager wieder weg und Elfriede hoffentlich wieder normal.

Nachdem der Gips entfernt ist, haben es Dennis und Pietro eilig, wollen schleunigst zurückzufahren. Ihre Gruppe soll endlich wissen was Sache ist. Pietro hatte sich auf dem Hof nützlich gemacht. Hatte sich mit den Pferden beschäftigt, war mit ihnen ausgeritten, damit sie noch zahmer werden. Und nachts hat er Katys Gastfreundschaft genossen. Die Beiden hinterlassen, wo sie zu finden sind. Man weiß ja nie, wer einmal welche Hilfe braucht. Der Abschied vollzieht sich herzlich aber schnell. Dennis umarmt Elfriede. Den erhofften Kuss bekommt sie nicht. Zora und Freddy halten ihn aber nicht für schüchtern. Das Küssen muss er aus einem anderen Grund verweigern.

Elfride bläst drei Tage lang Trübsal, ist kaum anzusprechen und zu nichts zu gebrauchen. Dann sagt sie beim Frühstück: „Ich fahre jetzt zu Dennis.“


Die Pandemie des Todes 2.Teil Die Kinder

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