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Kokken

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Elfriede will allein nach Bruchsal. Will wissen, wie Dennis und seine Leute leben, was sie treiben. Sofort entsteht eine Diskussion. Zora und Freddy bringen ihre Bedenken vor. Elfriede lässt jeden Einwand ins Leere laufen. Wenn sie aufgehalten wird, werde sie weglaufen. Sie würde sogar mit dem Fahrrad zu Dennis fahren. Was sind schon hundertfünfzig Kilometer. In einem Tag wäre sie dort.

Von Pietro wissen sie, dass die Autobahn auf wechselnden Seiten bis Bruchsal befahrbar ist. Man muss aber permanent auf Tiere achten. Auch in Nordbaden haben die Säugetiere sich vervielfacht. Große Herden aus Pferden, Kühen, Hirschen und Exoten ziehen durchs Land. Dort wo das Gras am besten schmeckt sei alles kahlgefressen, so Pietro. Und die verwilderten Hunde seien eine schlimmere Plage, als Wölfe und Füchse.

Zora und Freddy fühlen, dass Elfriede von der geplanten Reise nicht abzubringen ist. Aber sie wollen ihr eine Enttäuschung ersparen.

„Ich will dich nicht um deine große Liebe bringen“, sagt Zora schließlich. „Aber so wie ich Dennis einschätze, ist er schon vergeben.“

„Das hätte er mir gesagt“, ereifert sie sich. „Und falls es so ist, werde ich es dann sehen. Ich will mich einfach vergewissern, ob er zu haben ist.“

„Dann lass uns zumindest die Reise gemeinsam planen“, sagt Freddy. „Hals über Kopf kann schnell in die Katastrophe führen. Zeig uns jetzt etwas von deiner Vernunft, die du uns immer vorlebst.“

Fried willigt ein.

Sie soll weder mit dem Fahrrad noch mit dem Motorrad fahren. Zora und Freddy wollen, dass sie mit einem Auto fährt. In einem geschlossenen Gehäuse ist es am sichersten. Und bei Regen wesentlich angenehmer. Rasen kann sie wegen des vielen Sturmbruchs sowieso nicht. Er besorgt ihr ein Auto mit Automatikgetriebe. Einen Benziner. Betankt ihn mit einem oktanhohen Treibstoff, stellt mehrere volle Ersatzkanister in den Kofferraum. Falls sie sich grandios verfährt. Zu ihrer Pistole bekommt sie noch ein leichtes Jagdgewehr und reichlich Munition. Gegen Wölfe und wilde Hunde. Auf den Rücksitz kommt eine Campingausrüstung. Man weiß ja nie, ob und wo man hängen bleibt. Auf den Beifahrersitz kommen Wasser, Lebensmittel, Wechselkleidung.

„Ist das peinlich“, steht sie vor ihrem vollgeladenen Auto. „Es sind nur einhundertfünfzig Kilometer. Die kann ich sogar zu Fuß zurückgehen.“

Bei Sonnenaufgang ist sie weg. Ohne sich zu verabschieden und gute Wünsche und schöne Grüße mit auf den Weg zu nehmen.


Zora und Freddy marschieren mit Meggy ihm Kinderwagen zum Hof. Dort essen sie zu Mittag und berichten von Elfriede.

„Ihr lasst das Mädchen alleine in der Weltgeschichte herumfahren?“, wundert sich Tom. „Mit einem Auto? Eine Fünfzehnjährige?“

„Sollten wir warten bis sie abhaut?“ ist Zoras Gegenfrage. „Das Mädchen hält niemand auf. Und einsperren wollten wir sie nicht.“

„Freddy hätte sie fahren können.“

„Nichts zu machen. Sie wollte alleine los“, verteidigt sich der.

„Die hat‘s aber erwischt“, meint Marion. „Bei einem verliebten Teenager setzt schnell der Verstand aus. Wegen einem Kerl lassen sie alles liegen und stehen.“

Stella unterbricht sie. „Das ist doch völlig klar. Bislang ist sie bei unterschiedlichen Leuten herangewachsen. Jetzt sucht sie einen festen Halt. Sucht Liebe, will berührt werden, will zehn Kinder.“

„Was muss sie überhaupt so früh anfangen. Hat sie jetzt schon Torschlusspanik?“ mokiert sich Emma.

„Sie hat Sehnsüchte, die wir nicht geahnt haben. Würd ich sagen“, meint Otmar, der mit Elfriede besonders gut kann. „Ein Teenager mit dieser Energie, muss sich seine Fühler abwetzen, damit er lernt was geht und was nicht geht. Die Jugend will dieselben Erfahrungen machen, wie die vorherige Generation. Sonst glauben sie nicht, was ihnen gepredigt wird.“

„Wenn sie sich nur ihre Fühler abwetzt, habe ich nichts dagegen“, meint Freddy.

Zora stupst ihn. „Fried ist clever und sie ist cool. Sie kommt mit jeder Situation zurecht.“

Tom wird hässlich. „Und wenn es eng wird, erschießt sie jemand. Vielmehr kann ja nicht passieren.“

„Du warst früher auch cool. Das scheint dir verloren gegangen zu sein“, spottet Zora.

Jetzt, wo es persönlich wird, wird ganz schnell das Thema gewechselt.


Nach einer Woche kommt Elfriede zurück. Abends. Selenruhig räumt sie das unversehrte Auto aus. Trägt die Campingausrüstung an ihren Platz. Stellt die leeren Benzinkanister in die Garage. Bringt leere Flaschen und Boxen in die Küche. Sagt nur Hallo. Kippt ihre Schmutzwäsche vor die Waschmaschine. Steckt ihren Kulturbeutel in den Badezimmerschrank. Schleppt eine schwere Umhängetasche in ihr Zimmer. Zuletzt liefert sie bei Freddy das Gewehr und die Munition ab.

„Willst du mit uns essen?“

„Muss ich wohl, um nicht zu verhungern.“ Was so viel heißt wie: Ihr dürft mich fragen. Aber fröhlich klingt sie nicht.

„Freut mich, dich wohlbehalten wiederzuhaben“, sagt Zora ohne Blickkontakt zu suchen.

„Ich bin nicht so wohlbehalten wie ich es mir wünsche“, gibt Elfriede zu. „Ich war nämlich nur zwei Tage dort.“

Um sich Elfriedes seelischen Zustand langsam zu nähern, beginnen Zora und Freddy um die Kernfrage herumzureden.

„Du warst aber eine Woche weg“, fragt Zora erstaunt.

„Und deine Ersatzkanister sind leer“, wundert Freddy sich nicht wenig.

Die Rückkehrerin tut betont locker. „Ich habe mich gründlich umgeschaut. Hauptsächlich in prächtigen Villen. Es gibt überall unberührte Dörfer mit Häusern, in die noch nicht eingebrochen wurde. Wo noch Goldbarren- und Münzen herumliegen. Deutschland ist furchtbar ausgestorben.“

Freddy räuspert sich. „Deine Tasche die ich gesehen habe, war aber nicht besonders schwer.“

„Das waren auch nur die Münzen. Die Barren habe ich vorher schon im Feld vergraben. Freddy. Der Vorteil von Gold ist, dass es mir nicht wegrostet.“

„Und wie weit bist du gekommen?“ will Zora doch wissen.

„Die Stadt heißt Wiesbaden. Dort habe ich auch Leute getroffen. Ihr werdet es nicht glauben. Die kennen den Zirkus Zarazani und sie kennen sogar uns. Dich, Zora. Dich Freddy. Ihr seid bestimmt schon Europaweit bekannt, weil Richard und Simone für eure medizinische Kunst Reklame machen.“

Zora fragt: „Wieviel Leute waren das in Wiesbaden?“

„Nur drei Männer und fünf Frauen. Überall scheinen die Frauen die Mehrheit zu bilden.“

„Frauen sind eben zäher als Männer“, grinst Zora.

Freddy wird unvorsichtig. „Ich schließe daraus, dass in Dennis Gruppe die Frauen auch die Mehrheit bilden.“

„Du bist vielleicht schlau“, spottet Elfriede und kommt umgehend zum Kern. „Dieser Dennis hat schon eine Freundin mit der er ins Bett geht. Eine Alte. Dass der sich nicht schämt. Die ist schon siebenundzwanzig.“ Also jünger als Zora. „Mit der lebt er in einer Wohnung. Die hat mich vielleicht angeschaut, als ich aufgetaucht bin.“ Sie schluckt.

Freddy nutz die Pause für eine Frage. „Haben die anderen dich anständig behandelt? Oder müssen wir hinfahren, um dich zu rächen?“

„Der erste Tag war super. Hab auch ziemlich schnell dorthin gefunden. Auf der Autobahn musste ich mich einmal durch eine Rinderherde durchdrücken, weil beidseitig Leitplanken waren. Dort angekommen, wurde ich von einem zum anderen weitergereicht. Bei jedem musste ich was essen und trinken und erzählen. Es war sehr spaßig. Ich bekam ein richtiges Hochgefühl. Übernachten musste ich in ihrem Hotel. Ich beschwerte mich und sagte, ich will bei Dennis übernachten. Ab dort wurde es kritisch.“ Ihre Erzählung stockt.

Zora fragt: „Haben die Leute etwas Besonderes zu bieten?“

„Das war schlimm. Ihr werdet nicht glauben was der Lebenszweck dieser Gruppe ist. Bei denen dreht sich alles ums Bierbrauen. Das ist so eine Art Hauptnahrungsmittel von ihnen. Überall wo ich eingeladen war, stanken die Leute nach Bier. Auch die Frauen. Auch tagsüber. Ich habe den Verdacht, sie nutzen das Bier, um nie mehr ganz nüchtern zu werden.“

Freddy unterbricht: „Und Dennis?“

„Der hatte am ersten Tag keine Zeit für mich. Am nächsten Morgen bekam ich ein üppiges Frühstück und macht mich auf die Suche nach ihm. Er war in der Brauerei. Hopfen verarbeiten. Ich habe mich zu ihm gestellt und mit ihm herumgeschäkert. So wie wir es hier gemacht haben. Er war überhaupt nicht locker. Irgendwie gehemmt. Bald wusste ich auch wieso. Jemand hat seiner Domina Bescheid gesagt. Die hat sich vor mir aufgebaut und gefragt, was ich von Dennis will. Ich suche einen Freund, hab ich gesagt. Patsch, hatte ich eine Ohrfeige. Zack, lag die Olle auf dem Rücken und hat geschrien.“

Zora reißt ihre Augen auf. „Du hast hoffentlich nicht deine Pistole gezogen?“

„Die hat mich nochmals angegriffen. Da habe ich ihr den Arm auf den Rücken gedreht und sie gefragt, ob sie spinnt. Aus einem Schwall hässlicher Sätze habe ich entnommen, dass es doppelt so viele Frauen gibt als Männer. Dass jede Frau, die ihren Freund nicht teilen muss, zu den Glücklichen gehört. Manche Männer haben mehrere Frauen und das passt den Frauen nicht. Ich würde auch nicht teilen. Nach einer langen Diskussion habe ich begriffen, dass Dennis dieser Tussi hörig ist, wenn nicht sogar von ihr abhängig. Er hat mich aufgefordert zu gehen. Zum Abschied habe ich geschrien: Wenn das nächste Mal jemand zu uns kommt, soll er gefälligst seine Arztrechnung bezahlen. Da wurden sie kleinlaut, diese potomanische Bande.“

„Schade“, sagt Freddy nur.

„Dass es so enden musste“, ergänzt Zora.

„Ich habe um ihn gekämpft und habe halt verloren.“

Elfriede wird still. Sie steht auf und will den Tisch verlasen. Zora erhebt sich und verhindert es. Nimmt Elfriede in den Arm. Die beginnt zu heulen. Nie zuvor hat jemand Elfriede heulen sehen. Sie tut es heftig und ausdauernd. Ihr Schluchzen schüttelt sie an Zoras Schulter, die nässer und nässer wird.

Auch Freddy steht auf. Als sie sich beruhigt hat, fasst er mit zwei Händen ihren Kopf und drückt einen Kuss auf die Stirn. „Elfriede. Weiterkämpfen.“ Sie nickt.

Abends im Bett flüstert Freddy: „Ich glaube, sie hat so lange nach anderen Menschen und einem anderen Kerl gesucht, bis das Benzin alle war. Es ist schon deprimierend wie wenige es gibt.“

„Irgendwann wird sie im großen Stil durch die Welt ziehen und nach dem Mann ihrer Träume suchen“, ist Zora überzeugt.


Elfriede verliert an Fröhlichkeit. Liebeskummer in diesem Alter ist Drama, Katastrophe und Weltuntergang zugleich. Sie wird ungesellig und bleibt für sich. Geht nicht mehr zur Kantine hinüber, um keine dummen Fragen beantworten zu müssen. Die Geige verstaubt unberührt in ihrem Zimmer. Sie schwänzt auch den Unterricht, zu dem man sie nicht zwingen kann. Der Unterricht verlaufe ihr zu schleppend, behauptet sie. Selbständig lernt sie jetzt aus Büchern und schafft alle drei Monate ein Schuljahr. Wenn sie etwas nicht versteht, geht sie abends zu Theresa und bittet um Erklärung. Nebenher lernt sie bei Zora und in medizinischen Büchern. Aber oft sieht Zora ihr Sorgenkind joggen. Sie will den Kopf freibekommen, denkt sie sich. Manchmal sieht sie Elfriede mit dem Rad wegfahren oder zurückkommen. Wenn sie weiterhin nach Gold sucht, hat sie ihre Erwartungen noch nicht eingeschränkt.

Auf die Medizinerin der Gruppe und ihren Rettungssanitäter warten heikle Aufgaben. Viele Kinder müssen gesund auf die Welt gebracht werden. Stella wird Mutter eines Sohnes. Heidi auch. Beide Geburten verlaufen ohne Komplikationen. Die werdenden Mütter atmen auf. Oft bekommt das medizinische Personal wochenlang nichts zu tun und manchmal geht es Schlag auf Schlag, wird es durch Notfälle aus dem Alltag gerissen. Als Emmas Wehen beginnen und Zora gerade ihren Arztkoffer packt, funkt ein aufgeregter Roman an.

„Der unsägliche Dietmar hat sich mit der Motorsäge verletzt. Er blutet wie ein Schwein. Droht zu verbluten.“

„Den Mann nicht bewegen, Blutung abpressen“, ruft sie ins Gerät. „Sein Puls darf sich nicht erhöhen. Schocklage.“

Dank ihres Erste-Hilfe-Unterrichts weiß jeder was das ist. Freddy ist nicht da. Er schaut sich gerade im Schwarzwald um. Zora muss die Blutung selber stillen. Fried findet sie in ihrem Zimmer und nimmt sie als Fahrerin und Assistentin mit. Nimmt Meggy auf den Schoß. Unterwegs schickt sie Heidi zu Emma. Zora spürt Stress, weil sie noch nicht einschätzen kann, wo ihre Hilfe dringender benötigt wird.

Dietmar liegt hinter dem Haus auf der Erde. Er ist voller Blut. Gesicht und Oberkörper sind gleichermaßen rot. Aber nirgends pulsiert es heraus. Zora wird sofort ruhiger. Sie drückt jemanden Meggy in die Arme. Das Hemd wird vom Oberkörper geschnitten, das Unterhemd auch. Nun sieht sie, die Schulter ist verletzt. Keine Schlagader getroffen. Keine Lebensgefahr. Doch sieht die Wunde extrem hässlich aus. Die ölige Kette der Säge hat das Fleisch zerfetzt. Dietmar ist ansprechbar.

„Aus einem nicht nachvollziehbaren Grund“, murmelt er, „ist das Schwert zurückgeschlagen und auf meine Schulter geknallt. Dabei wurde auch das Kinn getroffen.“

„Da nutzt auch eine Schnittschutzhose nichts“, meint Elfriede, die sich die matschigen Wunden genau betrachtet.

„Du weißt, dass ich keine Schönheitschirurgien bin?“ fragt Zora, während sie die Wunden freitupft. Dietmar enthält sich des Kommentars. Beim Sprechen tut ihm der Kiefer weh.

„Das Fleisch ist so zerfetz, das kann ich nicht einmal nähen. Da kann ich nur das lose Zeug wegschneiden. Und das Kinn wird nicht mehr gleichmäßig rund sein.“

Der Verletzte ist schockiert. Schließt seine Augen.

„Die große Kunst ist nun, diese hässliche Wunde sauber zu bekommen. Wir nehmen dich mit. Auf dem Tisch mit Beleuchtung sehe ich die Holzsplitter besser.“

Zora gibt ihm eine Spritze gegen die Schmerzen und lässt ihn einladen.

Sie funkt Heidi und Emma an. Das Kind drängt heraus, ist die Antwort. Roman fährt mit. Elfriede lässt Zora bei Emma heraus und fährt weiter zum Hospital. Dietmar muss aussteigen und sich drinnen auf den Behandlungstisch legen.

„Im Prinzip ist das wie eine etwas tiefere Exkoriation. Wir können nicht warten, bis Zora zurückkommt“, sagt sie sachlich und selbstsicher. „So eine Geburt kann Tage dauern. Und wo Freddy ist, weiß keiner.“

Ohne Ärztin, Rettungssanitäter und Krankenschwester, beginnt sie mit der Behandlung. Mit einer Pinzette sucht sie nach Dreck. Mit einem Skalpell schneidet sie lose Haut- und Fleischfetzen weg. Der Patient verzieht einige Male sein Gesicht.

„Kindermachen ist anscheinend einfacher als Sägen“, spricht sie durch den Mundschutz. „Vor allem schmerzfreier.“

Dietmar weiß genauso wenig wie Roman was er davon halten soll. Elfriede legt Pinzette und Schere weg. Mit einem sterilen Tuch tupft sie die Wunden aus. Sucht und holt im Medikamentenschrank eine große Tube. Aus der drückt sie jede Menge rote Pampe heraus, verteilt sie auf den Wunden und grunzt zufrieden.

„Das Zeug desinfiziert und beschleunigt die Wundheilung. Leider färbt es auch. Deshalb lege ich eine Plastikhaut darüber. Dann erst kommt der Verband drüber. Die Wunden müssen matschig gehalten werden. So bildet sich kein Narbengewebe. Roman, du kannst solange seinen Schlafanzug und seine Toilettenartikel holen. Vielleicht noch was zum Lesen.“

„Muss er hierbleiben?“

„Der Patient sollte zehn Tage lang ruhen.“

Dietmar schaut wie ein Fragezeichen. Weiß es aber auch nicht besser. Roman schüttelt den Kopf und trollt sich.

Spät abends kommt Zora zurück. Fried und Freddy sitzen am Küchentisch und essen Spaghetti mit Tomatensoße und Dosenwurst.

„Und?“ fragt Freddy.

„Ein Mädchen. Gesund und quicklebendig. Was ist mit dem Sägekünstler?“

Elfriede erstattet Bericht.

Zora nimmt ihn zur Kenntnis. „Dich kann man einfach gebrauchen“, lobt sie. „Den lassen wir übermorgen nach Hause. Er kann auch bei Hasan rumliegen.“

Bald darauf schenkt Calendula einem Sohn das Leben. Als letzte gebärt Gisela eine Tochter. Da sind Zora und Bärbel schon wieder schwanger. Neun Kleinkinder wachsen nun heran. Weitere sollen folgen. Der Kindergarten und die Schule warten schön herausgeputzt auf ihre Verwendung. Die Gemeinschaft merkt ziemlich schnell, dass Säuglinge und Kleinkinder sehr viel ihrer Zeit beanspruchen. Zeit, die vorher großzügig zur Verfügung stand und mit Ausflügen, Spielen, Feiern und Filmen gefüllt wurde. Jetzt können die Frauen nicht mehr in den Garten rennen, wie es ihnen gerade einfällt. Die Obsternte muss umfangreich geplant werden. Jederzeit kann ein Kind nach der Brust, dem Fläschchen oder einer frischen Windel schreien. Wenn ein Kind kränkelt, fällt auch die Mutter aus, weil sie voller Sorge bei ihrem Winzling bleibt und ihn beobachtet. Auch das Kantinenessen leidet unter den Kindern. In den ungünstigsten Momenten müssen die Köchinnen ihre Kinder füttern oder wickeln. So manches brennt an, danach stinkt das ganze Haus. Das Allerschlimmste ist, wenn das Haus nach Verbranntem stinkt und das Essen trotzdem nicht rechtzeitig fertig ist. Das Leben ist mit Kindern lange nicht mehr so übersichtlich wie zuvor. Und es ist nerviger. Die Freude über den gesunden Nachwuchs wird fast täglich getrübt. Vor allem befinden sich in der Gruppe viele, die zu wenig Schlaf finden und schnell gereizt sind. Auch kinderlose. Besonders viel Rabatz machen Leas und Stellas Kinder. Am liebsten in der Nacht. Mette und Max, die in der Dachwohnung leben, schlägt das nächtliche Galama auf den Magen. Sie beantragen Urlaub und erholen sich eine Woche lang in einer Villa.


Zora und Freddy sitzen in Unterhemden und Shorts auf der Wohnzimmercouch. Die kleine Meggy, die nun laufen kann, schlummert süß in ihrem Bettchen. So haben sie die Eltern am liebsten. Still ist gleich süß. Sie überlegen, ob sie sich einen Film anschauen sollen. Doch dazu kommt es nicht.

„Was macht den unser Sohn?“ sagt Freddy, und streichelt ihr über den kaum sichtbaren Bauch. Dann gleiten seine Fingerspitzen ganz sanft ihren Arm entlang.

Zora bekommt ein warmes Lächeln. „Der freut sich über die Zärtlichkeiten.“

Die Finger gleiten über einen Schenkel bis zu den Zehenspitzen und kommen über das andere Bein wieder auf den Bauch zurück. Von dort gehen beide Hände höher. Sie nimmt sein Gesicht in beide Hände und küsst ihn. Intensiv. Freddy küsst mit. Die Küsse werden feuchter. Vier Hände suchen nun nach glatter, nackter Haut.

„Ich geh dann wohl lieber hinaus“, kommt es von hinten.

Zora zuckt heftig wie vom Blitz getroffen zusammen. Freddys Hände zucken zurück und verfangen sich vor Schreck in ihrem Hemd. Elfriede schlurft an ihnen vorbei in die Küche. Die Beiden hatten sie nicht bemerkt. Sie muss auf dem Boden gesessen und gelesen haben. So war sie, ihre Fried. Konnte spektakulär auftreten und sich auch unsichtbar machen. Vom Schreck gezeichnet, schauen sich die Beiden doch noch einen Film an. Elfriede hat Schonzeit. Mit ihr haben sie etwas Besonderes vor.


Endlich wird die Kindergrippe eröffnet. Die Frauen bekommen bessere Arbeitsbedingungen. Vor allem die, die an ihre Kinder gebunden sind. Die Mütter geben morgens ihre Kleinen in Mettes Obhut und holen sie nach dem Mittagessen wieder ab. So wird der Garten nicht mehr vernachlässigt und die Erwachsenen können entspannt Mittagessen. Auch der Unterricht für die Teenager wird in die Zwergschule verlegt. Lehrkräfte und Kinder werden aus rationellen Gründen gebündelt. Nun müssen Hasans Leute morgendlich über den Hügel fahren und Theresa kann mit dem Fahrrad zur Schule. Das wurde deshalb so entschieden, weil die Räume nebeneinander liegen und bei Bedarf, Theresa schnell zu Mette hinüberlaufen und aushelfen kann. Denn für die Kleinkinder, die bald noch mehr werden, ist eine Aufpasserin zu wenig. Sie könnte krankheitshalber ausfallen oder mal schnell wegmüssen. Im Prinzip kann eine einzelne Kindergärtnerin die Kleinen nie aus den Augen lassen. Sie kann nicht einmal aufs Klo. Und da kommt Elfriede ins Spiel. Für sie gibt es im Hospital nichts zu tun, was ihre permanente Anwesenheit erfordert. Sie gilt als unterbeschäftigt. Gerade ein so lebendiges Mädchen braucht eine Tätigkeit, die es von dummen Gedanken abhält. Deshalb wurde über ihren Kopf hinweg entschieden, dass sie in der Kindergrippe arbeiten muss. Zora soll ihr das schmackhaft machen.

Zora weiß wie Elfriede tickt. Irgendwelche Erklärungen, würde sie zerlegen. Deshalb spekuliert sie erst gar nicht auf Einsicht, sondern sagt klipp und klar: „Fried, du wirst morgens in der Kindergrippe gebraucht. Mette schafft das nicht alleine. Wenn wir dich brauchen, funken wir dich an.“

„Habe ich am Wochenende frei?“

„Selbstverständlich. Außer in der Erntezeit.“

Damit war die Sache für Elfriede schon gegessen. Als nach dem Frühstück die Kleinkinder an der Grippe ankommen, warten dort schon die zwei Kindergärtnerinnen Mette und Elfriede. Die Ältere klein und kurzhaarig, die Jüngere, einen Kopf größer mit blonder Lockenmähne.

Kinder binden sehr viel Arbeitskraft. In früheren Zeiten, als es normal war, dass zur Ernährung der Familie beide Eltern arbeiteten, wuchsen sie so nebenbei heran. Die Schulkinder mussten nachmittags den Eltern helfen oder sogar in einer Fabrik ein paar Pfennige verdienen. Zeit, die den Kindern gewidmet wurde, brachte erst der Wohlstand. Noch lebt der klägliche Rest der Menschheit im Wohlstand. Ein oder zwei Generationen später kann das schon anders aussehen. Die Waren aus den Supermärkten werden nicht ewig vorhalten. Gute Denker rechnen mit zunehmender Mangelwirtschaft. Die vorhandenen Ressourcen werden sich erschöpfen, werden verfaulen und verrotten.

Elfriede ist lange nicht mehr so gesprächig wie vor ihrem Ausflug. Ungefragt redet sie überhaupt nicht mehr. Ihr Mitteilungsdrang ist wie ersoffen. Außerdem ist sie ungewohnt zurückhaltend. Mit ihren Worten, ihren Gesten und ihrem Humor. Gegen vorher wirkt sie teilnahmslos, obwohl ihre Augen aufmerksam umherwandern und alles im Blick behalten. Zora, Mette und Theresa haben ihre Zweifel, ob das mit den Kindern gutgeht. Andererseits will jede, dass Fried beschäftigt ist und wieder zu sich findet.

Elfriede hat ihren eigenen Umgang mit den Kleinen. Die meisten lernen gerade sprechen. Sie redet mit ihnen in einem korrekten Deutsch. Verniedlichungen für Kleinkinder, wie Mette es macht, lehnt sie ab. Die Stühlchen, Tellerchen und Fläschchen, seien für die Kleinen viel größer als für Erwachsene und deshalb nicht kleinzureden, behauptet sie. Mette kapiert zwar was sie meint, kommt von ihrem Betreuungsschema aber nicht ab. Elfriede redet mit den Kindern sachlich. Erklärt ihnen alles wie einem Erwachsenen. Allerdings ohne die von ihr so geliebten Fremdwörter. Geht mit ihnen gelangweilt auf die Toilette, wechselt ihre Windeln, wäscht ihre Hände. Im Gegensatz zu Mette, nötigt sie die Kleinkinder nicht zum Essen und Trinken. Das wären doch Lebewesen, die merken doch wann sie Hunger und Durst haben. Sie spielt mit den Kleinen in einer Ruhe, die annehmen lässt, dass sie dazu keine Lust hat. Mette drängt die Kinder in Kreise und Reihen, damit sie dies und das machen. Elfriede legt sich auf eine Matte, simuliert einen anstrengenden Ringkampf und alle lassen Mette stehen und toben mit Eifer, Lachen und Anstrengung auf Elfriede herum. Sie mögen den Körperkontakt mit der langen Sommersprossigen. Und die Ringkämpfe fordern sie mehr als Mettes Spiele. Ein Tag ohne Ringkampf mit Fried, ist für die Kinder kein Tag.

Die Ruhe die die Lange ausstrahlt, ihre defensive, antiautoritäre Haltung, macht das Krippendasein für die Kinder behaglich. Elfriedes gespieltes Herumlungern gibt den Kleinen das Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben. Das gefällt ihnen besser, als Mettes Geschäftigkeit. Gibt es ein Problem, gehen sie zu Elfriede. Gibt es Streit, ist sie gefragt. Gibt es Tränen, muss sie trösten. Mette fühlt sich zurückgesetzt. Die Mühe die sie sich macht, wird durch die Kindern nicht honoriert. Sie beschwert sich und behauptet hintenherum, Elfriede würde ihre Erziehungsmethoden zersetzen und untergraben. Aber nie traut sie sich die Jüngere zurechtzuweisen. Elfriede ist ihr unheimlich. Sie fürchtet ihre Karatekünste und hält sie für einen unterschwellig dahin brodelnden Vulkan, der jeden Moment ausbrechen kann. Mette vermutet, dass Elfriede ihre Energie gewaltsam unter Verschluss hält. Wie sonst kann es möglich sein, dass das frühere nervige Plappermaul, auf einmal diese Ruhe ausstrahlt.

Grippe und Schule funktionieren seit Monaten pannenfrei. Während eines Sonntagessens, an dem auch Elfriede teilnimmt, beschwert sich Mette endlich über die laxen Erziehungsmethoden ihrer Kollegin.

„Bei Elfriede lernen die Kinder rein gar nichts“, behauptet sie. „Sobald sie auftaucht, herrscht die reine Anarchie.“

„Wieso müssen Zwei- und Dreijährige schon etwas lernen?“, fragt Stella irritiert.

„Sie sollen Regeln und Ordnung lernen, damit sie sich in der Welt zurechtfinden.“

„Kinder müssen sich entwickeln können und sollen nicht von vornherein in eine Schablone gepresst werden“, entgegnet Elfriede ruhig, ohne aufzuschauen.

Mette bleibt zuerst die Spucke weg. Dann bläst sie sich im Schutz von Max und Tom zu ihrer vollen Kleine auf. „Die Kinder wachsen in einer Gemeinschaft heran. Sie müssen lernen, mit einander umzugehen und auszukommen. Deshalb die Spiele. Sie sollen auch auf die Schule vorbereitet werden, damit es ihnen leichter fällt. Deshalb die Blätter und die Stifte. Sonst würden sie nur den ganzen Tag mit dir herumraufen.“

Elfriede legt ihr Besteck beiseite und lehnt sich zurück. Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen, aus denen es feucht funkelt. Ob aus Bosheit oder Schalk ist nicht zu kennen. Mette verstummt. Sie befürchtet nun den schon lange erwarteten Vulkanausbruch. Doch Elfriede redet ganz normal, nur etwas deutlicher als gewohnt.

„Deine Erziehung gestaltet sich so, dass nur das gemacht wird, was dir Spaß macht, aber nicht das, was den Kindern Spaß macht. Und das soll man vermeiden. Mann soll den Kindern nicht schon in der Grippe den Erwachsenenwillen aufzwingen. Zu diesem Thema kann ich dir ein sehr gutes Buch empfehlen.“

Mette läuft an. Wird rot, dann dunkelrot. Sie bringt keinen Ton mehr heraus. Nach und nach geht jedem auf, dass zum Thema Kindererziehung die scheinbar nachlässige Elfriede schlaue Bücher gelesen hat, die engagierte Mette jedoch nicht.

Elfriede nimmt ihr Besteck wieder auf und meint noch: „Da steht auch, dass Kinder sich gleichermaßen geistig wie auch körperlich entwickeln sollen. Das Eine ohne das Andere sei Humbug. Deshalb ist es ideal, dass wir zwei uns so gut ergänzen.“

In ihrer Wohnung schwört Mette, beim Wohl der Kinder, sich nie wieder mit Elfriede anzulegen. Ein Schwur, den die Meisten schon getätigt haben. Eigentlich ist an ihr nichts auszusetzen. Der jugendliche Intelligenzbolzen will niemandem etwas Böses, ist den Anderen nur zeitweise etwas suspekt.

Als Zora ihren Sohn zur Welt bringt, können die ersten neun Kinder alle sprechen und gut wandern. Sehr oft marschieren sie den Heuberg hinauf oder in die Stadt hinein, um die Ziegen zu suchen. Keines der Kinder denkt sich etwas dabei, weil Elfriede ein Gewehr auf dem Rücken trägt. Das gehört einfach dazu, wie die Wölfe und der Bär, der letzten Winter aufgetaucht ist. Naturerfahrung ist wichtig. Früh lernen die Kinderschüler welche Pflanzen giftig, welche essbar sind. Jedes kennt Löwenzahn-, Feld- oder Brenneselsalat. Saugt gerne aus Rachenblüten den Nektar heraus, isst die Kerne aus den Sonnenblumen, futtert die essbaren wilden Beeren. Auch die ständig sichtbaren Grasfresser, die in unterschiedlich großen Gruppen in der Landschaft stehen, sind für sie ein gewohnter Anblick. Die Lamas sind für sie genauso normal, wie die vielen Nandus. Die neue Generation wächst mit einem völlig anderen Weltbild heran, als ihre Eltern. Die Natur ist übermächtig, unbedroht und kann von jedem bedenkenlos genutzt werden.


Elfriede sitzt im Labor und schaut konzentriert in das Mikroskop. Ihre Tätigkeit als Kindertante sieht sie lediglich als Nebenbeschäftigung. Konstant lernt sie dazu. Nichts Medizinisches soll ihr unbekannt bleiben. Sie und Zora werden sich immer ähnlicher. Beide stehen oft nebeneinander am Behandlungstisch und ergänzen sich. Gleich groß, gleich dünn, die eine Dunkel, die andere Hell. Vier lange Arme wissen was sie tun müssen.

Am Abend zuvor wurde Zoras dreißigster Geburtstag gefeiert. In der Hüte bei den Fischteichen. Es war eher ein Kinderfest. Wohin auch mit den Kleinen. Das Geburtstagskind organisierte viele Spiele. Bei manchen kämpften die Kinder mit ihren Eltern gegen andere Familien. Die Auswahl an selbstgepressten Säften war genauso groß, wie die Auswahl auf dem Grill. Mit dem Alkohol hielten sich alle zurück. Gelage finden in der Kantine statt. In Toms Keller lagert alles, was das alkoholische Herz begehrt. Selbstgekelterter Wein und selbstgebrannte Schnäpse, neben der Beute aus den Geschäften. Außer Bier.

Zora und Freddy schlafen noch. Meggy schläft neben ihrem Brüderchen im Kinderzimmer. Sie fühlt sich für Urs verantwortlich. Gängelt ihn als verantwortungsvolle ältere Schwester. Urs deshalb, weil kurz vor seiner Geburt bei Toms Haus der Bär aufkreuzte. Mit viel Knallerei wurde er vergrämt. Nicht einmal Marion wollte das herrliche Tier umbringen.

Elfriede sitzt im Labor vor dem Fenster, mit Sicht auf den Hof. Neben ihr liegt ein dickes Buch. Unter dem Mikroskop befindet sich ein Tropfen ihres Blutes. Abwechselnd schaut sie in das Buch und in das Gerät. Vergleicht. Die Tür geht auf. Herein kommt ein fremder, bärtiger junger Mann. Sie war so in ihre Forschung vertieft, dass sie dessen Ankunft übersehen hat.

„Hallo“, sagt der junge Mann und grinst, als ob er sie kennen würde.

Elfriede macht keine Miene des Erkennens. Betrachtet ihn mit unverändertem Gesichtsausdruck, als ob sie weiter forschen würde. Dann folgt ein unemotionales: „Hallo. Dich kenne ich doch.“

„Ich möchte mich rasieren lassen“, sagt er spitzbübisch.

„Dafür ist Otmar zuständig. Ich kann das nämlich nicht.“

Das Grinsen verschwindet. Er hat mit einem anderen Empfang gerechnet.

„Was machst du denn da so Wichtiges?“

„Ich vergleiche Kokken“.

„Was für Dinger?“

„Streptokokken, Pneumokokken, Staphylokokken, Diplokokken, Tetrakokken, Gonokokken. Die leben auf und in deinem Körper und können dich furchtbar krank machen. Und ich muss sie erkennen und auseinanderhalten können.“

„Sehr interessant“, meint der junge Mann verschnupft. „Kann ich hier irgendwo unterkommen?“

„Ich habe leider keine Zeit. Und wenn du ein Zimmer suchst, wende dich an Tom. Bier gibt’s dort aber keins.“

Sie heftet ihr Auge wieder an das Mikroskop, schaut auf die Kokken in ihrem dicken Buch.

Der junge Mann dem diese Ignoranz wiederfährt, ist ihre einstige Liebe. Wie ein getretener Hund schaut Dennis ihr noch eine Weile ungläubig zu. Verlässt niedergeschlagen das Labor des Hospitals.


Die Pandemie des Todes 2.Teil Die Kinder

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