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Hauptsache weg von der Welt

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Ewig Lust auf Mädchen, ewig Lust auf Krieg von H. J. Gorny



Vinhold Radagar hatte genug von der Welt. Genug von seiner Frau, seiner Tochter, seinem Eigenheim. Er hatte auch genug von seinem Beruf und von seiner Berühmtheit. Er war seiner Daseinsform überdrüssig, suchte einen Neuanfang und hatte das Bestreben, sein bisheriges Leben möglichst weit hinter sich zu lassen. In seinem fünfzigsten Lebensjahr verbrauchte er viel Geld und Energie, um zu seiner Vergangenheit eine möglichst große räumliche und mentale Distanz einzurichten.

Seit er seine Frau verlassen hatte redete seine Tochter nicht mehr mit ihm. Nie hätte er gedacht, dass Birte, sein eigener Nachwuchs, so unkritisch und unobjektiv sein könnte und sich blindlings die Sichtweise ihrer Mutter aneignen würde.

Zugegeben, hin und wieder hatte er mit anderen Frauen das Kopfkissen geteilt, was seine Frau aber nicht wissen, nur vermuten konnte. In den letzten vier, fünf Jahren hatte sie auch nie mit Verdächtigungen gegeizt, aber meistens während seiner inaktiven Phasen, was er als ungerecht empfand. Ausgerechnet zu den Zeitpunkten in denen er sie gerne beglückt hätte, musste sie ihm ihre Szenen machen.

Vinhold fragte sich ernsthaft, ob sie das alles künstlich herbeiführte, weil sie keine Lust mehr verspürte, einen angegrauten, leicht schwabbeligen Mann anzufassen? Die ersten zehn Ehejahre war seine süße Ludmilla angenehm pflegeleicht gewesen, hatte sich engagiert um Haushalt, Kind und später um das Eigenheim gekümmert, das ihm jetzt, nach jahrelangem Kleinkrieg, grünlich verleidet war. Genau wie sein Vater, hatte er sich eine Frau zugelegt der man ansah, dass sie keinen Ärger macht. Jedoch mit Vinholds zunehmender Berühmtheit war Ludmilla immer anspruchsvoller, kritischer, eifersüchtiger und biestiger geworden.

Vor seinem fünfzigsten Geburtstag hatte ihre Unzufriedenheit eine so entnervende Dimension erreicht, dass er die Feier ausfallen ließ. Das nahm sie dann zum Anlass, sich in langen Telefongesprächen bei Tochter Birte auszuheulen, die ihm anschließend, ohne ihm die Chance zu geben seine Sichtweise zu erklären, den Rost heruntermachte. Und Ludmilla beschwerte sich bei Vinholds Schwester Villmut, die in Dallas verheiratet war. (Seine Frau hatte er durch seine Schwester kennengelernt, die ihre beste Freundin war.) Das gemeinsame Leben war sehr unerquicklich geworden und nicht mehr zu ertragen. Als er sich schließlich, um unter alles einen finalen Strich ziehen zu können, von seiner Frau trennte, kündigte ihm auch seine Schwester, vermutlich von Ludmilla vergiftet, die Verwandtschaft. Wenn er es positiv betrachtete, hatte er sich mit einer Trennung drei unangenehme Frauen vom Hals geschafft.

Auch seines Namens, der ihm Zeit seines Lebens nur Spitznamen einbrachte, war er überdrüssig. Vor allem während der Schulzeit waren sein Vor- aber auch sein Nachname, ein unerschöpflicher Quell für Wortspielereien gewesen. Schon ziemlich früh wurde er Vino gerufen, mit „holder Wein“ oder hallo Vin, was später Halloween wurde, begrüßt, oder es wurde während des Unterrichts ein „drinke ma en Schluck“ von sich gegeben. Wenn Vinhold über den Schulhof oder durch die Gänge gegangen war, hatte ihn oft ein Ratatata begleitet, eine Anspielung auf seinen Nachnamen. Einer seiner Klassenkameraden, der sich in Herr der Ringe auskannte, wollte wissen, ob er mit Radagar dem Braunen verwandt sei. Wobei der alte Zauberer Radagast hieß. Aber einigen Kameraden passte Vinholds braune Haartracht gut zu diesem Namen und so blieb er eine Zeitlang Radagar der Braune. Oft wurde er auch gefragt, welchen Migrationshintergrund er hätte. Aber sein Vater wusste nur von einer Polin, welche die rein deutsche Ahnenreihe aufmischte. Vinhold lechzte nicht nur nach einem neuen Leben, sondern auch nach einem neuen Namen und einer neuen Heimat.


Das Vermögen das er auf die Seite gebracht hatte, von dem weder Frau noch Tochter noch Finanzamt etwas wussten, wollte er gerade dazu verwenden, sich zum einundfünfzigsten Geburtstag auf Sardinien eine neue Heimat zu schenken, als überraschend sein Vater verstarb. Soweit man bei einem 95jährigen von überraschend sprechen konnte. Vinhold hatte seinen Vater Amon nur als beweglichen, vitalen und stets gesunden Menschen gekannt. Es hätte ihn überhaupt nicht überrascht, wenn er einhundertzehn Jahre und älter geworden wäre.

Amon Radagar hatte zwar alle paar Jahre über das Altern geschimpft, zum Beispiel, dass er zweierlei Brillen benötigte, oder, dass trotz intensiver Pflege die Zähne bröselten, die Gelenke nicht mehr richtig funktionierten und dass er sich ruckzuck einen Muskelriss oder eine Zerrungen zuzog, wenn er sich nicht richtig warmmachte. Irgendwann war der Verlust des Haupthaares ein Thema gewesen, ein andermal die Diskrepanz zwischen Spiegelbild und Innenleben, weil sich der Mensch immer jünger fühlt als er aussieht. Als er schon weit über siebzig war beschwerte er sich, dass der Schwanz nicht mehr so wollte und die jungen Frauen deutlich außer Reichweite gerieten. Frauen hatte sein Vater immer gehabt, bestimmt auch zu der Zeit, so war Vinhold überzeugt, als seine Mutter noch lebte. Seine gewinnende Art und positive Ausstrahlung, mit der er bei der Weiblichkeit begehrende Blicke erntete, konnte er sich, obwohl er es nicht glaubte, bis ins hohe Alter bewahren.

Aber aller Meckerei zum Trotz war Amon bis zuletzt Herr seiner Sinne, mit dem Fahrrad unterwegs und allein in seinem Haus gewesen. Mit seinem Tod war das Haus Radagar plötzlich frei.


Vinholds Elternhaus stand in einer total irren Gegend, wie es sie in Deutschland vermutlich keine Zweite gab. Wer dort wohnte, war weiter weg von der Welt, als in einem Dorf auf Sardinien. Die Straße in der das Haus stand, die Süd-Straße, lag wie eine Notlösung oder wie ein Witz der Stadtplanung, an der Peripherie. Denn um das größte Industriegebiet der Stadt herum, das an Sumpfland grenzte, war einstmals eine schmale Umgehungsstraße gebaut worden. Auf der Sonnenseite der Straße hatten sich im Laufe der Jahrzehnte Kleinbetriebe angesiedelt, die sich keine bessere Lage leisten konnten. Am Anfang der Süd-Straße befand sich eine Gärtnerei mit halbverfallenen Gewächshäusern, der schloss sich ein kleiner Fuhrunternehmer an, es folgten ein Sanitärbetrieb, ein Gipser, Dachdecker, Gebäudereiniger, eine Schreinerei und viele mehr, die Vinhold gar nicht alle kannte. Diese ganzen Betriebe, oft noch mit Wohnhaus, standen in einer Linie und, wenn auch zum Licht, mit dem Rücken zu riesigen Fabrikwänden.

Beginn und Ende der Süd-Straße konnten nur von Eingeweihten gefunden werden. Ihr Westende, wo sie wie ein Feldweg aussah, begann auf dem Parkplatz der Gärtnerei und führte zunächst durch einige Haselnussbüsche, die selten zurückgeschnitten wurden. Danach offenbarte sich die lange Reihe der Kleinbetriebe. Nach zwei Kilometern endete die Straße vor einem Fluss, um weiter zu kommen, musste man nach links und das Betriebsgelände einer Chemischen Fabrik überqueren. Der Fluss umrundete das Industriegebiet in weitem Bogen, die breiteste Stelle zwischen Fluss und Straße maß einhundertfünfzig Meter. Dieses Unland war einst eine morastige Wildnis, welche irgendwann von der Stadt trockengelegt wurde. Auf diesem Gelände wurden dann, um den Wünschen der Bevölkerung entgegen zu kommen, Schrebergärten angelegt. Den Kleinbetrieben lagen also Schrebergärten gegenüber, und wenn es den Handwerkern im Sommer zu heiß wurde, gingen sie in der Mittagspause im Fluss baden und auf dem Rückweg klauten sie in den Gärten Gemüse.

Das alles hatte sich aber schon vor langer Zeit zugetragen. Das Gros der Handwerksbetriebe stand nun leer und verfiel, weil es an Nachfolgern fehlte und sich keine Käufer fanden. In den Vorgärten, Einfahrten und Höfen übernahmen Kräuter, Ranken, Büsche und Bäume den ungenutzten Raum, die Grundstücke wurden den gegenüberliegenden Schrebergärten immer ähnlicher. Auch diese fanden kaum noch Nutzer, die Hütten vergammelten und die Beete wuchsen mit allem Möglichen zu, nur nicht mit Gemüse. Selbst die riesigen Fabriken, einige aus Backstein und bis zu hundert Jahre alt, andere aus modernen Blechfassaden, standen fast alle leer. Die Wirtschaft und das Leben hatten sich aus dem Südende weitgehend zurückgezogen und in neuen Industrie-und Gewerbegebieten angesiedelt. Für Vinhold schien es das perfekte Rückzugsgebiet, in seinem Elternhaus war er weg von der Welt.

Tage nach der Beerdigung begann er heimlich den achtzigjährigen Backsteinbau zu renovieren. Da sein Vater ein Malergeschäft betrieben und bis zuletzt gelegentlich zu Pinsel und Farbe gegriffen hatte, hielt sich der Renovierungsaufwand in angenehmen Grenzen. Das Malern hatte er vom Alten gelernt. Als Schüler hatte er ihm in den Ferien geholfen, um sein Taschengeld aufzubessern.

Amon Radagar war ein gewissenhafter und flinker Handwerker gewesen, der immer nur die Besten Farben verwendete. Für Fassaden zum Beispiel immer nur Amphibolien. Selbst nach Jahrzehnten sahen seine Fassaden immer noch frisch aus. Beim Tapezieren war Amon ein richtiger Crack. Für die breite Maler-Tapeziermaschine, auf die extrabreite Raufaser-Rollen passten, musste Vinhold oft den Kleister anrühren. In der Zeit in der er das machte, hatte sich sein Vater schon zehn bis zwanzig Bahnen durchgezogen und das erste Zimmer tapeziert. Der Alte konnte in einer unbeschreiblichen Geschwindigkeit einen Neubau tapezieren. Diese Räume dann zu streichen, war das reinste Kommandounternehmen. Rationell und effektiv wurden Türen und Fenster abgeklebt, die Risse in Windeseile mit Acryl zu gespritzt und dann alles, ohne einen Pinsel benutzen zu müssen, mit einer großen und einer kleinen Rolle durchgewalzt, wobei nie an Farbe gespart wurde. Um eine abriebfeste und widerstandsfähige Fläche zu erhalten, musste Farbe unverdünnt und dick aufgetragen werden. Das galt auch für die Fenster, Amon Radagars Fensteranstriche waren die langlebigsten, weil er sie nur mit der besten Farbe, Amarol Triol, dreimal dick eingepinselt hatte.


Von seinem Schwarzgeld, das er nun nicht nach Sardinien schmuggeln musste, ließ sich Vinhold die Strom- und Wasserversorgung auf Vordermann bringen und ein neues Bad einbauen. Nachdem der letzte Handwerker aus dem Haus war, begann sein Part. Mit dem Schlimmsten fing er an. Bevor er die Küchenschränke- und Möbel lackieren konnte, musste er sie zuerst entfetten, beim Putzen hatte sein alter Herr gerne gespart. Um das Fett abzuwaschen, das sich seit der letzten Renovierung vor dreißig Jahren angesammelt hatte, waren zwei leidvolle Arbeitsgänge mit atemwegreizendem Salmiak notwendig. Nachdem Decke, Wände und Türen cremeweis gestrichen waren, verpasste er den Schränken und den Sitzmöbeln eine Nussbaumlasur. Bald war die Küche (Vollholz, Landhaustil) so hergerichtet, dass es sich in ihr aushalten ließ. Nebenbei schuf sich Vinhold einen provisorischen Schlafplatz, und nach einiger Zeit fuhr er einfach nicht mehr nach Hause. Das war der Beginn der Trennung. Seiner Frau erklärte er trocken, dass er sein altes Zuhause nur noch einmal in der Woche besuchen würde, um die Post zu holen. Dass er abends nach der Arbeit nicht nur müde, sondern auch voller Pils und fahruntauglich war, sagte er natürlich nicht. Sein Handy stellte er nur noch an wenn er telefonieren musste.

Beim Renovieren der Zimmer ließ er sich unendlich viel Zeit. Bei schönem Wetter machte er lange Spaziergänge durch die Schrebergärten und Industrieanlagen. Dabei stellte er fest, dass in der ehemaligen Kartonagenfabrik, die am Ende der Süd-Straße neben der Chemiefabrik stand, sich eine Horde Jugendliche einnistete. Vor dem Backsteingebäude standen immer ein paar alte Autos und diverse Zweiräder. Die Jugendlichen, die ihn immer freundlich zurückgrüßten, saßen abends oft draußen vor einem selbstgebauten Grill, tranken Bier und warteten auf die Verzehrbarkeit ihres Grillgutes.

Gelegentlich unternahm er kurze Radtouren durch die umliegenden Ortschaften, hielt an Dorfbäckereien, aß Butterbrezeln oder süße Teile und trank Kaffee dazu. Bei einer Rückkehr blieb sein Blick an dem Namensschild „Amon Radagar“ hängen. Versonnen betrachtete er die Buchstaben und kam zum Schluss, dass er mit seinem Familienname ganz gut leben könnte. Aber der Vorname. Tage später überklebte er Amon mit einem „Vinn“. Ab sofort war er nur noch Vinn, für alle und Jedermann.

Mit dem Wohnzimmer war Vinn ziemlich schnell fertig. Ausmisten, putzen und mit den schönsten Möbeln seiner Eltern wieder einrichten, war ein Arbeitsgang. Dieser Raum diente ihm allein dazu, möglichst komfortabel vor dem Fernsehschirm zu sitzen. Nächtigen tat er auf dem ausziehbaren Sofa. Dann begann eine lange Woche, während der er das Haus durchstöberte und das Unbrauchbare, welches neunzig Prozent des Hausinhalts ausmachte, abholbereit vor dem Haus auf der Straße stapelte. Wie paralysiert durchforschte er den Nachlass seiner Eltern, blätterte in Fotoalben und Ordnern, sammelte interessente Unterlagen, Dokumente und Verträge und schleppte das Uninteressante schwitzend auf die Straße hinaus. Von seiner Tätigkeit war er so eingenommen, dass er oft die Mahlzeiten ausfallen ließ. Es wurde ihm auch zu mühselig ständig eine Kiste Pils zu besorgen, immer öfter trank er Wasser aus der Leitung.

Nach einem anstrengenden Wochenende, das er dem Entleeren des Kellers gewidmet hatte, blickte er am Montagmorgen beim Zähneputzen erschrocken in den Spiegel. Seine Wangen waren eingefallen, eingefallen aber straff. So gut hatte er seit Jahren nicht mehr ausgesehen. Er betastete seinen hüftnahen Fettwulst, und fand ihn deutlich reduziert. Was ein Bisschen Schinderei und Bierverzicht doch alles bewirkt. Weil er sich gerade so zufrieden fühlte, beschloss Vinn, einen Blick auf die eingegangenen Telefonate zu werfen. Fünfmal sein Agent, vermutlich wegen Interviewwünschen, dreimal Ludmilla, vermutlich, weil sich bei ihr seine Post stapelte und einmal eine Bank. Die Zahl der Anrufe hatte in den letzten Wochen erfreulich abgenommen. Da er gerade so gut drauf war, putzte er gleich seinen Agenten herunter und schrie ihm entgegen, dass er in einer Schaffenskrise stecke und seelisch und moralisch völlig am Boden sei. Als der einen guten Psychologen empfehlen wollte, war für Vinn das Gespräch auch schon beendet.

Danach ging er eine Arbeit an, auf die er sich schon seit langem freute. Er begann, aus seinem ehemaligen Kinderzimmer im Obergeschoss, ein Arbeitszimmer zu machen. Der Giebel zur Straße war durch eine Wand in exakt zwei gleiche Räume geteilt. Das westliche Zimmer war für ihn, das andere für seine Schwester gewesen. Lange überlegte er, ob er die Trennwand herausreißen sollte, aber dann hätte er zwei riesige Schrägen gehabt. Er wollte aber eine große Fotowand in seinem Arbeitszimmer. Das Schönste an diesem Zimmer war die Aussicht. Man konnte die Straße rauf und runter den fehlenden Verkehr beobachten, tief in die Gärten blicken oder über die Gärten hinweg, wo hinter dem Fluss der Ausblick wahlweise an einer Reihe Pappeln, einer Hügelkette oder einem Kirchturm endete. Eine idyllische, schöne, kleine, in sich geschlossene Welt, so fand Vinn.

Das Negative des Zimmers war die unerträgliche Hitze im Sommer. Um die Sonneneinwirkung zu schwächen, ließ sich Vinn über dem Fenster eine schattenspendende Markise anbringen und an der Schräge, kurz unter der Decke, ein Dachfenster einbauen, durch das die heiße Luft entweichen konnte, ohne gleich eine Klimaanlage bemühen zu müssen.

Vinn verkaufte seinen weißen Opel Astra und legte sich einen Fiat-Kleinlaster zu. Während Ludmilla immer für Mercedes, Audi, BMW und Porsche schwärmte, konnte sich ihr Mann komischer Weise nur für praktische Kleinwagen oder Transportfahrzeuge erwärmen. Ein Fahrzeug mit Ladefläche, in dem man hoch und mit viel Übersicht saß, vermittelte ihm das höchste Mobilitätsgefühl. Mit dem Laster konnte er nun seinen Sperrmüll zur Deponie bringen und ruckzuck fehlende Möbel besorgen. In einem Second-Hand-Möbelhaus kaufte er sich einen protzigen alten Mahagonischreibtisch, den er sich auf die Pritsche stellen ließ. Auf der Heimfahrt fuhr er an der Kartonagenfabrik vorbei und nahm zwei Jugendliche mit, mit deren Hilfe er das sperrige Möbel in das Arbeitszimmer hinauf bugsierte. Die zwei Jungs die Gluck und Spax hießen und die er gut mit Bier versorgte, wurden seine ersten Freunde am neuen Wohnort.

Als sein Arbeitszimmer, auf das er sich so lange gefreut hatte, endlich fertig war, setzte er sich genüsslich in seinen weichen, weinroten Ledersessel hinter den rötlichen Mahagonischreibtisch. Und war enttäuscht. Diese Sitzposition war bestenfalls für nächtliche Stunden geeignet, denn er saß zu tief und konnte nicht durch die Sicht auf Gärten und Fluss inspiriert werden. Sollte er, um die erwünschte Aussicht zu erlangen, den Schreibtisch auf ein Podest stellen? Andererseits war zu vieles Sitzen nicht gesund. Seiner Tätigkeit konnte er durchaus auch stehend nachgehen.

Wie er so eine unbestimmte Zeit am Fenster stand und hinausträumte, registrierte Vinn irgendwann eine sich steil aufwärts kräuselnde Rauchsäule, die ihren Ursprung bei drei bunten Hütten hatte. Dass ausgerechnet dort jetzt wieder gegärtnert wurde. Oder hatten sich nur ein paar Grillfreunde, unerlaubterweise, auf einem fremden Grundstück breitgemacht? Menschen konnte er keine erkennen, von den Hütten, deren farbige Wände nur hie und da durch das Buschwerk blitzten, eigentlich auch nicht viel. Aber er wusste genau wo sie standen und wie es dort aussah. In ihm machte sich ein unangenehmes Gefühl breit.

Die eine der Hütten, die rot, grün, gelb und schwarz angemalt war, hatte einst einer stadtbekannten Person gehört, die darin auch oft wohnte. Diese, im Hippie-Stil gewandete Frau, war eine der engagiertesten Personen der Stadt gewesen. Unermüdlich hatte sie sich für Natur, Haustiere, Kinder und Minderheiten eingesetzt. Wegen ihrer blumigen und fransigen Kleider und ihrem Interesse für Parapsychologie, war sie Hexe Alma genannt worden. Gleichzeitig hatte sie sich auch brennend für die negativen Einflüsse auf Körper und Geist interessiert und ihre Mitmenschen in punkto krankmachende Speisen, heilende Kräuter und Mondkalender beraten. Angeblich hatte sie sogar mit Handlesen und Wahrsagen ihre Einkünfte verbessert. Diese Alma war so alt wie sein Vater Amon gewesen und mit ihm zur Schule gegangen.

An den Wochenenden hatte in ihrem Kräutergarten bei der Hütte oft reger Publikumsverkehr geherrscht. Auch Vinns Eltern sind manchmal zu ihr hinüber spaziert, um Kräuter zu kaufen und Almas Märchen und Ausführungen zu lauschen, die recht unterhaltsam waren. Nicht wenige Menschen, die zu ihrem eintönigen Leben Alternativen suchten, glaubten an das, was die Hexe von sich gab. Eines Tages war sie vor ihrer bunten Hütte mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden worden. Amon schien danach ziemlich durcheinander, war sie doch seine Klassenkameradin gewesen und dann auch noch ein Mord in solcher Nähe zu seinem Haus. Alma war als ledige alte Jungfer gestorben, der Mörder oder die Mörderin wurde nie gefunden.


So ziemlich die letzte Werkstatt der Straße in der noch Leben herrschte, außer in der Gärtnerei, war eine Schreinerei, die von zwei pummeligen Damen betrieben wurde. Ansonsten war in der Gegend tote Hose, Vinn alleine auf weiter Flur, was er ja auch wollte. Die eine, war die Enkelin des letzten Besitzers, die andere, ihre Lebensgefährtin, was er zufällig von Spax erfahren hatte. Zusammen mit den Schreinerinnen, die Helga und Muriel hießen, entwarf er einen stabilen Stehpult, den die Beiden für ihn schreinerten. Somit hatte er zwei weitere Freunde gefunden.

An einem schönen Herbsttag wurde das Stehpult aus Kirschholz geliefert. Seine rötlichen Möbel harmonierten mit den gelblichen Wänden aufs Vortrefflichste, fand er. Die Atmosphäre seines Arbeitszimmers strahlte so viel Wärme aus, dass er im Winter bestimmt Heizkosten sparen würde. Vinn bedankte sich bei Helga und Muriel, beglückwünschte sie zu ihren geschickten Händen und lud sie auf ein Bier ein. Weil es ein heißer Tag war, geleitete er sie durch die Landhausküche, die die Schreinerinnen neugierig musterten, hinten hinaus auf die schattige Terrasse. Die Damen ließen sich in die bequemen Gartenstühle fallen, die noch von Vinns Eltern stammten, streckten ihre dicken kurzhosigen Beine weit von sich, ließen sich von ihm Bier bringen und betrachteten die Rückseite der gegenüberliegenden Fabrik. Die Blechfassade des ehemaligen Pharmabetriebs, doppelt so hoch wie das Haus, hatte auch einiges zu bieten. Gleich neben der Terrasse befand sich die Grundstücksgrenze, die durch einen Zaun markiert wurde, der von Waldreben, Hopfen und Hartriegel überwuchert, als Zaun nicht mehr zu erkennen war. Einige Meter dahinter erhob sich ein gigantisches Gemälde, das Amon ohne Erlaubnis des Fabrikbesitzers geschaffen hatte, um seiner Terrasse ein wohnliches Ambiente zu verpassen.

Im Bereich seiner Terrasse hatte Amon die gerippte Blechfassade mit seiner Spritzpistole himmelblau lackiert. Darauf dann, ebenfalls mit der Spritzpistole, einige eindrucksvolle Bäume gesprüht. Linksaußen ragte hinter dem überwucherten Zaun eine Palme hervor, in der Mitte, mit weit ausladenden Ästen, eine Schirmakazie die an Afrika erinnerte und rechts, eine wuchtige fremdländische Weide, mit dickem gelbem Stamm. Wer genau hinsah, konnte am Stamm der Palme ein Kapuzineräffchen in Lebensgröße erkennen, in der Schirmakazie einen heiligen Ibis und in der Weide einen Nashornvogel. Je nachdem wie der Vater Zeit gehabt hatte, hatte er auch noch ein paar einheimische Finken und Meisen hineingemalt, alle in Lebensgröße und kaum zu erkennen.

Helga und Muriel suchten angestrengt nach Vögeln, um noch zu einem zweiten Bier zu kommen, der Gastgeber öffnete schon sein Drittes. Sie sprachen über die Einsamkeit der Straße, wie schön das sei, wie wenig man von der Welt belästigt wurde. Und hier sei dieser schlimme beginnende Krieg ganz weit weg, meinte Muriel. Das sei in Georgien, beruhigte Vinn, das sei sowieso weit weg. Aber die Nato würde doch jetzt hineingezogen, ereiferte sich Helga, und Deutschland sei doch in der Nato. „Vielleicht findet sich eine Drohne, die diesen Dimitrie Russov ins Jenseits befördert“, hoffte Muriel, „dann wäre wieder Ruhe.“ Nach dem zweiten Bier waren die Schreinerinnen so anständig und räumten die Terrasse, er verabschiedete sie mit einem „kommt mal wieder vorbei“ und machte die vierte Flasche des Nachmittags auf.

Tage später, sein Arbeitszimmer war nun zu seiner vollsten Zufriedenheit eingerichtet, stand Vinn im Büro seines Vaters, besah sich die Regale mit den Ordnern und überlegte, ob er mit deren Beseitigung vielleicht einen Fehler mache. Der kleine Raum beanspruchte die Ecke zum Hof, das Wohnzimmer den Rest der Straßenfront. Amons Büro war mit zwei Fenstern ausgestattet, eines zur Straße und eines zur Werkstatt. So hatte sein Vater immer beobachten können, wer das Grundstück betrat und verließ. Im Büro war er allerdings meistens erst nach dem Abendessen verschwunden. Wann der Vater ins Bett ging, hatte er als Kind und Teenager nie mitbekommen. Sein alter Herr war immer so energiegeladen gewesen, dass Vinn manchmal bezweifelte, ob er überhaupt schlief. Am nächsten Morgen um sechs war er schon wieder über der Zeitung gesessen, und seinen Sport musste er auch irgendwann getrieben haben, denn Zeit seines Lebens sah er gut trainiert aus.

Vinn verordnete sich eine Pause, er musste erst überdenken, wie er mit den beruflichen Hinterlassenschaften seines Vaters umgehen wollte. Der Aussteiger Vinn Radagar setzte sich auf sein Tourenrad und strampelte ins Blaue. Dieses Mal zog es ihn auf die verwaisten Straßen des Industriegebiets, zu den verwilderten, mit Unkraut und Büschen überwucherten Grundstücken, wo er nach Kaninchen und Füchsen suchte und doch tatsächlich drei Rehe auf scheuchte. Als sich Hunger seiner bemächtigte, machte er sich die Mühe und radelte in ein Dorf zu seinem Lieblingsbäcker. Nach der Sättigung durch zwei Apfelschnecken und zwei Mohnschnecken fuhr er, verärgert, dass er sich in Punkto Nahrungsaufnahme nicht beherrschen konnte, deutlich gebremst wieder zurück.

Er kam an der Kartonagenfabrik vorbei. Davor parkten zwei teure Autos, abseits standen einige Räder und Roller. Beim Anblick der noblen Karossen dachte Vinn sofort an Rauschgiftdealer. Er beschloss, nach seinen Freunden Gluck und Spax zu sehen, um sie von eventuellen Dummheiten abzuhalten. Eine Art Hintertür, vor der die Nobelkarren parkten, ließ sich öffnen und Vinn stand in einem Flur, der reichlich mit Spinnweben bestückt war. Zu den Räumen links und rechts des Flures standen die Türen auf, leere Aktenschränke ließen auf ehemalige Büros schließen, Schreibtische und Sitzgelegenheiten fehlten. Der Eindringling landete in einem Raum mit dutzenden Blechspinten, an der Stirnwand hing ein großer Sicherungskasten. Seltsamerweise war der Kasten, unterhalb des Stromzählers, von mehreren Kabeln angezapft. Vinn schlich nun vorsichtig den Leitungen entlang, ging geräuschlos durch das Erdgeschoss, in dem sich in den Ecken ein Tohuwabohu aus Maschinen befand, folgte den Kabeln eine Treppe hoch und als er den Kopf in den ersten Stock streckte, hörte er leise Stimmen.

Hier fand er die Schreibtische und die Sitzgelegenheiten, die wohl einmal eins tiefer in den Büros von Nutzen gewesen waren. Die bestimmt zehn Tische waren mit Computern, Bildschirmen und Tastaturen vollgestellt. Auf den Stühlen und in den Sesseln saßen lauter Kopfhörer-bekrönte junge Leute, über die Hälfte weiblich. Auch seine Freunde Gluck und Spax sahen gebannt auf die Schirme. Vinn, in der Annahme, dass das Jungvolk spielte, trat interessiert näher. Doch als die Erste ihn bemerkte, verdunkelte sie ihren Schirm, die anderen taten es ihr nach als sie den Eindringling gewahr wurden und setzten ihre Kopfhörer ab. Vinn hob zaghaft seine rechte Hand zum Gruß und zuckte in Richtung Gluck und Spax seine Schultern. Spax stand auf.

„Darf ich euch den berühmten Schriftsteller Vinhold Radagar vorstellen“ stellte er vor.

„Ihr dürft mich Vinn nennen“, sagte der berühmte Schriftsteller.

„Wie sind sie hereingekommen?“ fragte ein bebrillter Typ der Edward Snowden ähnelte.

„Die Tür war offen. Ich wollte Gluck und Spax zu einem Bier einladen“, erklärte Vinn. „Habt ihr hier eine Lan-Party?“

Alle sahen zu dem Snowden-Typ. „Wir arbeiten hier, das ist unsere Firma. Wir basteln an neuen Sicherheitsprogrammen“, meinte der unsicher. Der ungebetene Besucher wusste vor Verlegenheit nicht wo er hinschauen sollte. Im Hintergrund, abseits der Tische, entdeckte er Feldbetten, Isomatten und Schlafsäcke und gewann so eine Ahnung.

„Ein berühmter Schriftsteller wie sie, kann unsere Sicherungsprogramme bestimmt gut gebrauchen“, versuchte eine junge hübsche Frau Werbung zu machen.

„Wir hacken auch ein wenig“, verriet Gluck. „Wenn du mal für eine Geschichte brisante Informationen brauchst, bist du bei uns goldrichtig.“ Der Snowden-Typ warf Gluck böse Blicke zu.

Vinn begann zu lachen. „Ich glaube, ihr hackt euch in die Homepages anderer Leute und Firmen, um ihnen ihre Sicherheitsmängel vor Augen zu führen, und dann verkauft ihr ihnen eure neu entwickelten Programme.“ Er stemmte seine Hände in seine Hüften und fragte frech und arglos: „Hab ich recht?“

Alle fünfzehn Anwesende, Männlein wie Weiblein, starrten ihn an. Vinn fühlte sich nicht direkt bedroht, doch wurde ihm leicht mulmig. Er überlegte angestrengt, womit er der ungeplanten Begegnung die Schärfe nehmen könnte. „Vielleicht kann ich über euer Metier ein Roman schreiben“, fiel ihm dann ein. „Der Start einer so jungen Firma ist für Leser bestimmt interessant.“ Da begann ihr Anführer zu Schmunzeln und die anderen Gesichter entspannten sich. „Ich bin Snowy“, reichte ihm der Snowden-Typ die Hand, „ich habe mit dem hier angefangen. Sie scheinen ein interessanter Mensch zu sein.“

„Wenn ihr illegal hier seid, solltet ihr eure Fahrzeuge verstecken. Unten in der Halle wäre noch Platz“, regte Vinn an.

„Wir versuchen gerade das Gebäude zu pachten“, verteidigte sich Snowy. „Wir wollen unsere Firma ganz groß und legal aufziehen. Darf ich ihnen mal zeigen was wir so machen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten begann er zu erklären, welche Probleme die einzelnen jungen Leute zu lösen versuchten. Vinn sah dabei weniger auf die Bildschirme, schon alleine deshalb nicht, weil er von allem keine Ahnung hatte und nur Bahnhof verstand. Er sah in die Gesichter der attraktiven jungen Frauen und tiefer, und wenn es die Sitzposition zuließ, auch auf ihre Hintern. In seiner Hose begann es sich zu regen. Tolle Frauen hier, dachte Vinn und auf einmal merkte er, woran es ihm am meisten mangelte. Seit langer Zeit dachte er wieder an Sex, den er vor lauter Familienkrach und Renovierungsarbeiten vergessen hatte. Es wurde Zeit, mal wieder eine Eroberung zu machen. Snowys Damen waren leider zu jung, bei ihnen würde er garantiert abblitzen. Aber wer sich auf Freiers Füßen begibt, lebt auf.

Später sollte er erfahren, dass diese Firma das meiste Geld mit dem Platzieren von Trollen verdiente. Snowys Leute bastelten für die unterschiedlichsten Auftraggeber Beiträge zusammen, die Gruppen, Vereinen, Firmen und sogar Regierungen Unwahrheiten andichteten. Die Absicht war, die Adressaten zu provozieren und zu unbesonnen Reaktionen und Falschaussagen zu verleiten, die dann gegen sie verwendet werden konnten. Auf jede Reaktion im Netz wurde so lange ein weiterer Troll nachgeschoben, bis der Auftraggeber die Aktion stoppen ließ.


Ewig Lust auf Mädchen, ewig Lust auf Krieg

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