Читать книгу Ewig Lust auf Mädchen, ewig Lust auf Krieg - Hans Joachim Gorny - Страница 4
Partytime
ОглавлениеSo einfach es für seinen Vater gewesen war an Frauen zu kommen, so schwer war es für seinen Sohn. Vinn versuchte es im Internet, drückte sich auf Dorffesten herum um harmlos aussehende Frauen anzusprechen, lud sogar manchmal Helga und Muriel ein, die sich aber definitiv nicht für Männer interessierten. Am liebsten hielt er sich bei Snowys Leuten in der Kartonagenfabrik auf. Sein Vater hätte es mit einundfünfzig Jahren bestimmt noch geschafft, eine der jungen Frauen für sich zu gewinnen.
Was Vinn an seinem Vater am meisten erstaunte, war dessen positive Ausstrahlung, Amon hatte immer so gewirkt, als ob ihm noch nie etwas Böses wiederfahren sei. Dabei war er ein Waisenkind. Sein Vater war im Bergwerk verschüttet worden, seine Mutter samt Brüderchen im Kindbett gestorben. Amon musste bei einem Onkel wohnen, der ihn, so konnte man zwischen den Zeilen seiner Erzählungen heraushören, schlecht behandelte. Als die Malerlehre beendet war und er achtzehn Jahre alt wurde, hatte er zur Feier seines Geburtstags seinen Onkel verdroschen und sich auf Nimmerwiedersehen aus dem örtlichen Staub gemacht, um im Dunst einer fremden Stadt unterzutauchen. Während des Zweiten Weltkrieges, den er in voller Länge an verschiedenen Fronten mitmachte, war Amon ständig unter dem Schutz diverser Vorgesetzter gestanden, denen er als Ordonanz diente. Selbst die Kriegsgefangenschaft war ihm erspart geblieben. Es gab einfach Menschen, die geschickter waren als andere.
Sein Vater schien unter dem Verlust der Eltern nie gelitten zu haben. Wenn Amon aus seiner Jugend und Junggesellenzeit erzählte, war es meistens um Sport und Urlaub gegangen, hinter vorgehaltener Hand auch um Frauen. Bis zu seinem vierundvierzigsten Lebensjahr lebte er nur für seine Reisen, er war ganz heiß darauf gewesen die Welt kennenzulernen, die er vor allem durch Schwarzarbeit finanzierte. Sobald wieder ein paar tausend Mark zusammen waren, buchte er eine Rundreise, die ihn durch ein asiatisches, afrikanisches oder amerikanisches Land führte. Kein einziges Mal hatte er eine seiner Freundinnen mitgenommen, denn fremde Länder zu entdecken war für ihn das Höchste, Frauen konnten das unter Umständen verderben. In seiner Prioritätenliste kamen sie nach Reisen und Sport erst an dritter Stelle. Eine Freundin zu finden war für ihn kein schweres Unterfangen. Nach dem Tod seiner Mutter hatte Vinn zweimal miterlebt, wie sein Vater an Frauen heranging. Da waren weniger bezirzende Worte im Spiel gewesen, als vielmehr wissende Blicke und ein Fühlen und Ahnen was der andere wollte. Eine Fähigkeit, die für Vinn zu den Rätseln der Welt gehörte.
So sehr er das Alleine wohnen genoss, saß Vinhold Radagar an Heilig Abend dann doch Trübsal blasend vor der Glotze und sah ins Leere. Neben seinem Fernsehsessel stand griffbereit eine Kiste Bier, was er bis dahin als Inbegriff eines gemütlichen und zwanglosen Lebens gehalten hatte. Nach dem Öffnen der zehnten Flasche bekam er einen Moralischen. Sturzbetrunken im Sessel sitzend, ging er mit sich ins Gericht, haderte mit seinem Bierkonsum, verwünschte seine Disziplinlosigkeit und schlief darüber ein. Im Laufe des nächsten Vormittags erwachte er mit einem Kater und sehr schlechten Gefühl, ohne sich an die nächtliche Selbstzerfleischung zu erinnern. Noch bevor er den dringend nötigen Toilettenbesuch absolvierte, stürzte er in der Küche ein Glas Leitungswasser hinunter, um den fürchterlichen Brand in seiner Kehle zu bekämpfen. Im Bad erblickte er sich im Spiegel und war mit sich und seiner Situation noch unzufriedener.
„Ich seh mit einem Kater,
so alt aus wie mein Vater“,
sagte er seinem wenig schmeichelhaften Spiegelbild.
Es musste etwas passieren, bei diesem Lebensstil ging er sonst vor die Hunde, sich hängen lassen hatte keine Zukunft und war keine Lösung. In seinem desolaten Zustand sah er schon, wie er eines Tages an einem Herzinfarkt starb und total verfettet und halb verwest in seiner vermüllten Wohnung gefunden wurde. Er musste die Zeit die ihm zur Verfügung stand anders nutzen und war fest entschlossen seinen Körper in Form zu bringen. Er nahm sich seinen Vater zum Vorbild, wusste aber, dass er nie so sportlich aussehen würde wie er, weil Amon zehn Zentimeter größer gewesen war und deshalb schlanker gewirkt hatte. Was musste er auch eine kleine Frau ehelichen. Die Größe einer Mutter wirkt sich entscheidend auf die Größe der Kinder aus.
Am Abend des ersten Weihnachtsfeiertags begab sich Vinn in seinem Trainingsanzug auf die Straße und begann zu trippeln. Schon nach einer Minute brach ihm der Schweiß aus. Er fing neu an und setzte, einen Laufschritt nachahmend, einen Fuß vor den anderen. Nach zwei Minuten bekam er Seitenstechen, drückte auf die entsprechende Stelle, machte die nächste Pause. Der Möchtegernsportler spazierte so lange die Straße entlang, bis das Stechen aufhörte und startete einen neuen Versuch. Wieder bekam er Seitenstechen, der Schweiß floss ihm in die Augen, die nächste Pause war fällig. „Ich Idiot“, sagte er auf einmal laut zu sich, „man muss sich doch zuerst warmmachen. In meinem Alter sowieso.“ Er kreiste seine Arme, zog die Knie abwechselnd Richtung Brust, versuchte bei gestreckten Beinen mit den Fingerspitzen seine Schuhe zu erreichen, was alles ziemlich erbärmlich aussah. Und es floss der Schweiß. So, jetzt muss es besser gehen, dachte er, und lief forsch drauflos. Nach etwa fünfzig Metern wurde ihm so schwindlig, dass er sich an eine Wand lehnen und dann auch noch auf den Boden setzen musste. Er fühlte sich so sterbend elend, dass er jeden Moment mit einem Herzstillstand rechnete. Nach einer Viertelstunde der Erholung schlich er vorsichtig in seine nach Bier riechende Höhle zurück.
Eisern versuchte Vinn sich das Joggen anzugewöhnen, für seine ersten Gehversuche, nutzte er den Winter über die frühe Dunkelheit. Fast täglich trippelte er abends vorsichtig die Südstraße entlang, versuchte jedes Mal ein Stück weiter zu kommen, und packte sich gut ein um viel zu schwitzen, denn allererstes Ziel war, seinen Speck abzubauen. Der Anfang war mühsam, neun Abende dauerte es, bis er ohne Verschnaufpause das Ende der Straße erreichte. Aber dann platze der Knoten und der Körper akzeptierte die neue, unbekannte Fortbewegungsart. Die Joggingstrecke wurde länger und länger und im Frühjahr konnte er, ohne anhalten zu müssen, das komplette Industriegebiet umrunden. Zudem stand nun ein Hometrainer in seinem Wohnzimmer. Wenn draußen mieses Wetter war, suchte er sich einen Film aus und verfolgte in radelnder Weise das Geschehen auf dem Bildschirm. Was ihn beim Kommandounternehmen „Abspecken“ mindestens genauso forderte wie die körperliche Betätigung, war der Verzicht auf Bier und Süße Teile. Sein Körper schrie nach Zucker. Nur noch selten und auch nur in größter Not, gönnte er sich einen Schokoriegel.
Einmal die Woche besuchte er das Jungvolk in der Kartonagenfabrik um zu testen, ob einigen Damen seine Veränderung positiv auffiel. Doch die Damen grüßten ihn, ohne recht hinzusehen. Erst als er im Frühjahr mit einer sportlichen Stoppelfrisur, einem Dreitagebart und einer Adidas-Mütze auftauchte, erntete er anerkennende Blicke. Er sähe nun aus wie ein Extrembergsteiger, übertrieb Snowy, und Vinns heimlich Angebetete Laura meinte, er wäre ein Beispiel, dass sich auch Alte noch positiv verändern können. Wenn sie das Wort Alte nicht benutzt hätte, wäre ihm der Satz wie Zucker hinunter gegangen. „Scheiße“, dachte Vinn, „die wissen halt wie alt ich bin. Ich muss Frauen anbaggern die das nicht wissen.“ Aber trotzdem wollte er auch in Zukunft den jungen Leuten nahe sein. Um für seine häufige Anwesenheit einen Vorwand zu schaffen, beschloss er, seinen letzten Beruf zu reaktivieren. Wie er schon angeregt hätte, würde er gerne einen Roman über eine Internetfirma schreiben, indem es um die Arbeitswelt junger Leute ging, erklärte er dem Computer-Volk.
Von Berufs wegen war er eigentlich Lehrer für Englisch, Deutsch und Geschichte. Sein Vater, der nur Volksschule kannte, war erst einmal erstaunt, als Vinhold, und später auch Villmut, aufs Gymnasium wechselte. Die Mutter allerdings, auch eine Volksschulabsolventin, war hellauf begeistert. Während Amon das Geld verdiente, kümmerte sich die Mutter, die immer nur Schatz oder Mama gerufen wurde und deren Name Ulrike die Familie überhaupt nicht mit ihr in Verbindung brachte, aufopferungsvoll um die zukünftigen Abiturienten. Belegte die Pausenbrote, fuhr sie bei schlechtem Wetter zur Schule, holte sie ab, besorgte fehlendes Schulmaterial, ging zu Elternabenden, engagierte sich am Gymi. Nach dem Abi verweigerte Vinhold den Wehrdienst und leistete seinen Ersatzdienst an der Pforte des nächsten Krankenhauses. Als er ein Lehrerstudium begann, stand wieder die Mutter auf seiner Seite, während der Vater etwas die Nase rümpfte, weil sein Filius keinen körperfordernden Beruf ergreifen wollte. Danach war auch seine Schwester Lehrerin geworden.
Nur einmal hatte der Vater seinen Kindern vorgeworfen, den bequemeren Weg zu gehen. Sie würden nur deshalb Lehrer werden, weil sie Schule kannten und den Gang in die freie Wirtschaft scheuten. Auch bei der Brautschau war Vinn den bequemsten Weg gegangen, in dem er eine Kollegin, eben Ludmilla, ehelichte. Zu guter Letzt ergriff auch noch Tochter Birte den Lehrerberuf.
Während seiner Lehrerzeit beobachtete er immer neugierig wie seine Schüler miteinander umgingen und verglich das mit seiner Schulzeit. Die Schüler, die sich alle ein Handy wünschten und nur noch telefonierten, geizten nicht mit Sticheleien und Gemeinheiten. Darin hatte sich trotz moderner Technik nichts geändert. Auch Liebeleien und Streitereien waren der Schulwelt erhalten geblieben. Als sich einmal zwei Jungs wegen einem Mädchen prügelten, wusste Vinn, was sich seit seiner Schulzeit geändert hatte. Am Gymnasium gab es kaum noch körperliche Gewalt. Der Rektor übertrug ihm die Aufgabe, zwischen den Kontrahenten zu schlichten. Nach einer Reihe gegenseitiger Schuldzuweisungen begannen die Beiden aus dem Schulalltag zu plaudern, Vinn bekam interessante Geschichten zu hören, die ihm bislang entgangen waren. Er machte sich erste Notizen. Wann immer ihm ein Beziehungsstress bekannt wurde, hielt er ihn schriftlich fest, denn, um als junger Lehrer erfolgreich schlichten zu können, musste er Erfahrungen sammeln. Nach einigen Jahren konnte er auf ein ganzes Bündel gesammelter Notizen blicken und Vinn hatte die darin festgehaltenen Ereignisse, in seiner Fantasie noch weiter gesponnen. Und zack, war er da, der Gedankenblitz, die Idee, aus dem gesammelten Material einen Roman zu formen.
Heraus kam ein dreihundert Seiten starkes Werk, dass manchmal schmachtend, manchmal lustig, die Schul- und Liebesprobleme der Schüler beschrieb. Bei den Örtlichkeiten und Personen des Romans achtete er gewissenhaft darauf, dass sie nicht mit Realen in Verbindung gebracht werden konnten. Trotzdem war Ludmilla dagegen, den Roman zu veröffentlichen. Die Kolleginnen und Kollegen würden bestimmt, aus Angst schlecht wegzukommen, einige Schwierigkeiten bereiten. Doch der Lehrerschaft, so stellte sich schließlich heraus, gefiel der Roman, ebenso dem Rektor, und auch die Schüler fanden ihn gelungen und sich gut dargestellt. Nach dem allgemeinen positiven Echo bemerkte Ludmilla nur noch, im Roman sei er witziger als im echten Leben.
Das Buch wurde gelesen, verkaufte sich gut, wurde zum Bestseller, brachte ihm Einnahmen und Anerkennung. Bald schon schrieb er in seiner Freizeit an einem Zweiten, es folgte ein dritter, ein vierter Roman. Wie gehabt, schrieb er über Liebe und Feindschaften zwischen Schülern, ab dem dritten Roman gesellten sich liebe und böse Eltern dazu, ab dem vierten, die Romane waren inzwischen fünf bis sechshundert Seiten stark, gab es Liebe und Hass zwischen Lehrern und Schülern. Es folgten Liebe und Hass zwischen Lehrern, zwischen Eltern und Lehrern, zwischen Rektor und verzweifelter Aushilfslehrerin, die sich eine Festanstellung erschlafen wollte.
Zuerst berichteten regionale Zeitungen über den Romane schreibenden Lehrer. Dann musste oder durfte Vinhold seine ersten Interviews geben, das Landesfernsehen klopfte bei ihm an und filmte ihn beim Schreiben, auflagenstarke Illustrierte zogen nach und seine Schule wurde berühmt. Zwischendurch hatte ein Großverlag die Rechte an sich gerissen, ohne dass Vinn gefragt wurde. Er wäre gerne bei dem örtlichen Verlag geblieben, der dem Vater eines Schülers gehörte, und der ihm gegenüber sehr kulant gewesen war.
Im fünften Roman geschah ein Mord. „Mord nach der Pause“ verkaufte sich allein in Deutschland über fünfhunderttausend Mal. Danach war es aus mit der Ruhe. Aber Vinns Einkünfte waren so enorm, dass er ein Haus bauen und den Beruf quittieren konnte. Sein Verleger schickte ihn zwecks Werbung in ganz Deutschland zum Vorlesen herum, von sämtlichen Talkrunden und Fernsehshows der Republik erhielt Vinn Einladungen. Bis zuletzt musste er fast wöchentlich Interviewwünsche erfüllen. Musste immer wieder nach Italien, Spanien, Frankreich, Polen und England reisen, damit auch das Ausland sehen konnte, wer diese lebensechten, komischen, schlüpfrigen und überflüssigen Romane geschrieben hat. Auf diesen Reisen wurde er untreu. Ludmilla wurde von der vielen Aufmerksamkeit die sie bekam, immer unruhiger, eitler und abgehobener, seine Tochter immer eingebildeter. Es war geradezu ein Wunder, dass Birte ihre Schulzeit beendete und nicht vorher alles hinschmiss, um Romane zu schreiben.
Seinen Wechsel vom Lehrer zum professionellen Schriftsteller hatte seine Mutter leider nicht mehr erlebt, sie war schon während des Studiums gestorben. Hundert pro wäre sie wesentlich stolzer auf ihn gewesen als der Vater, der den ganzen Aufregungen nicht viel Positives abgewinnen konnte. Vinn allerdings beschlich den Verdacht, dass Amon nicht damit umgehen konnte, dass sein Sohn Abitur hatte, viel Geld verdiente und auch noch berühmt wurde. Obwohl sein Sohn einen mickrigen Körperbau und ein blasses Temperament besaß, schien er doch seinen alten Herrn überflügelt zu haben. Der einstmals unendlich selbstbewusste Amon war nicht lange vor seinem fünfundachtzigsten Geburtstag vom Tausendsassa auf Handwerker zurückgestuft worden.
Wenn Vinn nun tatsächlich über die Tätigkeit der jungen Leute in der Kartonagenfabrik einen Roman schreiben würde, wäre das ein ganz anderer als die vorausgegangen und vermutlich ein Flop. Deshalb dachte er überhaupt nicht daran ein neues Buch zu veröffentlichen und wieder ins Rampenlicht zu treten. Der einzige Zweck seiner dortigen Anwesenheit war, unter jungen Menschen zu sein, weil es dort lebendiger zuging als unter Gleichaltrigen und er auch öfter Neues erfuhr. Vielleicht wurde der Stoff einmal populär und ließ sich verwenden. Auf jeden Fall interviewte er alle die gerade Zeit hatten. Am liebsten die Mädchen. Ohne sich recht konzentrieren zu können, bewunderte er, während sie ihm auf ein Gerät schnäbelten, hingerissen ihre flinken Lippen, die zarte Haut ihrer Hälse und Arme und ihre verdeckten Formen. Leider drängte sich oft der eitle Snowy dazwischen, denn der hoffte, einmal groß rauszukommen. Auch Gluck und Spax kamen sich furchtbar wichtig vor.
Der berühmte Schriftsteller lud die Gruppe oder Firma, eben die ganze Bande, zu einer Party ein, die Ostersonntag stattfinden sollte. Der Hintergedanke dabei war, Insiderwissen und etwas über ihre persönlichen Beziehungen zu erfahren. Damit er an die erhofften Informationen kam, wollte er ordentlich Alkohol spendieren. Um sich seinen Gästen anzugleichen, besorgte er sich solche modische Klamotten wie sie die Computer-Freaks trugen. Hemden und T-Shirts in aktuellen Mustern und Farben, neue Blue-Jeans und eine Jacke, die er als Lehrer niemals angezogen hätte. Nachdem man jahrelang aufgerissene Jeans kaufen konnte, waren nun Jeans modern, bei denen die Löcher gestopft waren. Je kunstvoller die Löcher gestopft waren, desto teurer die Jeans. Das galt auch für die dazu passenden Jacken. Die Welt war schon verrückt. Funkelnagelneues Gewebe wurde zerrissen, um es wieder aufwändig zusammenzunähen und teuer verkaufen zu können.
Es war nie ganz klar wer alles mit Snowy zusammenarbeitete, oft war es ein munteres kommen und gehen. Auf jeden Fall hatte Vinn mit circa fünfzehn Leuten gerechnet. Doch anscheinend brachte jede und jeder noch ein oder auch zwei durstige Partner zur Party mit. Vinn war total überfordert. Durch sein Haus summte ein unübersichtlicher Menschenschwarm, die Toiletten waren dauernd besetzt, die Sitzgelegenheiten zu wenig, die Musik zu heftig und zu laut. Um elf Uhr war das Bier zu Neige, um viertel nach elf auch der Wein. Vinn bekam einen Tipp, wo er auch am Ostersonntag Nachschub besorgen könne, machte seinen Kleinlaster bereit und nahm noch eine freche Göre mit schriller Stimme mit, die den Weg wusste. Um Mitternacht waren er und Svenja, so hieß seine Begleiterin, mit voller Pritsche zurück. Gleich griffen viele gierige Hände in die Kisten. Der Hof roch schon wie ein Pissoir. Vinn floh mit einer Flasche Rotwein und der Hoffnung auf einen Sitzplatz, in sein Wohnzimmer, denn während seiner Abwesenheit hatte sich die hämmernde Musik von dort in die Küche verlagert.
Seine gute Stube war gut besucht. Die meisten saßen an den Wänden lehnend, mit einer Flasche zwischen den Beinen, auf dem Fußboden, die Luft war für Asthmatiker ungeeignet. Raucher leben zwar kürzer, sterben aber nicht aus. Der Ton zwischen seinen Gästen war ruppig, einige waren schwer bemüht, sich gegenseitig herabzusetzen. Ungeniert wurden Antipathien gepflegt, einander Fehler und Vergehen vorgeworfen und die Zukunftsaussichten vermiest. Besonders Snowy, der an diesem Abend in einem Maserati und mit einer Wodkaflasche gekommen war, die er besitzanzeigend umklammert hielt, fetzte sich mit jedem, der die Zukunft anders einschätzte als er.
„Wenn wir es nicht machen, machen es andere, du Weichhirn“, schleuderte er in Richtung Fernseher, meinte aber einen übergewichtigen Typ mit dunklem, wildem Haar und Bart, der direkt neben ihm auf dem Sofa saß.
„Dir ist doch überhaupt nichts heilig, du kennst keine Moral und akzeptierst keine Privatsphäre“, schimpfte der Lockige.
„Hör mir auf mit Moral“, schnaubte Snowdens Doppelgänger. „Es wurde schon immer gemacht was technisch machbar war, weil man genau wusste, dass einem sonst andere zuvor kommen. Man muss es ja nicht an die große Glocke hängen“, und nahm einen Schluck aus der Wodkaflasche.
„Ingo, Snowy hat recht“, rief die auf dem Boden sitzende Laura dazwischen. „Wer, als Beispiel, früher an embryonalen Stammzellen forschte, galt als Verbrecher. Trotz den ethischen Bedenken haben es alle gemacht, um nicht den Anschluss zu verlieren.“ Auch sie hatte eine Bierflasche zwischen die Beine geklemmt. Weil Vinn sie aufmerksam beobachtete, setzte sich Svenja, die hinter ihm gestanden war, zu Laura, neben der noch fünfundzwanzig Zentimeter Platz waren, auf den Boden.
Der Übergewichtige Ingo auf dem Sofa, plärrte darauf dem Maserati-Fahrer direkt ins Ohr. „Sagt mal, habt ihr eine Mattscheibe? Ihr legt euch mit dem BND und MAD an. Wenn die herausfinden was ihr treibt, nehmen sie euch alle Spielsachen weg, dann könnt ihr eure Programme, die ihr mit viel Aufwand entwickelt, nicht mehr verkaufen und bekommt außerdem Berufsverbot.“
Auf einmal herrschte betretenes Schweigen. Auch die Zuhörer die dazwischen gerufen und ungebeten ihren Senf dazugegeben hatten, verstummten.
Die plötzliche Stille war unheimlich. Vinn als Gastgeber fühlte sich verpflichtet die Diskussion wieder in Gang zu bringen. Vorsichtig fragte er: „Um was geht es eigentlich?“
Ingo, der nicht wusste wer Vinn war, drehte sich zu ihm hin und wunderte sich erkennbar über den alten Knacker der an der Wand lehnte. Dennoch gab er Antwort. „Diese Helden hier haben eine Technik entwickelt, mit der sie dein Passwort umgehen können.“
„Ist das wahr?“ fragte der Gastgeber zweifelnd.
Laura gegenüber hob ihre Lieder wie ein verwundetes Tier, Snowy nickte vor sich hin.
„Also könnt ihr mir, sozusagen, hier beim Schreiben zuschauen, ohne dass ich es merke?“ ereiferte sich Vinn. „Das ist ja ungeheuerlich.“
„Sag ich doch“, brummelte Ingo. „Es gibt keine Privatsphäre mehr. Während du dir intime Notizen über deine Begehrlichkeiten machst, schmachtende Sätze für deine Freundin entwirfst, die du ihr nicht einmal im Traum zumailen würdest, oder irgendwelche perverse Sachen aufschreibst, sitzen die Hacker dabei und amüsieren sich.“
Der berühmte Schriftsteller fragte ungläubig: „Ja, ist das schon Realität?“ Das halbe Zimmer nickte.
Vinn: „So eine Sauerei, wo soll das noch hinführen.“
Ein schmuddeliger Typ, der mit einem Mädchen in einem Wohnzimmersessel saß, wandte sich dem Hausherrn zu. „Die nächste Steigerung ist nun, dass Snowy und seine Leute in deinen PC schauen wollen, ohne dass er in Betrieb ist. Stell dir mal vor, sie machen das bei einem Ministerium oder einer Regierung und werden dabei entdeckt.“
Aus dem anderen Sessel meldete sich eine stark tätowierte schlaksige Frau mit ärmellosem Hemd, die viel Metall im Gesicht hatte. „Ich glaube, ihr seid alle viel zu eingebildet, was ihr macht, können die Geheimdienste vermutlich schon lange. Ich glaube sogar, dass sich BND, CIA, NSA, KGB, Mossad und wie sie alle heißen, schon lange bei euch eingehackt haben. Sobald ihr könnt was die können, lassen sie euch hochgehen. Die haben doch ein riesen Interesse daran, Industrie und Regierungen auszuspähen und dass andere das nicht können.“
Die Tätowierte schien nach Vinn die zweitälteste im Raum zu sein und von den anderen respektiert zu werden. Er nahm einen großen Schluck aus der Rotweinflasche und sah sich in seinem proppenvollen Wohnzimmer um. Dann sprach er in die Stille: „Dann wisst ihr ja was ihr zu tun habt. Primär müsst ihr nun Computer entwickeln, bei denen das nicht möglich ist. Ich könnte mir vorstellen, dass mit sicheren Geräten, die doch jeder braucht, mehr zu verdienen ist, als mit Programmen die nur Ärger nach sich ziehen.“
Sofort begannen angeregte Unterhaltungen darüber, was man alles machen könnte. Er beobachtete die blitzgefährdete, tätowierte Frau. Wenn er sich das Metall und die Bilder auf ihrem Körper wegdachte, blieben wenig sympathische Gesichtszüge übrig. Auch ihr knochiger Körperbau konnte keine ansprechenden Linien vorweisen. Trotzdem vermutete er in der Frau, die mit Bonny angesprochen wurde, viel Cleverness, was sich im Laufe des Morgens bewahrheitete. Die Gespräche plättscherten dahin, die Nacht schritt voran, die Gemüter schienen beruhigt. Als sich jemand einen Joint bastelte, wurde Vinn doch unruhig.
„Bruno“, kam es gedehnt aus einer Ecke, „wo hast du das Gras her?“
Sofort hatte der Angesprochene die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden. „Das Zeug kommt ganz aus der Nähe“, verriet er. Er rang noch mit sich, ob er die Quelle preisgeben sollte.
„Da gibt es zwei geschickte Typen“, petzte Svenja, „die sich in einer leeren Halle eine Plantage eingerichtet haben. Die ernten gerade.“
„Petze“, entfuhr es Bruno. „Wer will mittun?“ Die meisten hoben ihre Hand, Vinn nahm einen Schluck aus seiner zweiten Flasche und öffnete ein Fenster.
„Ich merke schon“, meinte er, „das Gebiet hier ist stark Einsatzgefährdet. Hacker, Cannabisplantagen, bin gespannt was sich noch alles findet. Vielleicht ein Drogenlabor in der alten chemischen Fabrik. Oder eine Waffenschmiede in der ehemaligen Schlosserei. Dass ich hier noch keine Spielhölle gefunden habe, erstaunt mich sowieso.“ Einige lachten, Vinn spürte nun deutlich, dass er nicht mehr nüchtern war. Bonny lag genüsslich in ihrem Sessel, den sie vehement gegen Mitnutzer verteidigte und rauchte ihren Joint. Auf einmal drängten sich im Flur schnuppernde Gäste, denen das Trinken auch zu wenig war. Bonny reichte Vinn, der genau in Armeslänge an der Wand stand, ihren Joint. Nur weil er schon betrunken war, traute er sich daran zu ziehen und, obwohl er nichts spürte, gab er das Ding sofort zurück.
„Kein Mensch versteht, weshalb Cannabis nicht legalisiert wird“, sagte sie laut.
„Wenn ich sehe, was der Schnaps mit meinem Alten gemacht hat“, kam es von Ingo vom Sofa, „wäre Gras die gesündere Alternative.“
„Die Politik verteufelt Cannabis als Einstiegsdroge“, wusste Laura.
„Von wegen Einstiegsdroge, Schnaps ist eine Einstiegsdroge“, empörte sich Bonny und sah zu Snowy, der die Wodkaflasche fast geleert hatte.
„Gras ist für die Bauern“, lallte der Maserati-Fahrer, der hoffentlich das teure Gefährt stehen ließ. „Wer Alkohol trinkt, hat immer etwas in der Hand“, hob die Flasche und trank.
Ingo, der auch nicht nüchtern war, sah angewidert auf Snowys Flasche. „Wenn Wodka frei verkäuflich ist, sollte auch Cannabis frei verkäuflich sein. Jeder weiß doch, dass Alkoholabhängigkeit einen größeren volkswirtschaftlichen Schaden verursacht, als Cannabiskonsum.“
„Das kann man so nicht sagen“, mischte sich nun Vinn in das Gespräch. „Wenn Cannabis legalisiert wird, wird vermutlich weniger Alkohol getrunken. Gerade die anspruchslosere Bevölkerung wird das Kiffen dem Bierkästen schleppen vorziehen. Wenn mehr gekifft wird, wird weniger Alkohol getrunken.“ Vinn kämpfte mit seiner Konzentration, brachte seine Überlegung aber doch zu Ende. „Das heißt im Klartext: Dem Staat entgeht sehr viel Alkoholsteuer. Und nicht nur das. Wenn große Teile der Bevölkerung auf Cannabis umsteigen, bricht die Alkoholwirtschaft zusammen. Brauereien müssen Leute entlassen, Winzer ihre Reben stilllegen und viele Kneipen würden schließen. Die ganze versoffene Kultur des Abendlandes wäre gefährdet. Und weil dem Staat satte Steuereinnahmen entgehen würden, könnt ihr auf den Sankt-Nimmerleins-Tag warten, bis Cannabis freigegeben wird.“
Bonny, der man nicht ansah ob sie betrunken war, meinte nur: „Da ist sogar was dran.“ Dadurch entstanden zahlreiche Gespräche und Diskussionen über Cannabis, danach gingen die ersten Gäste, leider auch Vinns Augenstern Laura. Er setzte sich, an seiner Standfestigkeit zweifelnd, auf Lauras Platz zwischen Svenja und einen unbekannten schlafenden Kerl und versuchte den Gesprächen zu folgen. Svenja fragte beiläufig: „Du, ich glaube ich schaffe es nicht mehr nach Hause. Kann ich heute Nacht bei dir pennen?“ Ebenso beiläufig sagte er: „Da ist das Schlafzimmer“, und zeigte nach oben. Ihn einer lichten Sekunde, während er die zweite Rotweinflasche leernuckelte, traf ihn die Erkenntnis, dass er das Haus voller fremder Leute hatte und überhaupt nicht kontrollierte, was diese so trieben. Mühsam erhob er sich, schwankte durch die Massen die er doppelt sah, drückte sich den Flur entlang in die Küche, von dort in den Hof. Der Hof war leer, keine Leute draußen, die Pritsche seines Fahrzeugs war auch leer, keine Bierkisten und Weinkartons mehr drauf. Über die Terrasse begab er sich wieder in die Küche, nun waren weniger Gäste darin, die frische Luft hatte den doppelten Blick beseitigt, es roch nach Kaffee. Vinn fragte ein unbekanntes Mädchen, ob er einen Kaffee haben könnte. Er befand sich in einem so desolaten Zustand, dass er sich bei der eigenen Kaffeemaschine nicht mehr auskannte. Sie tat ihm den Gefallen ohne zu wissen wer er war. Sein Blick fiel auf die Küchenuhr, viertel vor fünf. Da es draußen dunkel war, musste es wohl morgens sein. Nach dem Genuss des Kaffes begab er sich vorsichtig in das Obergeschoss, die fremden Besucher sollten endlich gehen. Im Zimmer seiner Schwester, das als Gästezimmer eingerichtet war, lag ein nacktes Pärchen im Bett. Er rüttelte beide wach und erklärte, dass die Party beendet sei. Aus seinem Büro schickte er vier weitere Gäste hinaus, das ehemalige Schlafzimmer seiner Eltern, das nun seines war, war schon leer, aber sein Bett durchwühlt.
Zurück im Wohnzimmer, waren gerade noch acht Leute anwesend. Ingo und Bonny nahmen Snowy in die Mitte und schleppten ihn hinaus. Auf der Straße wurde der Maserati-Fahrer auf seinen Beifahrersitz gesetzt, Bonny machte es sich hinter dem Steuer bequem. Sie legte einen Blitzstart hin, fuhr die ersten hundert Meter aufheulend im ersten Gang, blieb aber schnurgerade auf der Straße. Ingo warf einen interessierten Blick in die ehemalige Malerwerkstatt. Weshalb er seine Partys denn nicht in der Werkstatt mache, fragte er, die wäre doch viel einfacher zu putzen. Da hätte man auch tanzen können.
Nach einer letzten Kontrolle in Küche, Bad und Toilette, schloss er alle Türen ab, bewegte sich stöhnend nach oben, blickte nochmals in Büro und Gästezimmer und überlegte, ob er sich die Mühe machen und sein Bett frisch beziehen sollte. Der Gedanke erübrigte sich, sein Bett beherbergte einen Haarschopf. Vorsichtig lupfte er die Bettdecke und erkannte eine nackte Svenja darunter. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, zog er sich aus und schob sich gegen sie unter die Decke, was er sich nüchtern nie getraut hätte. Im weiteren Verlauf des Morgens krabbelte sie auf ihn drauf und sie fühlte sich nicht schlecht an. Jung eben. Gegen fünfzehn Uhr erwachte sie und zog sich schweigend an. Vermutlich hatte auch sie einen tierischen Kater und vielleicht einen Filmriss. Ohne ihren Gastgeber noch eines Blickes zu würdigen, verließ sie das Haus. Vinn hatte nach langer Zeit mal wieder mit einer jungen Frau geschlafen. Aber irgendwie wollte sich das erhebende Gefühl, das ihn früher nach einer Eroberung beglückt hatte, nicht einstellen.