Читать книгу Ewig Lust auf Mädchen, ewig Lust auf Krieg - Hans Joachim Gorny - Страница 6

Unruhe

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Vinn fuhr mit seinem neuen Tourenrad zur Kartonagenfabrik. Inzwischen war er ein leidenschaftlicher Sportler geworden. Wer nur faul herumhängt und vorsätzlich sein Vermögen dezimiert, sollte sich zumindest ab und an bewegen. Joggen, Radfahren, Schwimmen und Gymnastik, beanspruchten nun beträchtliche Stunden seines Daseins.

Er wurde von Snowy und einigen andern erwartet, denn er hatte mit ihnen einen Interviewtermin vereinbart. Die jungen Leute, wobei auch die vierzigjährige Bonny mit von der Partie war, sollten ihm erzählten, wie sie sich die Zukunft vorstellten. Snowys Truppe war auf über dreißig Leute angewachsen, mehrheitlich Frauen. Anscheinend war es ihm nicht gelungen die Halle zu mieten, denn der Strom wurde immer noch illegal abgezapft. Zudem bekam seine Firma ein Toilettenproblem. Erstens, weil die Örtchen überstrapaziert wurden und zweitens, weil es keine Putzfrau gab. In der alten Kartonagenfabrik gehörte der Toilettengang zu den unerfreulichen Geschäften.

Snowy und einige Abkömmliche waren um den Konferenztisch versammelt, den sie in einem leerstehenden Nachbargebäude entwendet und mühsam die Treppe hochgewuchtet hatten.

„Also, meine Damen und Herren“, begann Vinn, Förmlichkeit vortäuschend. „Ihr sollt mir nun erzählen, wie ihr die Zukunft seht und was ihr von ihr erwartet. Die Themen spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Ganz egal ob Arbeit oder Freizeit, Politik oder Wetter, Krieg oder Frieden, Liebe, Landwirtschaft, Natur. Ich will wissen, was sich nach eurer Vorstellung wie entwickeln wird. Wenn sich spannende Äußerungen ergeben, lasse ich die in den Roman einfließen.“

Er sah in ein paar unbekannte Gesichter. Die bekannten gehörten dem Maserati fahrenden Chef, Gluck, Bruno, Ingo, Bonny und der süßen Laura, mit der er nicht mehr flirten konnte, weil sie nun einen eifersüchtigen Freund hatte. Trotzdem sah er in ihre Richtung, hob aufmunternd die Augenbrauen und grinste. Wenn er an seinen Vater dachte, hatte der vieles mit einem Grinsen erledigt. Mit seinem breiten Grinsen hatte er nicht nur Sympathien gesammelt. Er hatte damit auch unangenehme Situationen bereinigt, Zustimmung signalisiert, Absagen erteilt, andere Überredet.

Laura fühlte sich angesprochen. „Ich erwarte, dass der Krebs besiegt wird“, schoss es aus ihr heraus. „Zwei meiner Tanten sind an Brustkrebs gestorben und ich habe natürlich Angst davor.“

„Ich glaube, das erwarten wir alle“, pflichtete Bonny ihr bei. „Die Krebsforschung wird ja mit viel Geld vorangetrieben, da stehen die Chancen auf Heilung vielleicht gar nicht schlecht.“

„Wusstet ihr“, meldete sich Bruno der Cannabisfreund, „dass ihr in der Zukunft am Adergeflecht eurer rechten Hand identifiziert werdet? Das soll sogar als Mikrobild auf die Identy-card, damit ihr weltweit und zweifelsfrei erkannt werdet.“

Niemand an der Tafel machte dazu eine Bemerkung, keiner schien das Thema zu interessieren.

Ein unbekanntes, rothaariges Schmalgesicht meldete sich. „Man müsste mal erforschen, wie man im Schlaf Bildung ins Hirn bringt. Ich meine, das erspart dem Staat viele Lehrer und Schulen. Die Schüler setzen sich abends einen Helm auf, legen sich ins Bett, starten ein Unterrichtsprogramm und am nächsten Morgen ist es in ihrem Kopf gespeichert“, meinte er mit hoffnungsvollen großen Augen. Einige am Tisch lachten.

Snowy saß mit verschränkten Armen hingestreckt an der Stirnseite des Tisches. „Aber Maxi, unser Hirn benötigt die Nacht um zu träumen, um das Erlebte zu verarbeiten und um sich zu erholen. Da kann es nicht noch gleichzeitig lernen.“

„Das würde die Menschen vermutlich in die Psychiatrie bringen“, warf Ingo ein. „Wenn schon, muss der Schüler tagsüber lernen.“

„Die Idee ist aber nicht schlecht“, fand Bonny. „Vielleicht lernt man in der Zukunft unter Hypnose.“

„Ich möchte Hundertzwanzig Jahre alt werden“, sagte plötzlich eines der Mädchen, die Vinn noch nicht kannte. „Ich bin sehr geschichtsinteressiert. Ich möchte erforschen, wie sich der Mensch verändert, ob er vernünftiger wird und sich die Welt verbessert.“

„Wer will denn freiwillig einhundertzwanzig werden. Vermutlich ist das sogar möglich, wenn der Krebs besiegt wird“, brummelte Gluck vor sich hin. „Aber da sitzt du doch nur noch vor dich hinsiechend im Sessel. Für mich ist das eher eine Horrer-Vorstellung als etwas erstrebenswertes.“

Ingo wandte sich dem Mädchen zu. „Dass so ein junges Ding schon ans Altwerden denkt, befremdet mich ein wenig. Ich konnte mir in der Schule nicht einmal vorstellen dreißig zu werden, was ich inzwischen bin.“

„Was, du bist erst dreißig“, lachte Bonny. „Dann hat dein Gesicht alle Chancen einhundertzwanzig zu werden.“

„Haha“, machte Ingo. „Angenommen, die Mediziner machen es möglich, dass wir alle so alt werden können. Was glaubt ihr, was das für die Menschheit bedeuten wird, wenn sie zur Hälfte aus Rentnern besteht. Das wäre für den Staat und die Gesellschaft eine unglaubliche Belastung.“

Es räusperte sich jemand. „Wenn die Alten eine zu große Belastung werden, wird der Staat bestimmt die Sterbehilfe vereinfachen und einige Augen zudrücken“, meinte der Jemand.

„Genau“, rief Laura. „In Zukunft sollte jeder selbst entscheiden dürfen, wann er aus dem Leben scheiden will. In meinen Augen ist alt sein nicht besonders erhaben. Was hat man schon zu erwarten?“

Vinn mischte sich ein. „Mein Vater ist fünfundneunzig geworden, den hat die Neugier am Leben erhalten. Viele wollen einfach wissen wie es weitergeht, was ihre Kinder so treiben und wie sich die Enkelkinder entwickeln. Im Prinzip hängt der Mensch am Leben, wer es vorzeitig beendet, ist in der Regel krank.“

Ingo kicherte. „Wenn die Menschen so alt werden, ist eh die Hälfte der Alten nicht fähig freiwillig aus dem Leben zu scheiden, weil sie nämlich dement sind.“

„Ich bezweifle“, wechselte Snowy das Thema, „dass der Globus es noch lange schafft die Menschheit zu ernähren. Irgendwann kommt es wetterbedingt zu einem riesigen Ernteausfall und Abermillionen werden verhungern.“

„Ich glaube“, so Bonny, „vorher entdeckt die Wissenschaft, wie man die Menschheit mit Gras ernähren kann. Da werden dem Viehfutter irgendwelche Proteine, Enzyme oder Mittelchen untergemischt, damit es einen Nährwert bekommt und vom Mensch verdaut werden kann. Die Rindviecher bleiben dann auf der Strecke, weil wir ihr Gras fressen.“

Vinn hob seine Hände. „An dieser Stelle muss ich kurz unterbrechen. Habt ihr denn keine technischen Visionen? Wenn ich mich mit jungen Leuten unterhalte, so habe ich mir vorgestellt, werde ich mit Science Fiction konfrontiert. Ihr denkt aber nur daran gesund zu bleiben und uralt zu werden“, sagte er.

„In der Zukunft werden alle Fahrzeuge mit Strom fahren und die Flugzeuge mit Strom fliegen“, meinte der rote Maxi. „Die Züge werden reibungsarm nur so von einer Metropole zur nächsten rasen.“

„Die Fahrzeuge werden schweben, wir werden keine Reifen mehr brauchen und die Straßen werden ewig halten“, sprach Gluck mit Überzeugung.

„Und wie sollen sie ohne Bodenkontakt bremsen? Sollen sie einen Anker werfen?“ lästerte Ingo.

„Blödmann, mit sowas wie Schubumkehr“, glaubte Maxi.

„Die Autos werden uns selbständig ans Ziel bringen.“

„Wir werden uns mit den Autos unterhalten können.“

„Wir werden uns sogar mit unseren Haushalsgeräten unterhalten können.“

„Drohnen werden uns die Post bringen.“

„Roboter werden für uns einkaufen.“

„Robotermaschinen werden die Landwirtschaft betreiben und für uns ernten.“

„Ein großer Fortschritt wäre für mich, wenn ich in Zukunft meine Steuererklärung selber machen kann“, wünschte sich Bonny.

„Und Krieg“ unterbrach Vinn. „Was glaubt ihr? Wird es in der Zukunft noch Krieg geben, oder wird die Menschheit vernünftig?“

Laura: „Dass das nichts bringt, sieht man doch in Georgien. Dort haben sich tausende Soldaten in den Kaukasustälern festgefressen und kommen nicht weiter.“ Mehrere Nato-Staaten unterstützen die Türkei bei ihrem Kampf gegen die Russen und versuchten Georgien zu befreien. Unmengen Drohnen flogen durch die Täler, um den Feind ausfindig zu machen und den Bombern Ziele zu übermitteln. Die NATO und Russland zerrieben sich im unwegsamen Gebirge. Auch Deutschland hatte Militär nach Georgien entsenden müssen. Mehrere Tausend Soldaten schützten mit Raketen die Hauptstadt Tiflis vor Luftangriffen. Bis auf zwei Verkehrstote hatte die Bundeswehr noch keine Verluste zu beklagen.

„Hoffentlich schickt dieser Russov keine Atomraketen, wenn er am verlieren ist“, schauderte es Bonny.

„Dieses Risiko wird keine Atommacht eingehen. Immer noch gilt: Wer als erster schießt, stirbt als Zweiter“, belehrte Snowy. „Ich befürchte aber, dass sie sich gegenseitig die Satelliten aus dem Orbit schießen werden. Das würde auch unsere Kommunikation ins Chaos stürzen.“

„Auf jeden Fall sieht alle Welt, dass dieser Krieg zu nichts führt“, stellte Gluck fest.

Maxi hob eine Hand und sprach sehr betont: „Wenn das beendet ist, so glaube ich, wird man nur noch Polizei benötigen. Die ganze Kämpferei kostet zu viel Geld und zu viele Menschenleben. Es wird massig zerstört und unter dem Strich gibt es nie Sieger. Über kurz oder lang wird das Militär abgeschafft.“

Auch die anderen waren sich einig darüber, dass Polizei ausreichend wäre. Snowy hob die Runde auf und schickte alle an die Arbeit, obwohl sie nicht für ihre abgesessenen Stunden, vielmehr für produzierte Ideen bezahlt wurden. Komisch, dacht der Schriftsteller, diese Computer-Leute haben die seltsamsten Zukunftsideen, jedoch nichts, was neue Computer, andere Netze, verbesserte Programme und Datenübermittlung betraf.

Vinn beobachtete noch die Neuen, versuchte zu ergründen, wer eventuell mit wem befreundet war, lief unauffällig durch die Halle und kontrollierte die Feldbetten und Isomatten auf Paarbildung. Dann schwang er sich auf sein Rad, fuhr zu seinem Haus und beobachtete die Vögel in den Schrebergärten und was sich sonst noch so tat. Seine Notizen hatte er achtlos auf einen Papierhaufen gelegt.

Vor dem Abendessen ging er eine Runde Joggen, wobei ihn seine neue Route an Almas Hütte und der Gärtnerei vorbeiführte. Zur Einnahme des Abendessens setzte er sich wie immer ins Wohnzimmer und schaltete die Nachrichten ein. Der Krieg in Georgien erfuhr eine weitere Eskalation. Die Russen waren über Nacht mit einer wahren Armada über das Kaspische Meer ungehindert nach Aserbeidschan geschippert und dort gelandet. Nun fuhren sie mit Panzern ins Landesinnere. Die einheimische Armee leistete erbitterten Wiederstand, wurde aber von der russischen Luftwaffe massiv attackiert. Auf den aserbeidschanischen Stränden sammelten die Russen weitere Truppen. Die westlichen Politiker waren sich uneinig, ob die Russen Aserbeidschan erobern und von dort nach Georgien vorstoßen wollen, oder ob sie sich auf dieses ölreiche Land beschränken und die unergiebigen Kämpfe in Georgien beenden werden.

„Was bringst du nur wieder für einen Mist“, beschimpfte Vinn seinen unschuldigen Fernseher. Plötzlich hörte er auf seiner Terrasse ein Poltern, danach Motorenlärm. Er eilte nach hinten, auf seinem Grundstück war niemand, der Lärm kam aus der Pharmafabrik. Gleich darauf ließ erregtes Gebrüll die Blechfassade scheppern, Leute schrien sich an. Sollte er nachsehen was dort geboten wird? Er verspürte einen neugierigen Drang zu schlichten. Es konnte auch gefährlich sein und er eine blutige Nase ernten. Um zum Eingang der benachbarten Fabrik zu kommen, musste er die Süd-Straße bis zu ihrem Ende fahren und die Parallel-Straße wieder zurück, was zwei Kilometer waren. Bis er endlich drüben ankam, konnten sich die Kontrahenten schon wieder vertragen, oder es hatte Opfer gegeben. Über den Zaun springen und um die Hallen herumrennen ging nicht, denn das Grundstück der Pharmafabrik war dicht mit stacheligen Schlehen und Schlingpflanzen, vor allem Brombeeren, überwuchert. Er beschloss, sich mit dem Rad und ohne Licht anzuschleichen.

Mit erhöhter Geschwindigkeit strampelte er bis zum Backsteinbau der Kartonagenfabrik, dann um sie herum und auf der Industrie-Straße wieder zurück. Als die Blechfassade der Pharmafabrik auf ihn zukam, drosselte er das Tempo, hielt sein rechtes Ohr in Richtung Eingang, lies schließlich sein Rad ausrollen und lauschte angestrengt. Vor dem Eingang standen außer einem VW-Bus und einem Ford K, noch mehrere andere Fahrzeuge, darunter ein LKW mit Baumaterial auf der Pritsche. Aus dem Gebäude drang nach wie vor hitziges Gebrüll. Eigentlich hatte Vinn nun Angst, aber eine unbezwingbare Neugier trieb ihn hinein. Er ging den Stimmen nach und um die neuen Trennwände, die er schon kannte, herum. Das Erste was ihm im Innern auffiel, war ein weiterer Laster mit Baumaterial, der durch ein Seitentor hineingefahren sein musste. Dahinter standen die Kontrahenten. Vinn versuchte eine unbeteiligte und entspannte Mine aufzusetzen, trat hinter dem Laster hervor und vor über ein Dutzend junge Menschen, die ihn alle gleichzeitig verwundert, überrascht, feindselig oder fluchtbereit anstarrten. Seitlich der Gruppe lag ein Mann am Boden. Diesen Umstand nutzte Vinn um sich einzuführen.

„Muss man Erste Hilfe leisten?“ fragte er. Dann fiel ihm der Lange auf, den er schon kannte. „Habt ihr mir nicht Nachtruhe versprochen?“

„Du hast uns gerade noch gefehlt“, entgegnete der fauchend.

„Den Eindruck habe ich auch“, meinte Vinn mit einem gequälten Grinsen. „Was geht hier ab?“ Er sah sich um. Seitlich befanden sich drei Räume, die mit Türen und Fenstern versehen waren, in der Halle war ein richtiges Haus mit Flachdach entstanden.

„Was hier ab geht, geht dich überhaupt nichts an“, erklärte der Lange drohend.

Vinn, mit den Händen in den Taschen seiner Jeans, meinte mutig: „Wenn es meine persönliche Aura negativ beeinträchtigt, geht es mich sehr wohl etwas an.“ Er besah sich die Leute nun genauer, deutlich konnte er zwei Gruppen unterscheiden. Die eine, die aus sieben oder acht Leuten bestand, schien die vom Langen zu sein, die andere, um die zehn Leute zählende Gruppe, sah südländisch aus, mit dunklen Haaren, olivfarbener Haut und hatte unverkennbar einen Migrationshintergrund. Die Südländer sahen um einiges schmuddeliger aus, mancher Kerl war richtiggehend abgerissen. Sie schienen einiges durchgemacht zu haben, hatten allerdings ein paar hübsche Mädchen dabei, von denen Vinn nicht sagen konnte, wie alt sie waren.

Der am Boden liegende bewegte sich, alle widmeten ihm ihre Aufmerksamkeit, er setzte sich hin, hielt sich seinen Kopf und blieb sitzen. Der benachbarte Schriftsteller bückte sich zu ihm hinab, bot an, einen Arzt oder Krankenwagen zu rufen, der andere rieb sich sein Kinn und schüttelte vorsichtig seinen Kopf.

Der bisherige Platzhirsch rang sich zu einer Erklärung durch. „Diese Typen wollen sich hier breitmachen, in meiner Fabrik wollen die sich einnisten. Sieh dir doch nur diese vergammelte Bagage an.“ Angeekelt verzog er das Gesicht.

Der zu Boden gegangene erhob sich, schien wackelig auf den Beinen, rieb sich immer noch das Kinn. Mühsam rang er sich Worte ab. „Die Sache ist ganz einfach, Hardy. Entweder dürfen wir hier rein, oder ich lasse euch von der Polizei herausholen.“

Der Lange der Hardy hieß, wollte sich schon wieder auf seinen Kontrahenten stürzen, doch Vinn hob seine Hände und ging dazwischen.

„Ich weiß sehr genau, dass das Gebäude der Stadt und nicht deinem Vater gehört, wie du mir weißmachen wolltest. Aber ich habe meine Klappe gehalten. Ich werde sie auch weiterhin halten, wenn ihr euch vertragt.“

„Aber die stinken“, protestierte der lange Hardy. „Die waschen sich überhaupt nicht, diese verlausten Penner.“

„Ich wollte sowieso vorschlagen, dass ihr möglichst weit voneinander weg baut. Eine Gruppe in dieser Ecke, die andere da drüben oder eins höher. Und wenn ihr miteinander auskommt, werde ich keinem von euch erzählen und ihr werdet zu meiner nächsten Party eingeladen.“

„Dann schenk denen da aber vorher ein Stück Seife“, zischte Hardy.

„Jeder baut für sich, keiner provoziert den anderen“, machte Vinn klar.

Hardy und seine Leute zogen sich murrend zurück, um endlich weitermachen zu können. Vinn unterhielt sich mit den Neuen, die aus einer anderen Stadt kamen und sich hier niederlassen wollten. Auch sie waren moderne Hausbesetzer und wollten ungenutzte Fabrikgebäude zu Wohnraum machen. Für eine Monatsmiete könne man sich hier drin, meinte ihr Anführer mit dem kaputten Kinn der Mirko hieß, schon eine Bretterbude hinstellen. Sie seien alles Deutsche und miteinander Verwandt, verschwägert oder befreundet. Vinn gab ihnen den Tipp, wobei er betonte, nicht auf ihre Reinlichkeit anspielen zu wollen, zuerst eine Trinkwasser-und eine Abwasserleitung zu suchen, und dort dann mit dem Bauen anzufangen. Sie bedankten sich ordentlich, die jungen Frauen lächelten nett und Vinn verabschiedete sich mit der stillen Absicht, möglichst bald zurück zu kommen und nach den Frauen zu schauen.

Draußen schwang er sich auf sein Tourenrad und pirschte noch ein Bisschen, auf der Suche nach Nachtaktiven Tieren, durch das unbeleuchtete Industriegebiet. Prompt sah er auch schon einen Steinmarder davonflitzen. Etwas später beobachtete er eine Schleiereule auf der Suche nach Mäusen, die über eine gemulchte Grünfläche streifte. Das Industriegebiet war Hundefrei, es gab auch keine Wachhunde. Deshalb fühlten sich Rehe, Katzen, Füchse, Marder, Dachse und Waschbären so wohl.

Den Heimweg legte Vinn so, dass er an der Gärtnerei vorbeikam, er hoffte, vielleicht in beleuchtete Räume zu sehen. Mit etwas Glück könnte er eventuell anhand der Silhouetten erkennen, wer von den Damen wo wohnte. Das Gebäude des Fuhrunternehmens war hell erleuchtet, hinter den meisten Fenstern brannte Licht, aus einem drang Musik, Rockmusik, mit der Vinn noch nie etwas anfangen konnte. Langsam ließ er sein Rad ausrollen und hielt an der anderen Straßenseite unter einem Baum. Auch in der Südstraße brannten schon lange keine Lampen mehr. Seine Blicke hingen an den Fenstern, er wartete auf Silhouetten, eigentlich nur auf eine mit extralangen Haaren. Es war spannend, kein Frauenkopf ließ sich sehen, die Damen lagen wohl vor den Fernsehern oder lesend im Bett. Irgendwann geht doch bestimmt mal eine aufs Klo. Er musste durchaus damit rechnen, dass seine Traumfrau ganz wo anders wohnte.

Gerade als es langweilig wurde, bewegte sich zwischen Haus und Laden etwas hohes Beinloses. Die Fenster des Fuhrunternehmens spiegelten sich zum Teil in den Glaswänden des Ladens, die das Licht streuten. In dieser diffusen Beleuchtung wandelte etwas Geisterhaftes hin und her, eine Person in einem bodenlangen Gewand, in einem Bademantel vielleicht, oder mit einer umgehängten Decke weil sie fror. Dann warf sie ihre langen Haare zurück und Vinn wurde es heiß. Sie war es. Sie sah in den Himmel, suchte vielleicht Sternbilder und ihre Haare reichten bis zu ihrem Gesäß hinunter, das sich unter dem vielen Stoff rund abzeichnete. Das gertenschlanke Mannequin mit dem schönen Gesicht und den fließenden Bewegungen, schlenderte auf dem Parkplatz hin und her. Er hätte sich gerne aus der Nähe angesehen, ob sie tatsächlich ein so herrliches Geschöpf war, oder ob er sich nach einem Trugbild verzehrte. Vielleicht sollte er das nächste Mal mit seinem Fernglas hier stehen. Vinn grauste vor sich selber. Auf jeden Fall konnte er ja schlecht aus dem Dunkel auf sie zu treten und einen guten Abend wünschen. Wie hätte er ihr erklären sollen, wo er auf einmal herkam. Entschuldigung meine Dame, ich habe sie heimlich beobachtet und möchte sie nun aus der Nähe inspizieren. Zum einen, musste er damit rechnen, als Stalker oder Spanner verdächtigt und beschimpft zu werden, zum anderen, konnte sie auch in Panik geraten, schreiend ins Haus rennen und die Polizei rufen.

So was Blödes aber auch, haderte Vinn mit seiner Situation. Ich muss die Frau einmal offiziell und im Hellen treffen. Ihr im Dunklen aufzulauern war erbärmlich und brachte ihn nicht weiter. Kurz darauf verschwand die Unbekannte im Haus, erschien aber leider nirgends hinter einem Fenster. Er setzte sich auf sein Rad und fuhr heim. Zuhause suchte er einen Kanal mit Sexfilmen. Doch keine der Schauspielerinnen machte ihn an, wie sie sich präsentierten fand er abstoßend. Sie wirkten schwammig, ordinär, waren meistens übergewichtig, hatten nichts Liebliches und Anmutiges, agierten eher geschäftsmäßig.


Am nächsten Morgen stand der durchtrainierte Schriftsteller nackt vor dem großen Spiegel seines Schlafzimmerschrankes, strich genüsslich über seine Hoden, massierte sein Geschlechtsteil und begutachtete seinen Körper. Er fand, dass er mit dreiundfünfzig Jahren noch verdammt gut aussah. Wusste aber gleichzeitig, dass er im Sonnenlicht sein wahres Alter nicht verheimlichen konnte. Er war schlecht drauf, so schlecht, dass er beim Kaffeemachen seiner Maschine ein Plastikteil abriss. War sein Vater jemals schlecht drauf gewesen?

Wenn Vinn oder Villmut mit schlechten Zensuren nachhause gekommen waren, jedenfalls nicht. Da hatte immer nur die Mutter geschimpft und mit Fernsehverbot gedroht, der Vater aber auf die nächste Chance verwiesen. Wenn jemand mit dem Bezahlen seiner Rechnung zu lange in Verzug war, hatte Amon mit fröhlichem Gesicht gemeint, dass er dort mal vorbeigehen müsse. Er hatte sich auch nie aufgeregt, wenn Politik nicht in seinem Sinne gemacht wurde. Da wären nun andere Interessen am Zug, hatte er dazu gesagt. Im Prinzip hatte sein alter Herr alles leicht genommen, sich geweigert sich Sorgen zu machen und immer versucht, einer Auseinandersetzung den Ernst zu nehmen. Er hatte aber auch ernst sein und unbeherrschte Leute auf den Tod nicht leiden können. Wenn es, egal mit wem, zu Meinungsverschiedenheiten gekommen war, hatte sich in seinem Gesicht keine Pore bewegt. Er war ein zäher Mann gewesen, der sich und alles im Griff hatte. Aufgrund seiner Größe und seines kernigen Aussehens, hatte er es mit leiser Stimme geschafft, jeden Gegner einzuschüchtern. Wenn der Kontrahent nachgegeben hatte, hatte er ihm freundschaftlich auf die Schulter geklopft und etwas Aufmunterndes gesagt.


Mit dem kaputten Teil der Kaffeemaschine und noch einem von seinem Staubsauger, fuhr Vinn in die Stadt. Primär hatte er einen Vorsorgetermin bei seinem Hausarzt. Vorher ging er beim „3D-Drucker-Shop“ vorbei, wo er die kaputten Plastikteile zum Nachmachen abgab. Wie man ohne große Umstände zu Ersatzteilen kam, war einfach eine tolle und saubere Sache. Alles was man an Teilen brauchte, konnte man nach einem Muster in diesem Shop fertigen lassen. Einmal hatte es eine Phase gegeben, in der Kleinkriminelle Schusswaffen kopiert und mit ihnen Unfug getrieben hatten. Danach hatte es leider auch die Phase gegeben, in der schussfähige Pistolen für Überfälle hergestellt wurden. Doch auch das hatte sich totgelaufen.

Nach dem Arztbesuch würde er die neuen Teile abholen.

Vinn fand keinen Parkplatz. Die Innenstadt wurde weitgehend von einer Demonstration lahmgelegt, viele Straßen waren gesperrt, die meisten Parkhäuser nicht erreichbar. Umständlich musste er mit seinem Kleinlaster sich rückwärts aus einer Straße heraustasten, auf engsten Raum wenden, was ihm den Schweiß auf die Stirn und in die Achseln trieb und mit tausend anderen aus der City kriechen. Seine Laune war auf dem Tiefpunkt. Letztendlich parkte er außerhalb auf einem Supermarktparkplatz. Zurück in der Innenstadt drängte er sich durch Menschenmassen die Plakate und Banner trugen, auf denen gegen den Krieg gewettert wurde und strebte seinem Hausarzt zu.

Erst am Abend zuvor war bekannt geworden, dass am Kaukasus nun auch die Iraner mitmischten. Vermutlich, weil die Ayatollahs den Russen die Ölquellen nicht gönnten, ließen sie ihre Soldaten nordwärts in Aserbeidschan einmarschieren. Damit hatte der Krieg eine neue Dimension erreicht, denn der Iran war eindeutig auf Raubzug. Für Dimitrie Russov kam es überraschend, dass sich der südliche Nachbar das traute. Die Perser waren bis dahin weder mit den Russen noch mit der Nato befreundet oder verfeindet. Er hatte eher gedacht, dass der Iran sich darauf beschränkt, mit den Kriegsparteien Geschäfte zu machen. Stattdessen hatte Russland nun eine zweite Front und musste seine Anstrengungen nochmals erhöhen.

Der Arztbesuch brachte in Sache Altern keine neuen Erkenntnisse. Danach stellte sich Vinn am Rathausplatz auf eine Treppe und beobachtete die Demonstranten. „Das ist nicht unser Krieg“, oder „Holt unsere Brüder und Schwestern zurück“, stand auf deren Bannern. Auf Schildern stand, „Lasst die Türken hängen“, was doppeldeutig war, und „Weg mit Russov“, „Nie wieder Sowjetunion“, und auf einer schwarzen Tafel mit weißer Schrift wenig originell „Heil Russler“. Als Vinn sah welche Typen diese trugen, musste er sich die Augen reiben. Da lachte doch tatsächlich der lange Hardy gemeinsam mit Mirko, den er erst gestern Abend KO-geschlagen hatte. Die haben sich aber schnell vertragen. Aber wie es schien, hatten sich auch zwei Chaoten gefunden, die das gleiche Temperament besaßen. Die Demonstration war an Lautstärke nicht zu übertreffen. Trillerpfeifen, Trompeten, Trommeln, Blechbüchsen, Eimer und Stöcke, ließen die Luft sirren und beben. Hardy und Mirko droschen mit Freude und Eifer und Stöcken auf ihrer Holztafel herum. Für sie war diese Demonstration die Gelegenheit, um sich einmal abzureagieren, einmal richtig abzuleben. Unaufdringlich aber Zielstrebig schoben sich in Form von Polizisten, rote Tücher heran. Vermutlich hatten sie die Aufgabe die Schaufenster zu schützen. Schon kurz darauf machten die ersten Schreihälse Drohgebärden gegen die Uniformierten. Vinn sah, wie Hardy in seine weite Hose griff und eine Schnapsflasche hervorzog, aus der er und Mirko kräftig tranken. Dann zogen sie sich schwarze Kapuzen über und suchten den Kontakt zu den Ordnungshütern. Vinn stieg die Treppe noch ein wenig höher und behielt die Beiden so gut es ging im Auge. Der Lange, der so groß war wie Amon, den aber eine Fragezeichen-Statur kennzeichnete, weshalb ihn jeder schon von weitem erkannte, schob sich mit Mirko im Schlepp an den Rand der Demonstration, in die Nähe einiger Beamten. An den Gesichtern der Polizisten und Polizistinnen konnte der Beobachter erkennen, dass sie von den Chaoten beleidigt wurden. Die zwei Vermummten zuckten, andere Demonstranten als Deckung missbrauchend, immer wieder nach vorne und versuchten die Beamten zu treten. Als die zwei Übeltäter einer kleinen Polizistin zu nahe kamen, riss diese ihre rechte Hand nach oben und sprühte Pfefferspray in zwei Augenpaare. In Sekundenschnelle wurden die Beiden überwältigt und abgeführt. Vinn konnte sich ein schadenfrohes Lachen nicht verkneifen. Auf einmal war er super gut gelaunt, holte sich seine Ersatzteile und fuhr nach Hause.


Ewig Lust auf Mädchen, ewig Lust auf Krieg

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